Anthropozän (eBook)

Interdisziplinäre Perspektiven und philosophische Bildung

Florian Wobser (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
219 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45745-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Anthropozän -
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Der Begriff »Anthropozän« ist aus dem Diskurs über die Gegenwart nicht mehr wegzudenken. Er steht für die These eines neuen Erdzeitalters, in dem das Handeln des Menschen zu dem bestimmenden Faktor in der Natur geworden ist. Mit dem Anthropozän verbunden sind nicht zuletzt ethisch-philosophische Fragen, etwa aus der Nachhaltigkeitsforschung, der Tierethik und zu den Folgelasten der Nutzung fossiler Energien. Die Beiträge dieses Bandes lassen Stimmen aus der Philosophie, aber auch aus der Ethnologie, Medienkulturwissenschaft, Geographie und Biologie zu Wort kommen. Ein besonderes Ziel des Bandes liegt darin, interdisziplinäre Blickwinkel in ausgewählten Konzepten philosophisch-ethischer Bildung zu bündeln, um mit diesen sowohl den Unterricht an Schulen als auch die Lehre an Hochschulen zu verbessern und der Bildung für nachhaltige Entwicklung neue kritische Impulse zu geben.

Florian Wobser ist Gymnasiallehrer und arbeitet als Akademischer Rat a. Z. mit dem Schwerpunkt Philosophie- und Ethikdidaktik am Lehrstuhl für Philosophie der Universität Passau.

Florian Wobser ist Gymnasiallehrer und arbeitet als Akademischer Rat a. Z. mit dem Schwerpunkt Philosophie- und Ethikdidaktik am Lehrstuhl für Philosophie der Universität Passau.

Anthropozän – ein begriffliches Erdbeben. Grundlagen, Begriffsvarianten und gesellschaftliche Relevanz


Christoph Antweiler

Was ist das Anthropozän? Welche konzeptionellen Fragen wirft die rasante, weltweite menschengemachte Umweltdynamik auf? Welche Bedeutung kommt dem Denken in geologischen Zeit- und planetarischen Raum-Dimensionen zu? Im ersten Schritt erkläre ich die geowissenschaftlichen Hintergründe des Anthropozänkonzepts und erläutere, warum der Begriff nicht einfach nur anthropogenen Klimawandel meint und warum er deutlich weiter greift als eine bloß globale Perspektive (1). Daran knüpft eine Differenzierung in vier analytisch zu trennende Begriffe des Anthropozäns an (2). Dies wird flankiert durch eine Unterscheidung zweier Formen menschlicher Handlungsmacht (3). Daran schließt sich eine Analyse von wirkmächtigen Imaginationen, Weltbildern und Bilderwelten zum Anthropozän an, welche die breite Verunsicherung bezüglich der Stellung des Menschen in der bzw. zur Natur aufzeigen, aber kreativ auch Möglichkeiten eröffnen (4). Im abschließenden Teil plädiere ich für eine umfassend ›geerdete‹ Anthropologie und fasse die wichtigsten Aussagen in Form von sechs Thesen zusammen (5).

1Das Anthropozän – ein begriffliches Erdbeben4


Zur Veranschaulichung eines vom Menschen gemachten globalen Umweltwandels beginne ich mit drei Beispielen; es geht dabei um Plastik, um Tiere und um Beton. Erstens: Heutzutage enthält jedes Ökosystem auf diesem Planeten und fast jeder Organismus Mikropartikel von Plastik. Zweitens: Die Menschheit besteht derzeit aus gut acht Milliarden Menschen, aber wir haben etwa 25 Milliarden Masthühner auf der Erde. Andererseits sind wir dabei, die Lebewelt völlig zu verändern, etwa dadurch, dass unsere Lebensweise das Aussterben von großen Teilen der Megafauna bewirkt. Die Aussterberate von Tieren, insbesondere von großen Landtieren seit dem 20. Jahrhundert entspricht den letzten fünf ›Aussterbeereignissen‹ in der Biosphäre, die jeweils Millionen von Jahren dauerten. Stellen Sie sich bitte drittens Folgendes vor: Wenn man alle vom Menschen umgewandelten Materialien (Gebäude, Tunnel, Beton, Asphalt) zusammen nimmt und sie auf der Landoberfläche unseres Planeten ausbreitet, erhält man 50 kg/m2: ein Zentner auf jedem Quadratmeter, nicht etwa auf einem Hektar. Ich konnte das zunächst nicht glauben, aber es wurde durch harte Daten nachgewiesen (Zalasiewicz u. a. 2017).

Vom Klimawandel war in diesen Beispielen noch gar nicht die Rede. Diese drei Beispiele machen uns damit klar: die vom Menschen bewirkten erdweiten Umweltveränderungen, die mit dem Wort ›Anthropozän‹ benannt werden, sind definitiv mehr als nur der anthropogene Klimawandel. Heute ist kein einziges Ökosystem unserer Geosphäre5 mehr gänzlich unberührt vom Menschen, so dass manche bezüglich Lebensräumen inzwischen von ›Anthromen‹ statt Biomen sprechen, also von durch menschliche Aktivität maßgeblich und teilweise irreversibel veränderten Ökosystemen. Solche Anthrome existieren in manchen Regionen schon seit Tausenden von Jahren (Abb. 1; Lewis/Maslin 2018 und Ellis u. a. 2021 als Übersichtsarbeiten). Naturwissenschaftler, vor allem aus der Erdsystemwissenschaft (Earth System Science), kommen seit Mitte der 1980er Jahre zum Befund, dass menschliches Handeln spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts, vielleicht aber auch schon seit Tausenden von Jahren, Veränderungen der Erdoberfläche prägt, die in der Geschichte beispiellos sind. Diese menschlichen Einflüsse auf die Erdoberfläche, etwa der Artenschwund und die Versauerung der Ozeane, sind mittlerweile derart stark, weltweit festzustellen und wohl irreversibel, dass der Mensch als eigene ›Naturkraft‹, als zusätzlicher ›Geofaktor‹, neben etwa Vulkanen und Erdbeben, anzusehen ist (Meyer 2022 als Übersichtswerk).

Abb. 1: Umfang und historische Zunahme der Anthrome als maßgeblich menschlich überprägter Lebensräume

Quelle: Graphik von © anthromes.org; online unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anthromes_map_and_timeline_(10,000_BCE_to_2017_CE).png

In der Wortbildung entspricht das ›Anthropozän‹ geologischen Zeitaltern wie dem Holozän. Es geht also um geologische Perioden, nicht etwa um das Postulat, Epochen menschlicher Geschichte als ›Anthropozän‹ zu benennen (vgl. aber Thies in diesem Band). ›Anthropozän‹ ist der Name dafür, dass Menschen bereits heute die Erdoberfläche so stark prägen, dass man das in ferner geologischer Zukunft noch erkennen wird. Aus erdsystemwissenschaftlicher Sicht verlässt die Geosphäre das geologische Holozän, also die vergleichsweise stabile Nacheiszeit seit 11.700 Jahren. Diese Einsicht und die damit einhergehende Besorgnis veranlassten den Klimachemiker Paul Crutzen und den Gewässerbiologen Eugene Stoermer, ab dem Jahr 2000 den an geologische Epochenbezeichnungen angelehnten Begriff ›Anthropozän‹ einzuführen (Crutzen/Stoermer 2000; Crutzen 2002).

Der Terminus Anthropozän wurde also nicht etwa von Geologen, sondern von Klimawissenschaftlern und Erdsystemwissenschaftlern eingeführt. Geologen und Paläontologen denken erstens in sehr langen Zeiträumen und führen solche Perioden zweitens nur dann formal ein, wenn sich eine weltweit verbreitete Schicht gleichen Alters feststellen, sich also ein synchroner Marker ausweisen lässt (›Golden Spike‹; s.u.). Kein Wunder, dass die Geologie dem Thema erst ab 2009 stärkere Aufmerksamkeit geschenkt hat und das Anthropozän bislang noch nicht endgültig formal in die offizielle geologische Zeitskala aufgenommen wurde. Dieser Schritt der wissenschaftlichen Adelung des Begriffs, der wahrscheinlich für die wirkliche Fundierung in den Wissenschaften und für die öffentliche Aufmerksamkeit folgenreich wäre, könnte evtl. etwa dann durchgeführt werden, wenn dieser Aufsatz erscheint.

›Anthropozän‹ ist ein geochronologischer Begriff für die Zeitphase nach dem Holozän6. Das Anthropozän beginnt nach jetzigem Diskussionsstand um 1950 und dauert damit bislang nur gut 70 Jahre (Abb. 2). Nach anderen Vorschlägen begann es mit Beginn der Industrialisierung um 1800. Wenn man Archäologen fragt, könnte seine Genealogie maximal bis 12.000 Jahre vor heute zurückreichen. Im letzteren Fall würde das Anthropozän das Holozän chronologisch ›auffressen‹. Geologisch gesehen bedeuten aber alle diese Daten nicht mehr als einen flüchtigen Augenblick. Geologen denken in tiefen Zeiträumen von Millionen bis Milliarden von Jahren (›Tiefenzeit‹) und sind sehr konservativ, was die formale Einführung neuer geologischer Epochen angeht (Bjornerud 2022).

Abb. 2: Neue geochronologische Gliederung des jüngeren Teils der Erdgeschichte nach dem Vorschlag der Anthropocene Working Group von 2016; © Christoph Antweiler

(O = oberes, M = mittleres; U = unteres; grafisch übersetzt nach Zalasiewicz u. a. 2017)

Quelle: Eigene Darstellung (im Anschluss an Zalasiewicz u. a. 2017)

Eine Formalisierung als geologische Periode erfordert eine je mindestens 60 Prozent umfassende Zustimmung in den mehrstufigen Gremien der Internationalen Geologischen Vereinigung (IGU). Eine aktuell heftige Debatte in der Geologie dreht sich darum, ob man das Anthropozän als geologische ›Epoche‹ oder als geologisches ›Ereignis‹ auffasst. Eine Position plädiert dafür, das Anthropozän tatsächlich als Epoche bzw. Serie zu formalisieren und mit einem klaren geochronologisch synchronen Marker, nämlich Plutoniumspuren, im Jahre 1952 beginnen zu lassen (so etwa Head u. a. 2022; Waters u. a. 2022). Die Gegenposition argumentiert dafür, das Anthropozän explizit nicht als geologische Epoche zu formalisieren, sondern es als...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Co-Autor Christoph Antweiler, Leonie Bossert, Bettina Bussmann, Andreas Eberth, Josef Reichholf, Dominik Schrey, Jens Soentgen, Christian Thies
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Anthropologie • Erdgeschichte • Ethik • Ethikunterricht • Interdisziplinär • Mensch-Natur-Beziehung • Nachhaltigkeit • Natur/Kultur • Philosophiedidaktik • Tierethik
ISBN-10 3-593-45745-8 / 3593457458
ISBN-13 978-3-593-45745-1 / 9783593457451
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