Mit Nachsicht (eBook)

Wie Empathie uns selbst und vielleicht sogar die Welt verändern kann

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Kösel (Verlag)
978-3-641-31417-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mit Nachsicht -  Sina Haghiri
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Ein ermutigendes Buch voller Anregungen, sich selbst und andere in neuem Licht zu sehen
Für uns alle ist die Versuchung groß, Misstrauen gegenüber anderen zu entwickeln und die Welt als kalten Ort zu sehen. Das gilt leider besonders, wenn wir ohnehin psychisch angeschlagen sind oder in einer Krise stecken und uns eigentlich nach Nähe und Vertrauen sehnen - doch das hat Folgen.

Menschen übernehmen Vorurteile, sehen sie durch Einzelfälle bestätigt und übertragen sie auf ganze Gruppen. Auf gesellschaftlicher Ebene werden die Gräben dadurch immer tiefer, auf individueller Ebene lösen wir gerade durch diese Erwartung oft erst irritierte Reaktionen beim Gegenüber aus.

Der Psychotherapeut und Podcaster Sina Haghiri beobachtet zunehmend die Konsequenzen des sinkenden Vertrauens in andere: Mentale Gesundheit und Beziehungen leiden darunter, viele Menschen klagen über Depressionen und Einsamkeit.

Unsere negative Sicht von anderen beruht in Wahrheit jedoch häufig auf menschlichen Fehlern oder zu negativen Darstellungen in Medien und sogar Wissenschaft, und dagegen können wir etwas tun: Wir können uns unserer falschen Annahmen bewusst werden und eine Haltung der Empathie kultivieren. Dafür braucht es vor allem eins: Nachsicht. Sie kann uns nicht nur helfen, andere besser zu verstehen, sondern auch mitfühlender mit uns selbst zu sein - und das Gute in der Welt zu erkennen, statt vom Schlechten auszugehen.

Sina Haghiri, Jahrgang 1987, arbeitet als Psychotherapeut ambulant und in einer Klinik mit Patient*innen in Einzel-, Paar- und Gruppentherapie. Mit der Journalistin Verena Fiebiger moderierte er den Podcast Die Lösung - mit über 150.000 Spotify Abonnent*innen einer der erfolgreichsten deutschen Psychologie-Podcasts. Im ZDF lief im Herbst 2022 die zweite Staffel der Serie Fett und Fett, an der er wieder beteiligt war, für die erste Staffel wurde er als Drehbuchautor für den Grimme-Preis nominiert. Sina Haghiri ist Dozent bei der School of Life und Autor mehrerer Fachbücher.

Vorwort

Frau Knöll und ich stehen im Zwischengeschoss einer belebten Haltestelle. Sechs U–Bahnlinien, fünf Straßenbahnen und zwei Buslinien treffen hier aufeinander. Über 100 000 Fahrgäste steigen pro Tag ein, aus oder um. Frau Knöll hält in ihrer Hand einen Einhandzähler, ein kleines metallenes Gerät mit Ziffernblatt, dessen Anzeige man per Daumenklick um eine Zahl erhöhen kann. Bei Veranstaltungen kann Security-Personal mit solchen Geräten zum Beispiel den Überblick darüber behalten, wie viele Gäste bereits den Saal betreten haben.

Frau Knöll ist mittleren Alters und wird immer wieder von einer diffusen, gedrückten Stimmung heimgesucht. Als sie sich vor drei Monaten an mich gewendet hat, berichtete sie mir, dass sich ihr Zustand über die Jahre eher verschlechtert habe. Sie stecke häufiger und länger in diesen schlechten Phasen und wolle etwas dagegen unternehmen.

Wir stehen im Zwischengeschoss, um eine ihrer mittlerweile fest verankerten Annahmen zu überprüfen. Sie meint, die meisten Menschen seien heutzutage rücksichtslos und würden nur auf sich selbst achten. Wer in dieser Gesellschaft sensibel sei, habe keine Chance. Frau Knöll hat viele solcher Grundannahmen über sich und andere, die ihr Erleben und Verhalten prägen. Ich werde sie mit dieser Intervention nicht vom Gegenteil überzeugen, aber vielleicht setzen wir einen ersten Impuls. Denn immer, wenn mein Glauben an die Menschheit schwindet, mache ich die Übung auch selbst im Geiste: Frau Knöll soll jedes Mal, wenn sie jemanden beobachtet, dera sich rücksichtsvoll verhält, den Klicker in ihrer linken Hand betätigen.

Zunächst scheint sie solche Menschen nicht zu bemerken – auch das ist eine Folge ihrer Grundannahmen und ihres aktuellen Befindens, eine Art Symptom. Ich erinnere sie noch einmal an unsere Aufgabe und lenke ihre Aufmerksamkeit auf die vielen Leute, die anderen den Vortritt auf der Rolltreppe lassen. Menschen, die Platz für andere beim Aussteigen machen und geduldig abwarten oder eine Tür aufhalten. Sie klickt los: 1, 2, 3, 4. Jemand rennt einer Person hinterher, um ihr den aus der Tasche gefallenen Schal zu bringen. Klick. Eine junge Frau hilft einem älteren Herrn dabei, sein Fahrrad auf der Rolltreppe zu stabilisieren. Klick. Jemand geht unaufgefordert auf zwei orientierungslos wirkende Reisende zu und bietet Hilfe an. Klick. Nach dreißig Minuten klickt der Einhandzähler in ihrer linken Hand zum 44. Mal. Halbzeit und Handwechsel. Mit dem Klicker in der rechten Hand soll Frau Knöll nun alle negativen Verhaltensweisen zählen. Rücksichtslose Menschen, unhöfliches Verhalten und gefährliche Situationen, die durch Nachlässigkeit entstehen. Sie betätigt den Klicker zum Beispiel, als ein Jugendlicher noch in die U–Bahn hechtet, während die Türen sich schon schließen und die Weiterfahrt dadurch verzögert.

Ich hatte Frau Knöll in der ausgiebigen Vorbesprechung der Übung unter anderem gebeten, eine Schätzung abzugeben. Wie wird das Verhältnis der positiven und negativen Beobachtungen am Ende sein? Mindestens ausgeglichen, meinte sie. So wie sie diese U–Bahnstation kenne, wahrscheinlich deutlich negativer.

Nach einer Stunde stellen wir die Zahlen gegenüber: in der linken Hand stehen 44 Klicks. In der rechten sind es sechs. Frau Knöll fängt an zu weinen.

Dabei sind die Zahlen nicht überraschend. Das ist nicht nur meine persönliche Erfahrung, es gibt sogar einen tragischen, wissenschaftlichen Beleg dafür, dass fremde Menschen selbst unter furchtbaren Umständen sehr viel besser zueinander sind, als Frau Knöll vermutet. 2005 gab es eine Serie von Terroranschlägen in London, Selbstmordattentäter zündeten insgesamt vier Bomben in U-Bahnen und einem Bus. 52 Menschen starben, viele hunderte weitere wurden verletzt. Eine Forschungsgruppe der University of Sussex analysierte, wie sich die verunsicherte Londoner Bevölkerung verhielt.1 Die Wissenschaftler werteten über zweihundert Berichte aus unterschiedlichen Quellen über das Verhalten in den U-Bahnschächten direkt nach den Anschlägen aus. Sie analysierten Aussagen Betroffener aus Zeitungsberichten, lasen Zeugenaussagen, die direkt im Anschluss an die Katastrophe gemacht wurden und führten selbst ausführliche Interviews. Sie kamen zu einem eindeutigen Ergebnis:

Nur achtzehn Menschen berichteten von annähernd egoistischem Verhalten. Die Zahl ist großzügig gewertet. Es ging zum Beispiel darum, dass vier Menschen sich selbst als egoistisch bezeichneten, da sie »nicht genug« geholfen hätten. Jemand anderes störte sich daran, dass ein Passagier zu sehr in sein Telefon vertieft gewesen sei.

Mehr als zweihundert Personen hatten dagegen gesehen, wie jemand anders sich hilfreich verhielt. Sie beobachteten, wie Menschen jemanden tröstend umarmten, anderen Mut zuredeten oder den Vortritt ließen, sich gegenseitig über Hindernisse halfen oder andere aus Trümmern herauszogen. Das alles taten sie, während sie in großer Angst um ihr eigenes Wohl waren. Warum hat Frau Knöll im ganz normalen Alltag trotzdem etwas ganz anderes, etwas Schlechteres, von ihren Mitmenschen erwartet?

Es ist nicht ihre Schuld, dass sie sich so verschätzt hat. Der Kontext, in dem sie aufgewachsen ist und die Zeit, in der sie jetzt lebt, haben Druck auf sie ausgeübt. Und nicht nur auf sie. Für uns alle ist die Versuchung groß, Misstrauen gegenüber anderen zu entwickeln. Die Welt als kalten Ort zu sehen, in der andere Personen eine mögliche Gefahr darstellen, vor der es sich zu schützen gilt.

Für dieses Welt- und Menschenbild lassen sich unzählige vermeintliche Belege finden. Die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieb den Menschen oft als Wesen voll niederträchtigster Instinkte, die nur unter dem Mantel der Zivilisation zurückgehalten werden können. Die Sozialpsychologie untermauerte diese Annahme zeitgleich mit Experimenten, deren Ergebnisse zu den am meisten verbreiteten Werken der gesamten Psychologie gehören. Und heute liefert jede Tageszeitung und Nachrichten-App 24 Stunden am Tag weitere Hinweise darauf, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist. Verbrechen, Katastrophen und Konflikte soweit das Auge reicht.

Wie könnten wir unter diesem Eindruck anders, als misstrauisch oder zumindest vorsichtig auf andere zuzugehen? Es kann uns dann jedoch sehr leicht passieren, dass wir anderen Menschen böse Absichten unterstellen und ihr Verhalten als Bestätigung eben dieser vermuteten Intentionen interpretieren. Auf gesellschaftlicher Ebene werden die Gräben dadurch immer tiefer. Menschen übernehmen Ressentiments, sehen sie durch Einzelfälle bestätigt und übertragen sie auf ganze Gruppen. Auf individueller Ebene lösen wir gerade durch diese Erwartungshaltung oft erst die irritierten Reaktionen beim Gegenüber aus. Andere Menschen nehmen Abstand von uns – häufig, ohne dass wir es bemerken –, da sie es uns kaum recht machen können. Das verstehen wir wiederum als Beleg dafür, dass wir uns nicht auf sie verlassen können. Ein sich selbst verstärkender Teufelskreis beginnt. Und wir sind gerade dann anfällig für den ersten Schritt hinein, wenn es uns selbst am schlechtesten geht und wir ihn am wenigsten gebrauchen können.

Bei Frau Knöll war es eine Trennung, es hätte aber auch eine Erkrankung, ein Unfall oder jede andere Krise sein können. Es ist ihr zu dem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen, aber mit einigen Jahren Abstand sieht Frau Knöll, dass sie damals zutiefst verletzt und darum nicht sie selbst gewesen ist. Sie steckte unverschuldet und hilflos in einer katastrophalen Situation, in der sie keinen Zugriff mehr auf ihre normale Kraft und Gelassenheit hatte. In ihrer Not stiegen ihre Erwartungen an die Menschen in ihrem Umfeld, gleichzeitig wurde sie in ihrem Urteil immer härter mit anderen. Sie wurde dünnhäutiger, reagierte gereizter und interpretierte das Verhalten anderer immer skeptischer. Wurde ihr Hilfe angeboten, war es die falsche Art von Hilfe. Meldete man sich zu oft bei ihr, meinte sie, man mache ihr Druck. Ließen ihre Freunde sie stattdessen in Ruhe, fühlte sie sich von ihnen im Stich gelassen. Ist das allein ihr vorzuwerfen? Oder ist es allein ihrem Umfeld anzulasten? Natürlich weder noch.

Ihre persönlichen Lebenserfahrungen und ihre Prägung durch das Menschenbild, das ihr durch den öffentlichen Diskurs über Jahrzehnte vermittelt worden ist, haben ihren Teil dazu beigetragen. Die unauflösbare Schuldfrage bringt Frau Knöll sowieso nicht weiter, sie hätte auch damals nichts verbessert. Aber wie jeder Teufelskreis lässt sich auch dieser durchbrechen. Was hätte in dieser Situation geholfen? Was hätte verhindert, dass sie sich immer weiter isoliert?

Nachsicht, auf beiden Seiten. Von ihrem Umfeld, für ihre Notlage und Hilflosigkeit. Aber auch von ihr, dafür, dass auch ihr Umfeld manchmal unbeholfen reagiert und nicht genau so, wie sie es sich wünscht.

Ich mache die kleine Zähl- und Beobachtungsübung häufig. Sie behebt nicht das Problem, aber sie bereitet den Weg, um Nachsicht zu entwickeln. Sie ist ein Beginn, um langsam an unserem Weltbild zu arbeiten, um die Welt nicht mehr nur als Haifischbecken wahrzunehmen, sondern als durchaus schwierigen und harten Ort, in dem aber jeder und jede von uns mit dieser Härte zu kämpfen hat. Und das ist schwer, besonders, wenn wir diese Härte gerade abbekommen haben. Wenn wir uns allein fühlen und nicht verstehen, warum es andere so leicht haben im Leben. Aber selbst, wenn es so aussieht, als ob sich jemand anders leichttut, kennen wir die Person wahrscheinlich einfach nicht gut genug, um auch ihre Ängste, Sorgen und Unzulänglichkeiten zu erahnen.

Mit einem nachsichtigeren...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte 2024 • die lösung podcast • eBooks • Emotionale Intelligenz • Empathie • Hilfe bei Depressionen • Kognitive Verhaltenstherapie • Lifehacks • Neuerscheinung • positives Mindset • Psychologie • Rutger Bregman • Sachbuch Psychologie • soziale Ängste • Soziale Intelligenz • verena fiebiger • wie werde ich mitfühlender
ISBN-10 3-641-31417-8 / 3641314178
ISBN-13 978-3-641-31417-0 / 9783641314170
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