Achtsamkeit und Selbstmitgefühl bei chronischen Schmerzen (eBook)
160 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-12262-6 (ISBN)
Dr. med. Christiane Wolf, ursprünglich Gynäkologin an der Charité in Berlin, ist vor 20 Jahren nach Kalifornien ausgewandert und bildet dort Achtsamkeits- und MBSR-Lehrende an der Universität San Diego sowie an der US Veterans Administration und InsightLA aus. Aufgrund ihres ursprünglichen Hintergrunds als Medizinerin arbeitet sie insbesondere mit chronisch schmerzgeplagten Patient:innen. Lehrerlaubnis in der Tradition der Einsichts- oder Vipassameditation durch das Spirit Rock Meditationszentrum und die Insight Meditation Society. Wolf unterrichtet Schweigeretreats und Kurse in den USA und Europa. Ko-Autorin des Ausbildungshandbuchs 'Die Kunst, Achtsamkeit zu unterrichten'.
Dr. med. Christiane Wolf, ursprünglich Gynäkologin an der Charité in Berlin, ist vor 20 Jahren nach Kalifornien ausgewandert und bildet dort Achtsamkeits- und MBSR-Lehrende an der Universität San Diego sowie an der US Veterans Administration und InsightLA aus. Aufgrund ihres ursprünglichen Hintergrunds als Medizinerin arbeitet sie insbesondere mit chronisch schmerzgeplagten Patient:innen. Lehrerlaubnis in der Tradition der Einsichts- oder Vipassameditation durch das Spirit Rock Meditationszentrum und die Insight Meditation Society. Wolf unterrichtet Schweigeretreats und Kurse in den USA und Europa. Ko-Autorin des Ausbildungshandbuchs "Die Kunst, Achtsamkeit zu unterrichten".
Einführung: Wie Sie Ihr Denken verändern können
Wir stecken mitten in einer noch nie dagewesenen Schmerzepidemie und einer damit zusammenhängenden Epidemie an Opiaten. Nie zuvor waren so viele Menschen von chronischen Schmerzen betroffen, und nie war die Nachfrage nach schmerzstillenden Mitteln größer. Schmerzlinderung erfolgt heute im Wesentlichen auf pharmakologischem Weg, und auch wenn die Schmerzmedikation zweifellos ein Segen ist, geht sie eben doch mit vielen unerwünschten Nebenwirkungen einher, so auch mit potenzieller Abhängigkeit.
Damit gewinnen alternative Behandlungsmethoden wie Achtsamkeit und Selbstmitgefühl im Kampf gegen die Schmerzepidemie zunehmend an Bedeutung; im Kontext chronischer Schmerzen sind sie aber noch nicht verbreitet.
In den letzten Jahrzehnten sind Achtsamkeit und Mitgefühl langsam, aber beständig zum Gemeingut geworden und mittlerweile an so unterschiedlichen Schauplätzen wie in Schulen, Unternehmen und staatlichen Behörden eingeführt und präsent. Sie kommen in jeweils adaptierter Form in Bereichen wie Medizin und Pflege, im Sport, bei der Polizei, bei der Feuerwehr und beim Militär (hier auch zugunsten von Veteranen mit posttraumatischen Belastungsstörungen) zur Anwendung. Am häufigsten sind Achtsamkeitspraktiken im Gesundheitswesen vertreten und hier vor allem – aber nicht ausschließlich – in der psychologischen Betreuung.
Achtsamkeitsbasierte Interventionen werden als evidenzbasierte Behandlungsformen zunehmend akzeptiert und von einer wachsenden Zahl von Krankenversicherungen und Gesundheitsexperten befürwortet. Die Zahl der wissenschaftlichen Studien zum Thema Achtsamkeit wächst von Jahr zu Jahr. 2000 erschienen nur wenige einschlägige Artikel in wissenschaftlichen Publikationen, während es 2018 bereits nahezu 850 Beiträge waren.
Achtsamkeitsübungen erfreuen sich zunehmender Beliebtheit, weil sie wirksam und leicht erlernbar sind und – wenn überhaupt – nur wenige Nebenwirkungen haben. Der häufigste sogenannte Nebeneffekt ist die Erstverschlimmerung, eine vorübergehende Verstärkung der Symptome zu Beginn der Behandlung. Warum tritt dieser ein? Weil wir erst dann, wenn wir uns dem Erleben zuwenden, anstatt uns von ihm abzuwenden, beginnen zu spüren und zu verstehen, was schon die ganze Zeit in uns gewirkt hat. Diese Erfahrung lehrt uns die Gleichung:
Leiden = Schmerz x Widerstand
Im allgemeinen Sprachgebrauch werden Leiden und Schmerzen oft gleichgesetzt. Mit dieser etwas provokanten Formel differenzieren wir sie hingegen. Sie bringt im Grunde etwas auf den Punkt, was wir alle bereits wissen: Wenn wir uns gegen eine schmerzliche Erfahrung sträuben oder uns Sorgen machen, verschlimmert sich unser Leiden. Wenn wir den Schmerz aber zulassen, uns innerlich nicht dagegen wehren, uns nicht den Kopf darüber zerbrechen, dann verringert sich das Leid. Mit anderen Worten: Wenn wir uns einer Erfahrung wie dem Schmerz widersetzen oder mit Angst und Sorge darauf reagieren, nehmen unsere Qual und unser Leiden noch zu. Häufig können wir an unseren Schmerzen nichts ändern – wir können aber das Maß unseres Widerstandes gegen sie verringern.
Wenn Ihnen diese Erkenntnis allzu überwältigend erscheint, dann halten Sie zunächst einmal inne. Schalten Sie einen Gang zurück. Machen Sie kleine Schritte. Es ist völlig in Ordnung, langsam zu lernen.
Über den Schmerz
Seit meinem Medizinstudium hat sich die Art und Weise, wie wir über Schmerzverarbeitung, insbesondere bei chronischem Geschehen, denken, tiefgreifend verändert. Das hat auch wesentliche Konsequenzen für den Umgang mit chronischen Schmerzen. Hier die zehn wichtigsten Punkte:
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Alle Schmerzen sind echte Schmerzen. Es gibt keine eingebildeten Schmerzen.
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Jeder Schmerz entsteht im Gehirn. Ein Beispiel ist der Phantomschmerz, bei dem es den schmerzenden Körperteil zwar nicht mehr gibt, die betroffene Person aber dennoch im entsprechenden Bereich Schmerzen empfindet. Das Gehirn kann auch körperliche Schmerzen aus Erinnerung schaffen.
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Das, was wir als Schmerzrezeptoren bezeichnen, Nocizeptoren, sind korrekt übersetzt eigentlich Gefahrenrezeptoren (griechisch: noci = Gefahr). Der Körper schickt ein Gefahrensignal an das Gehirn: »Achtung Gehirn, hier könnte etwas gefährlich sein!«
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Das Gehirn entscheidet dann, ob diese Gefahr relevant ist und ob es Schmerz produziert, und wenn ja, wieviel.
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Akuter Schmerz ist protektiv, das heißt, er beschützt uns meist angemessen: Wir ziehen etwa die Hand schnell von der heißen Herdplatte.
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Chronischer Schmerz ist überprotektiv. Das Gehirn »lernt« Schmerz, das heißt, es wird bei chronischen Schmerzen mit der Zeit immer »besser« darin, potenzielle Gefahr (= Schmerz) zu entdecken.
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Bei akutem Schmerz gibt es eine direkte Korrelation zwischen dem Ausmaß der Verletzung und dem Ausmaß des Schmerzes. Wenn ich mich an einer Sicherheitsnadel steche, tut das ein bisschen weh, schneide ich mir beim Gemüseschnippeln in den Finger, schmerzt das entsprechend mehr.
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Bei chronischem Schmerz besteht diese direkte Verbindung zwischen dem Ausmaß der Verletzung und dem Ausmaß des Schmerzes nicht mehr. Umfangreiche Studien zeigen zum Beispiel, dass man anhand des Ausmaßes der Degeneration der Wirbelsäule im MRT keine Aussagen darüber treffen kann, ob bei der betreffenden Person überhaupt Schmerzen vorhanden sind oder wie stark.
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Chronischer Schmerz kann durch diverse Faktoren beeinflusst und verschlimmert werden: Stress, Schlaf, Beziehungen, Nahrungsmittel, Alkohol, Wasseraufnahme, Erinnerungen, Glaubenssätze, Umfeld, Emotionen, Wahrnehmung, ärztlicher Rat, Sport usw.
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Hirnscans zeigen, dass das Gehirn bei chronischen Schmerzen versucht, die tatsächliche Körperwahrnehmung zu unterdrücken. Das führt längerfristig zu zwei Problemen: 1. Die Schmerzerfahrung stimmt oft nicht mehr mit der tatsächlichen Erfahrung im gegenwärtigen Augenblick überein; und 2. werden auch angenehme Empfindungen wie Freude allgemein unterdrückt. Ein wesentlicher Aspekt im Umgang mit chronischen Schmerzen ist, diese Wahrnehmungsvermeidung rückgängig zu machen, indem wir lernen, Körperempfindungen so zu spüren, dass sie nicht als überwältigend und gefährlich wahrgenommen werden.
Was ist Achtsamkeit?
Achtsamkeit ist ein freundliches, offenes und nicht wertendes Gewahrsein dessen, was im Augenblick geschieht. Durch sie können gegenwärtige Körperempfindungen, Gedanken, Gefühle und alle anderen Wahrnehmungseindrücke Schritt für Schritt erfahren und angenommen werden – egal, ob sie unangenehm, angenehm oder neutral sind. So können wir unser Leben erfahren, wie es sich tatsächlich von Augenblick zu Augenblick entfaltet, in seiner ganzen Tiefe und Fülle, und nicht nur durch die Linse unserer (oft negativen) Annahmen, Vermutungen und (oft veralteten) Verhaltensmuster.
Ich habe Achtsamkeit und Meditation kurz nach dem Abitur für mich entdeckt, auf der Suche nach einem spirituellen Weg, nach einer tiefergehenden Bedeutung des Lebens. Viele Menschen haben mir geholfen, meinen Weg zu finden, darunter auch einige Buddhisten, die Vipassana- oder Einsichtsmeditation praktizierten. Ich fühlte mich angesprochen von der entspannten, liebevollen und fröhlichen Art, mit der sie das Leben betrachteten, und begann, diese alten Weisheitstraditionen zu studieren und zu praktizieren. Das kam mir während meines Medizinstudiums und der anschließenden Facharztausbildung als Gynäkologin an der Charité in Berlin in den unendlichen Stunden des Lernens und Praktizierens zugute. Es half mir, gesund und »auf dem Boden« zu bleiben. Ich spezialisierte mich auf die gynäkologische Onkologie, ein Arbeitsfeld, in dem man es täglich mit emotionalem und physischem Schmerz zu tun hat. Meine Meditationspraxis half mir, eine bessere Ärztin zu werden, weil sie es mir ermöglichte, im Kontakt mit den Patientinnen und deren Familien klarer und präsenter zu sein; eine bessere Zuhörerin in Bezug auf ihr gesamtes Erleben zu sein, wohin auch immer ihre Krebserkrankung führte.
Während meiner Tätigkeit als Ärztin habe ich nie Meditation unterrichtet, weil die säkulare Achtsamkeitsbewegung damals noch nicht hinlänglich bekannt und akzeptiert war. Aber es war schon damals mein Wunsch, dass alle meine Patientinnen – und die Menschen, die ihnen nahestanden und damit von der Krebserkrankung ja ebenfalls betroffen waren – Zugang zu diesen wundervollen Praktiken haben sollten, um ihr Leben in seiner Gesamtheit in liebevollem Gewahrsein erfahren zu können.
Mit unserer damals fünf Monate alten Tochter zogen mein Mann und ich 2003 nach Los Angeles, »nur für ein Jahr«. Heute, über 20 Jahre später, leben wir noch immer dort, und ich bin zu meiner größten Überraschung nie wieder zur Gynäkologie zurückgekehrt. Diesen Beruf, den ich sehr liebte, loszulassen, war nicht leicht und zog sich über viele Jahre hin, bis ich einen neuen beruflichen Schwerpunkt im Unterrichten von Achtsamkeit gefunden hatte. Ich erhielt die Lehrerlaubnis in der Einsichts- oder Vipassanameditation und entdeckte das Potenzial der säkularen Achtsamkeit. Ich wurde Kursleiterin und Ausbilderin für Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR), ein 1979 von Dr. Jon Kabat-Zinn entwickeltes Meditationsprogramm, das seither weltweit das Leben von Menschen zum Besseren verändert. Seit 2005 unterrichte ich Menschen, die an chronischen Schmerzen und Krankheiten leiden, und lerne und wachse sukzessive zusammen mit meinen Schülern.
Da ich überwiegend in Englisch unterrichte, was nicht meine Muttersprache ist, bin ich mir...
Erscheint lt. Verlag | 16.11.2024 |
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Übersetzer | Juliane Nickel |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Achtsamkeit • Chronische Schmerzen • Körperakzeptanz • Meditationen bei Schmerzen • Meditationsanleitungen • Nebenwirkungen Schmerzmittel • Nervensystem regulieren • Nervensystem Schmerzpatienten • Psychosomatik • Schmerzpatienten Psychotherapie • Selbstfürsorge • Selbstfürsorge bei Schmerzen • Selbstmitgefühl bei Schmerzen • Therapie Schmerzpatienten • Umgang mit Schmerzen |
ISBN-10 | 3-608-12262-1 / 3608122621 |
ISBN-13 | 978-3-608-12262-6 / 9783608122626 |
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