Vorleben, vorsterben, vorglauben? (eBook)

Menschenführung in der Wehrmacht
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
577 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45703-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vorleben, vorsterben, vorglauben? -  Konstantin Franz Eckert
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Wie wurden die Soldaten der Wehrmacht - in der Kaserne und an der Front - von ihren Unteroffizieren und Offizieren behandelt? Wie war deren Menschenführung beeinflusst vom Nationalsozialismus und welche Bedeutung hatte sie für den Zusammenhalt des deutschen Heeres im Zweiten Weltkrieg? Konstantin Franz Eckert schließt, gestützt auf eine breite Quellenbasis, eine wichtige Forschungslücke. Seine Studie zeigt, wie junge Männer auf ihren Militärdienst vorbereitet wurden und was sie von ihren Vorgesetzten erwarteten. Sie weist nach, dass Vorbild und persönlicher Einsatz, Konstruktivität und absolute Unterordnung unter das Gehorsamsprinzip im Dienst des NS-Regimes zentrale Führungselemente der Wehrmacht waren. Zudem wirft sie einen Blick auf die militärische Ausbildung und ordnet die alten Narrative vom »Kasernenhofschleifer« sachlich ein.

Konstantin Franz Eckert, Dr. phil., ist Historiker.

Konstantin Franz Eckert, Dr. phil., ist Historiker.

Die vormilitärische Sozialisation von Jungen und jungen Männern im Nationalsozialismus


In traditionellen Sozialisationsinstanzen


Die Wehrmacht als Institution kann genauso wie das Verhalten ihrer einzelnen Angehörigen nur im politisch-gesellschaftlichen Kontext ihrer Zeit verstanden werden. Dieser zeitgenössische Referenzrahmen ist ebenso notwendig, um die Menschenführung in der Wehrmacht beurteilen zu können. Im nationalsozialistischen Deutschland, das als Gesamtsystem auf die Kriegsführung ausgerichtet wurde, stellte das Militär eine integrale Komponente dar. So wie die Wehrmacht auf die sie umgebende (Zivil-)Gesellschaft wirkte, wurde sie selbst von ihr beeinflusst. Gleiches gilt für das Verhalten der Wehrmachtangehörigen.130 Deren Alter war für das Innere Gefüge des Militärs dabei »besonders prägend«. Zum einen, weil die im Nationalsozialismus Aufgewachsenen sich später »als besonders loyale Soldaten« erwiesen.131 Zum anderen, weil gerade Kampfeinheiten zum großen Teil aus dieser Alterskohorte stammten.132 Nach Hitlers Vorstellungen sollte ihre Erziehung der »Vorbildung für den späteren Heeresdienst« dienen. Das Heer selbst sollte »den körperlich bereits tadellos vorgebildeten jungen Menschen nur mehr in den Soldaten verwandeln« müssen.133

Nach nationalsozialistischem Verständnis verfügten Partei und Staatsbehörden allein über »die Erziehungshoheit«. Alle Erziehungsträger und selbst die Familien würden nur »in deren stillen oder ausdrücklichen Auftrage« wirken.134 Doch der Zugriff der Nationalsozialisten auf die Erziehung war nicht total. So schafft erst eine Analyse der Lebenswirklichkeit der Jungen und jungen Männer und der sie beeinflussenden Pädagogik in traditionellen und genuin nationalsozialistischen Sozialisationsinstanzen jenen Referenzrahmen, in den sich auch die Menschenführung der Wehrmacht einordnen lässt. Weil von der Erziehungspraxis nicht automatisch auf die spätere Aktion im Militär geschlossen werden kann, wird nach Verhaltensdispositionen gesucht, die »eine Brücke zu den soldatisch bedeutsamen Handlungsgründen und -motiven« schlagen.135 Beim Blick auf die wichtigsten vormilitärischen Sozialisationsinstanzen wird unter anderem untersucht, wie die jungen Männer auf ihren späteren Dienst in der Wehrmacht vorbereitet wurden und wie alltäglich für sie körperliche Züchtigung war. Mit diesem Wissen lässt sich das, was das Militär von den Soldaten abverlangte, kontextualisieren und bewerten. Beispielsweise lässt sich einschätzen, welche Behandlung die Rekruten als schikanös beurteilten. Der zu erstellende Referenzrahmen soll aus der unüberschaubaren Vielzahl individueller Sozialisierungen das »Normale« oder »Übliche« als eine Bezugsgröße herausdestillieren und beschreiben. Erst vor dessen Hintergrund wird eine Bewertung der Menschenführung in der Wehrmacht möglich.

Eltern standen bereits seit der Antike unter der Erwartung, sich in der Kindererziehung »angemessener Härte« zu bedienen. Harte Strafen und »strenge Zucht« waren in der Familie Teil einer guten, insbesondere väterlichen Erziehung.136 Noch in den pädagogischen Ratgebern des 19. Jahrhunderts wurde die körperliche Züchtigung kaum in Frage gestellt. »Als gezielt genutztes Erziehungsinstrument« behielt sie ihren Platz in dieser für Laien und professionelle Erzieher gleichermaßen bestimmten Literatur.137 Als Rudolf Kirschmer am 19. Juli 1912 im schwäbischen Auendorf bei Göppingen geboren wurde,138 war Prügel in der Erziehungspraxis deutscher Familien »überaus weit verbreitet.«139 Recht und Rechtsprechung hatten daran »erheblichen Anteil«.140 Der Paragraph 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) bildete die rechtliche Grundlage für das elterliche Züchtigungsrecht. Der Vater konnte demnach »kraft des Erziehungsrechts angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden.«141 Dadurch wurde eine »patriarchalische Tradition« rechtlich fortgeschrieben, auch wenn zugleich »das Züchtigungsrecht des Ehemannes gegenüber seiner Ehefrau beseitigt« worden war.142 Paragraph 1631 Abs. 2 BGB a.F., der faktisch auch der Mutter die »Anwendung ›angemessener Zuchtmittel‹« erlaubte, legitimierte »Ermahnungen, Verweise, Knapphalten, Einschließung, sowie unmittelbare Gewalt und körperliche Züchtigung«. Selbst wenn deren Ermessen »nicht schrankenlos« war, wurden auch Umfang und Häufigkeit der Bestrafung weitgehend den Eltern überlassen.143

Der Erste Weltkrieg änderte an dieser Praxis und deren rechtlicher Grundlage kaum etwas. Nach der Niederlage sorgte sich die deutsche Familienpolitik über Parteigrenzen hinweg vor allem um den Fortbestand traditioneller Familien. Der Tod vieler Väter und der damit verbundene Wegfall patriarchaler Autorität besorgte viele Deutsche, führte aber zu unterschiedlichen politischen Forderungen.144 Auch in der Frage der Prügelstrafe war man sich uneins. Kritik wurde daran insbesondere im sozialistischen und pazifistischen Milieu laut.145 Helmut von Bracken forderte etwa, die »barbarischen Methoden einer veralteten Prügelpädagogik« durch eine gewaltfreie »Zukunftserziehung« zu ersetzen.146 Für ihn war die körperliche Züchtigung nur eines von vielen Problemen der Arbeiterkinder, die »vielleicht in absehbarer Zeit beseitigt werden« könnten, auch wenn es für »das Durchschnittskind von heute« noch kaum vorstellbar sei, ohne Schläge zu leben: »Wie würden unsre Kinder aufatmen, wie würden sie jubeln und sich freuen, wenn es eines Tages hieße: Heute werden alle Rohrstöcke zerbrochen! Alle Peitschen und Ruten verschwinden im Feuer! Von nun an gibt es keine ›Ohrfeigen‹, ›Schellen‹, ›Watschen‹› ›Kopfnüsse‹ usw. mehr!«147

Von konservativer Seite wurde das Recht auf Anwendung der Prügelstrafe hingegen verteidigt.148 So etwa vom Mediziner Hans Handwerker, dessen Gegenposition einen deutlichen anti-sozialistischen Einschlag hatte und der durch seine Arbeit »die Richtigkeit des Elterninstinktes« bestätigt sehen wollte. Im Wesentlichen ermutigte er Eltern dazu, die eigenen Kinder so zu erziehen, wie es ihnen »die innere Stimme« eingäbe. Um diese auszubilden, sollten sie gut zuhören, »wenn sich Ältere am Biertisch oder Kaffeekranz über ihre Erfahrungen« unterhielten, um bald selbst mitreden zu können.149 Die Zustimmung zum elterlichen Züchtigen kann aber letztlich kaum politisch zugeordnet werden. So ergab »eine deutschlandweite Umfrage des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, die 1929/30« durchgeführt wurde,150 dass auch 19 Prozent der befragten sozialdemokratischen und 15 Prozent der kommunistischen Wähler glaubten, in der Kindererziehung nicht auf Prügel verzichten zu können. Nur rund ein Drittel beider Wählergruppen sprach sich gegen körperliche Züchtigung aus. Umgekehrt verzichteten auch bürgerliche (14 Prozent) und nationalsozialistische Wähler (17 Prozent) auf Prügelstrafen, obschon in beiden Gruppen Körperstrafen eher befürwortet wurden, nämlich 42 Prozent der Bürgerlichen und 39 Prozent der Nationalsozialisten.151

Der Nationalsozialismus warf dem Parlamentarismus in der Weimarer Republik vor, den Niedergang der deutschen Familien nicht aufhalten zu können und nutzte die konservative Gegenreaktion auf die Veränderungen in Sexualität und Familienleben seit dem Ersten Weltkrieg, um die vermeintliche Wiederherstellung eines traditionellen Familienmodells zu propagieren.152 Im 21. Punkt ihres Parteiprogramms hatten die Nationalsozialisten 1920 gefordert: »Der Staat hat für die Hebung der Volksgesundheit zu sorgen durch den Schutz der Mutter und des Kindes«.153 Ein Angriff auf das elterliche Züchtigungsrecht verband sich damit aber nicht. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind tastete der Nationalsozialismus auch nach der Machtübernahme 1933 »formal nicht an«,154 auch wenn der Staat nun die Erziehungsziele selbst vorgeben wollte und die Familie verpflichtet wurde, sich als kleinste Zelle der sogenannten...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Reihe/Serie Krieg und Konflikt
Krieg und Konflikt
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte Ausbildung • Drittes Reich • Front • Führung • Gehorsamsprinzip • Geschichte • Kaserne • Kohäsion • Krieg • Menschenführung im Militär der NS-Zeit • Militärgeschichte • Misshandlung • Nationalsozialismus • Offiziere • Soldaten • unteroffiziere • Unterordnung • Vorgesetzte • Wehrmacht • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-593-45703-2 / 3593457032
ISBN-13 978-3-593-45703-1 / 9783593457031
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