Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen (4. Aufl.) -  Maria Teresa Diez Grieser,  Roland Müller

Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen (4. Aufl.) (eBook)

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2024 | 1. Auflage
312 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12275-6 (ISBN)
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Wie Kinder und Jugendliche Mentalisieren lernen Dieses bewährte Standardwerk erläutert die praktisch-therapeutischen Möglichkeiten der Mentalisierungsförderung bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Es gewährt einen Überblick über verschiedene Felder der mentalisierungsbasierten Arbeit mit jungen Menschen und ihren Bezugssystemen. Dabei berücksichtigt es neueste Forschungsergebnisse, vermittelt spezifische Haltungen, zeigt Interventionsmöglichkeiten in verschiedenen therapeutischen Settings und stellt niedrigschwellige mentalisierungsbasierte Konzepte und Angebote vor. Diese Neuauflage wurde gründlich überarbeitet und um neue Kapitel zum Thema Körper/Embodiment sowie Zusatzmaterialien zu Fokusformulierung, Psychoedukation und zu mentalisierungsfördernden Spielen und Übungen ergänzt.

Maria Teresa Diez Grieser, Dr. phil., Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Psychoanalytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin EFPP. Nach langjähriger Tätigkeit im klinischen Bereich und in der Präventionsforschung ist sie als psychoanalytische Psychotherapeutin und Supervisorin in eigener Praxis in Zürich tätig. Seit 2016 leitet sie den Forschungsbereich und die Angebotsentwicklung in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten St. Gallen.

Maria Teresa Diez Grieser, Dr. phil., Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Psychoanalytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin EFPP. Nach langjähriger Tätigkeit im klinischen Bereich und in der Präventionsforschung ist sie als psychoanalytische Psychotherapeutin und Supervisorin in eigener Praxis in Zürich tätig. Seit 2016 leitet sie den Forschungsbereich und die Angebotsentwicklung in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten St. Gallen. Roland Müller, Dr. phil., Fachpsychologe für Psychotherapie FSP. Er ist seit langem als Psychotherapie- Supervisor in der Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig und war Gründungs- und Leitungsmitglied des Psychoanalytischen Seminars Luzern und des Instituts für Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapie Luzern. Er arbeitet dort in eigener Praxis als psychoanalytischer Psychotherapeut. Ulrich Schultz-Venrath, Prof. Dr. med., ist Arzt für Psychosomatik und Psychotherapie (DGPM) und Nervenheilkunde (DGN), Psychoanalytiker (DPV, DGPT, IPA) und Gruppenlehranalytiker (D3G, EFPP, GASI) in eigener Praxis in Köln. Er ist Professor für Psychosomatik an der Uni­versität Witten/Herdecke. Bis 2019 war er Chef­arzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des EVK Bergisch Gladbach. Des Weiteren ist er Sprecher der Herausgeber der Zeitschrift »Gruppenpsychothera­pie und Gruppendynamik – Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gruppenanalyse« und Sprecher des Beirats für Wissenschaft und Forschung der Deutschen Gesellschaft für Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse (D3G). Herausgeber der Reihe »Mentalisieren in Klinik und Praxis«.

KAPITEL 2

Mentalisieren als zentrale Entwicklungsaufgabe in der Kindheit


Entwicklung ist ein ständiger, vor allem in den ersten Lebensjahren von Reifung, Wachstum und Differenzierung bestimmter Veränderungsprozess. Kindliche Entwicklung ist »ein Geflecht von Entwicklungslinien« (Tyson & Tyson 1997). Die kognitive, die affektive, die psychosexuelle und die soziale Entwicklung beeinflussen sich gegenseitig.

Jenseits dieser verschiedenen Entwicklungsstränge ist die Beziehung zu anderen Menschen das zentrale übergeordnete Thema der kindlichen Entwicklung. Dabei zeigt sich zunehmend, »dass die gesunde Entwicklung eines Kindes nicht nur einer stabilen Primärbeziehung, sondern mindestens ebenso bedeutsam einer Gruppe bedarf« (Schultz-Venrath & Felsberger 2016, S. 16). Die Forschungsergebnisse der letzten Jahre betonen, dass für die psychische Gesundheit die Erfahrung, Teil eines umfassenderen sozialen Kontextes bzw. diesem zugehörig zu sein, zentral ist (Fonagy et al. 2023b). Fonagy und Mitarbeiter (Fonagy et al. 2004) setzen Selbstentwicklung mit dem Sammeln von Erfahrungen in Beziehungen gleich. Erfahrungen müssen als Elemente des Selbst und der Identität innerpsychisch repräsentiert werden, um durch Mentalisieren Selbst- und Beziehungsregulation zu ermöglichen. Die Qualität der Beziehungen zwischen den Bezugspersonen und dem heranwachsenden Kind hat dabei entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Selbst sowie auf die Selbst- und Beziehungsregulation. Somit sind die Bindungserfahrungen mit adäquat mentalisierenden Bindungspersonen (siehe Kap. 3) die Basis für die Entwicklung des Mentalisierens und für gelingende Selbst- und Beziehungsregulation. Kinder, deren Bezugspersonen keine oder nicht genügend Sicherheit für die persönliche und soziale Orientierung vermitteln können oder sogar selbst eine Quelle von starkem Stress darstellen, haben eine »doppelte Belastung« zu bewältigen (Allen & Fonagy 2015). Die Bindungsperson wird zu einem Rätsel, welches durch Nicht-Mentalisieren »gelöst« bzw. ausgehalten werden muss.

Wieso ist es, wie oben gesagt, wichtig, dass das Kind sich in einem sozialen System mentalisiert fühlt und ein Gefühl der sinnvollen Verbindung mit einer umfassenderen sozialen Gemeinschaft erfahren kann (Fonagy & Nolte 2023)? Die daraus entstehende Zugehörigkeit kann Gefühlen der Einsamkeit und Entfremdung und der Entstehung einer möglichen Psychopathologie entgegenwirken (Fonagy & Nolte 2023). Zudem geht man davon aus, dass sich in der frühen Kindheit in passenden Beziehungen epistemisches Vertrauen entwickeln kann. Das epistemische Vertrauen ist in der neueren Entwicklung des Mentalisierungskonzepts zu einem zentralen Element geworden (Fonagy & Nolte 2023). Fonagy und Luyten (2016) verstehen epistemisches Vertrauen in seiner Anwendung auf pädagogische und psychotherapeutische Kontexte als die grundsätzliche Bereitschaft eines Menschen, die Kommunikation eines anderen Menschen als vertrauenswürdig, verallgemeinerbar und als für die eigene Person relevant zu betrachten.

Fonagy & Allison (2014) sehen das epistemische Vertrauen als den Mechanismus, durch den das Kind dazu befähigt wird, über Lernen soziale Kompetenzen zu erwerben. Dabei bezieht sich das epistemische Vertrauen »auf das Vertrauen in die Authentizität und Relevanz von Informationen, die von anderen mitgeteilt werden« (Nolte & Fonagy 2023, S. 23). Dies wird durch eine sichere emotionale Bindung möglich, welche den Boden für die Entspannung der epistemischen Vigilanz bereitet und damit eine sensitive, angemessene Offenheit für Hinweissignale (ostensive cues) der Bezugsperson schafft.

Sämtliche für das Mentalisieren notwendigen Entwicklungsschritte spielen sich nicht entlang einer kognitiven Reifungslogik ab, sondern im Kontext der Eltern-Kind-Beziehung sowie weiterer sozialer Beziehungen über die Lebensspanne (insbesondere zu Peers). Mentalisieren ist ein sozialer Prozess, bei dem sich verschiedene Psychen austauschen. Dabei ist davon auszugehen, dass die sich entwickelnden mentalen Repräsentationen desto reicher sein werden, je reicher die Kontakte sind (Fonagy & Luyten 2011). Das Mentalisierungskonzept basiert auf der Fähigkeit, Gefühle, Bedürfnisse und Gedanken in anderen Personen und bei sich selbst wahrzunehmen und sich selbst mit fremden Augen betrachten zu können. Zentrale Voraussetzung dafür ist es, Affekte einschätzen, modulieren und das gegenwärtige Erleben verbalisieren und symbolisieren zu können (Jurist 2019).

Das Mentalisierungskonzept beschreibt somit auf einer Mikroebene die Entwicklungspsychologie des Selbst so, wie sie in einem ersten Entwurf von Winnicott (1988) konzeptualisiert wurde. Winnicott bezeichnet das Selbst als eine Ganzheit im subjektiven Erleben eines Menschen, welches mit einer persönlichen Identität und einer Trennung von innen und außen einhergeht (Taubner 2015, S. 27). Für Winnicott geht es darum, dass eine haltende Umwelt, welche das schwache »Ich« des Säuglings unterstützt, dies auf eine Weise macht, dass innere Zustände und Befindlichkeiten zunehmend integriert werden. Für Winnicott ist ein integriertes Selbst die Grundlage des Gefühls seelischer Gesundheit, während der Verlust der Integration mit dem Gefühl des Verrücktwerdens verbunden ist.

Mentalisieren wird somit als ein Prozess definiert, anhand dessen wir implizit und explizit aufgrund intentionaler psychischer Zustände (wie z. B. Wünsche, Bedürfnisse, Gefühle, Überzeugungen und Gründe) unsere eigenen Handlungen und diejenigen anderer Menschen als bedeutsam interpretieren (Bateman & Fonagy 2010). Diese Fähigkeit ist intrinsisch mit der Selbst- und der Beziehungsregulation verbunden und deshalb eine zentrale Voraussetzung, um Entwicklungsaufgaben zu meistern und um uns in der Welt der Beziehungen zurechtzufinden.

2.1 Mentalisieren als mehrdimensionales Konzept


Das Konzept des Mentalisierens kann als ein »umbrella concept« (Luyten et al. 2020) gesehen werden, welches mehrere Konstrukte umfasst. Es stellt eine Weiterentwicklung der Theory of Mind (ToM) dar, die sich bereits Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts mit der Frage beschäftigte, wie das Verhalten eines anderen Menschen auf der Basis seiner Motive, seines Wissens und seiner Wünsche verstanden werden kann (Premack & Woodruff 1978). Das Konzept des Mentalisierens stellt eine Dynamisierung der ToM dar, mit einer Erweiterung von einem individuell-dyadischen zu einem gruppenbezogen-sozialen Prozess (Schultz-Venrath & Felsberger 2016).

Des Weiteren untersucht das Konzept des Mentalisierens die Entwicklung der frühen Bindungsbeziehungen und betont, dass Bindung den notwendigen Rahmen für die Entwicklung eines Repräsentationssystems darstellt, welches das Überleben sichert. Dabei ist das soziale Lernen im hohen Maße von der Fähigkeit, gemeinsam zu denken, abhängig (Tomasello 2020). Gemeinsam zu denken entwickelt sich über die gemeinsame Aufmerksamkeit und das Mentalisieren innerhalb sozialer Systeme (Fonagy et al. 2023c). Die Erfahrungen in den Bindungsbeziehungen (in Eltern-Kind-Dyaden, in Großfamilien oder in umfassenderen kulturellen Gruppen) haben stets einen Einfluss auf die Bereitschaft des Kindes zu lernen. Wenn die Bezugsperson Wissen vermittelt, welches vom Kind als vertrauenswürdig, generalisierbar und für das eigene Selbst relevant eingeschätzt wird, d. h. wenn das Kind über epistemisches Vertrauen (epistemic trust) verfügt, gelingt die Aufnahme und Integration von Informationen im interpersonellen Kontext besonders gut (Fonagy & Allison 2014). Epistemisches Vertrauen ermöglicht die verlässliche Transmission von Wissen von einer Generation an die andere.

Diese Überlegungen verweisen auf die Wichtigkeit einer sicheren, emotionalen Bindung als Basis für gelingende Lernprozesse. Wo diese Bedingung fehlt, bleibt die Fähigkeit, aus Erfahrungen und von Bezugspersonen zu lernen, eingeschränkt. Das so entstandene epistemische Misstrauen (epistemic mistrust) schränkt die Möglichkeiten des sozialen Lernens ein, das epistemische Vertrauen kann aber durch entsprechende positive Erfahrungen mit erwachsenen Bezugspersonen reaktiviert werden, sodass eine epistemische Übereinstimmung entstehen kann (Nolte & Fonagy 2023). Kinder, die aufgrund hauptsächlich negativer Erfahrungen mit ihren primären Bezugspersonen wie Vernachlässigung und Misshandlung kaum Sicherheit haben entwickeln können, zeichnen sich durch erhöhte epistemische Wachsamkeit (epistemic hypervigilance) aus. Diese Kinder bedürfen in besonderem Ausmaß vertrauter, verlässlicher und verfügbarer Bezugspersonen, um auf dieser Basis epistemisches Vertrauen nach und nach aufbauen zu können. Konzepte wie dasjenige des epistemischen Vertrauens haben eine wichtige Brückenfunktion und können verschiedene Disziplinen und Perspektiven verbinden und transdisziplinäre Theorien und Vorgehensweisen entwickeln helfen. Die weitere Entwicklung eines Kindes verweist außerdem auf die Notwendigkeit des »Wir-Modus« als eine besondere subjektive Erfahrung sozialer Kognition, damit epistemisches Vertrauen aufgebaut werden kann. Darüber hinaus erzeugt der »Wir-Modus« die Erfahrung des gemeinsamen Fühlens, Denkens und Handelns...

Erscheint lt. Verlag 20.4.2024
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Ulrich Schultz-Venrath
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte emotionale Vernachlässigung • Entwicklungspsychologie • Fonagy • Jugendhilfe • Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie • Kinder- und Jugendpsychiatrie • Klinische Psychologie • Klinische Psychotherapie • MBT • Mentalisation • Mentalisierung • Mentalisierungsbasierte Therapie • mentalisierungsgestützte Therapie • Mentalisierungsstörung • Mentalisierungstheorie • Nervenheilkunde • Pädagogik • Prävention • Psychoanalyse • Psychodynamische Therapie • Psychologie • Psychologische Beratung • Psychosomatik • Psychosomatische Medizin • Psychosomatische Therapie • Psychotherapeutische Medizin • Ressourcen • Schultz-Venrath • Seelsorge • Sexuelle Gewalt • Sexueller Missbrauch • sichere Bindungserfahrung • Soziale Kompetenz • Supervision • Trauma • Traumastörung • Traumatisierung
ISBN-10 3-608-12275-3 / 3608122753
ISBN-13 978-3-608-12275-6 / 9783608122756
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