»Wenig zu bestellen« in Wolfsburg? (eBook)
253 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45725-3 (ISBN)
Peter Leßmann-Faust, Dr. phil., promovierte an der Ruhr-Universität Bochum und war als Bildungsreferent in der politischen Erwachsenenbildung tätig.
Peter Leßmann-Faust, Dr. phil., promovierte an der Ruhr-Universität Bochum und war als Bildungsreferent in der politischen Erwachsenenbildung tätig.
1.Wenig zu essen – kaum etwas zu verteilen. Der Betriebsrat in der Nachkriegszeit 1945 bis 1950
Vom Provisorium zur gewählten Interessenvertretung, Juli bis November 1945
Das Kriegsende erlebte der Publizist und Politologe Arnulf Baring nach dem Ende Kampfhandlungen in Berlin am 2. Mai 1945 als dreizehnjähriger, dem letzten Aufgebot knapp entronnener Junge als eigentümliche Zwischen-Zeit der Stille: »…keine Behörden, keine Polizei, Dienststellen, Ämter, Schulen, nichts«.28 Die meisten Deutschen schenkten allerdings diesen Aspekten des Endes des Nazi-Regimes angesichts der unsicheren Zukunft und der angespannten Versorgungslage wenig Aufmerksamkeit. Wo es einen Pferdekadaver auszuschlachten oder ein verlassenes Wehrmachtsdepot zu plündern gab, bildete sich das, was Nationalsozialisten über zwölf Jahre propagiert hatten: die »Volksgemeinschaft«. In der »Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben«, dem Produktionsstandort des letztlich eine Illusion gebliebenen Autos zur NS-Massenmotorisierung, spielten sich ähnliche Szenen ab, da unmittelbar nach dem Einmarsch von amerikanischen Truppen in das benachbarte Fallersleben am 11. April 1945 polnische und sowjetische Zwangsarbeiter des Automobilwerks, die sich nach dem Verschwinden letzter Wehrmachts-, SS- und Volkssturmeinheiten selbst befreit hatten, Schulter an Schulter mit manchen Deutschen einen Zug mit Lebensmitteln, Kleidung und anderen Waren plünderten. Insbesondere Russen beschafften sich aus der Waffenkammer des Werks Waffen.29 Die Amerikaner rückten dann zwar wenige Zeit nach ihrem Stopp in Fallersleben im Werk und in der »Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben« ein. Englischsprechende Niederländer rechneten sich dieses Verdienst ebenso zu wie später Honoratioren der Nachkriegszeit, zum Beispiel Prälat Antonius Holling.30 Mit dem Eintreffen der US-Verbände senkte sich für einige Tage Stille über den Komplex am Mittellandkanal. In stummer Stimmung fragte sich viele, wie es weitergehen sollte.
Die allermeisten der vor Ort befindlichen 7.700 ausländischen Zwangsarbeiter nahmen im Werk keine Arbeit mehr auf. Wollten die meisten der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nur möglichst schnell zurück in ihre Heimat, stand für die rund 1.100 Personen zählende deutsche Stammbelegschaft die existenzielle Frage im Raum, ob die Produktionsstätte für den »KdF-Wagen« und die Volkswagenwerk GmbH ihre Arbeitsplätze sichern könnten.31 Denn im Frühsommer 1945 war dies sehr schwer abzuschätzen, zumal das ehemalige Renommierobjekt der untergegangenen NS-Diktatur, das vorwiegend der Rüstungsproduktion gedient hatte, sich für existenzbedrohende Eingriffe der Alliierten geradezu anbot. Zudem fehlte dem Unternehmen durch das eigentümliche System des Sparens für den »KdF-Wagen« die Marktorientierung und alleine durch das Fehlen einer Händlerorganisation eine fundamentale Voraussetzung der Wettbewerbsfähigkeit, falls die Alliierten eine rasche Aufnahme der Fahrzeugproduktion erlauben würden. Die Eigentümerin des Unternehmens, die »Deutsche Arbeitsfront« (DAF), war durch den Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland gleichsam verschwunden, aber auch die an die Militärs gebundenen Ansätze eines Werkstatt- und Kundendienstnetzes.
Im Westen Deutschlands, beispielsweise im Ruhrrevier, ging es aber im Mai 1945 bereits weiter, vor allem im Bergbau, denn Kohle war der unverzichtbare Rohstoff für die Heizung und das Kochen, für die Kraftwerke und die Industrieproduktion. Mit britischem und amerikanischen Fachpersonal besetzte »Mine Detachements« folgten den amerikanischen und britischen Kampfverbänden bei der Eroberung des Westens des Deutschen Reiches unmittelbar, um, beginnend mit dem Aachener Kohlenrevier bis schließlich zu den Bergwerken des östlichen Ruhrgebiets voranschreitend, nach ersten provisorischen Instandsetzungsmaßnahmen die Kohlenförderung rasch auf ein möglichst hohes Niveau zu bringen.32 Die Bedeutung des deutschen Bergbaupotentials nicht für Großbritannien, sondern für Nachkriegseuropa insgesamt hatte britische Experten in ihren ab 1944 angestellten Überlegungen zur Zukunft des Kohlebergbaus in Deutschland dazu bewogen, dessen Förderung in dem nach den Beschlüssen der Konferenz von Jalta in der britischen Besatzungszone liegenden Ruhrreviers autonom, also nicht in interalliierter Zusammenarbeit oder in Form einer von Frankreich angestrebten Internationalisierung wieder ins Laufen zu bringen, auch um Flexibilität und Spielraum zur Protektion des dahinsiechenden heimischen Bergbaus zu gewinnen.33
Die Stahlindustrie hingegen unterlag unmittelbar den vor allem auf der Potsdamer Konferenz formulierten Interessen der Alliierten, Deutschlands Kapazitäten zur Rüstungsproduktion zu zerstören, durch Demontage von Industrieanlagen rasch Reparationen zu ermöglichen und das Industrieniveau Deutschlands in einer Weise zu senken, die der deutschen Bevölkerung nur mehr einen »mittleren Lebensstandard« erlauben sollte.34 Daraufhin erfolgte die Arbeitsaufnahme in der Eisen- und Stahlindustrie und das Anblasen der produktionsfähigen Hochöfen im Ruhrgebiet, zum Beispiel bei der »Westfalenhütte« der Hoesch AG im Dortmunder Norden, erst im Herbst 1945, während im Bergbau über den Tag der Besetzung hinaus gearbeitet worden war.35 Eine mehr als zwei Jahre nach Kriegsende im Oktober 1947 veröffentlichte Demontageliste für die britische und die amerikanische Besatzungszone galt als »Todesurteil« für die August-Thyssen-Hütte in Duisburg-Hamborn.36 Die Sinnhaftigkeit von Industrieniveauplanungen und Demontagemaßnahmen zweifelten aber vor allem amerikanische und britische Wirtschaftsexperten alsbald an. Ihnen wurde rasch klar, dass die Ernährung und Versorgung der ihrer industriellen Grundlagen entledigten deutschen Bevölkerung vor allem von den Briten mit der bevölkerungsreichsten Besatzungszone im Nordwesten Deutschlands nicht zu gewährleisten war.
Abb. 1: Durch Bombenangriffe seit 1944 zerstörte Werkshallen.
Quelle: © Volkswagen Aktiengesellschaft
Die Stille über den Werksanlagen am Mittellandkanal hätte durchaus über den April 1945 Bestand haben können, denn die Automobilproduktion in Deutschland und am Fertigungsstandort des »KdF-Wagens« im Besonderen war von den Industrieniveauplanungen der Briten betroffen. Restriktionen für die Autoproduktion in Deutschland hatte der Londoner »Economic and Industrial Planning Staff« bereits im Mai 1944 vorgeschlagen.37 Das Volkswagenwerk war hingegen bereits vor den Industrieniveauplanungen für eine Demontage vorgesehen gewesen, da es in Friedenszeiten keinen Beitrag zum Wirtschaftspotential Deutschlands geleistet hatte.38
Es kam bekanntlich anders. Nicht nur, dass im Mai 1945 die provisorische Bezeichnung der Barackenstadt südlich des Volkswagenwerks auf Geheiß der Amerikaner von einem eilig einberufenen Stadtverordnetengremium in »Wolfsburg« umbenannt wurde, am 16. Mai ließen die Amerikaner aus Materialvorräten im Werk fünf VW Typ 82 »Kübelwagen« montieren, insgesamt wurden bis zur Übergabe der Machtausübung an die britische Militärregierung im Juni 1945 133 »Kübelwagen« für die amerikanischen Militärs montiert. Das überlebenswichtige Zwischenspiel unter amerikanischer Besatzung endete, als die Region im Juni 1945 unter die Hoheit der britischen Militärregierung geriet, die im Auftrag der alliierten Siegermächte die Treuhandschaft über das ehemalige Nazi-Unternehmen in der nunmehr britischen Besatzungszone ausübte.
Die Briten eröffneten mit dem am 22. August 1945 – Anfang August hatte der von der britischen Militärregierung nach Wolfsburg berufene »Senior Resident Officer« Major Ivan Hirst die Verwaltung des Werks übernommen - erteilten Auftrag zur Fertigung von 20.000 Volkswagen für Besatzungszwecke der Fabrik und ihren Arbeitern neue Perspektiven für die Zivilfertigung. Am 27. Dezember 1945 begann die Produktion der Volkswagen Limousine. Das ursprüngliche Ziel, 4.000 Autos monatlich herzustellen, musste...
Erscheint lt. Verlag | 7.2.2024 |
---|---|
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
Schlagworte | Aktiengesellschaft • Bernhard Tyrakowski • Betriebsrat in der Nachkriegszeit • Generaldirektor Nordhoff • Hugo Bork • NSDAP-Mitglieder • Volkswagenwerk • Wolfsburg • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-593-45725-3 / 3593457253 |
ISBN-13 | 978-3-593-45725-3 / 9783593457253 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 5,0 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich