Wissenschaftsfreiheit und Moral -  Tim Henning

Wissenschaftsfreiheit und Moral (eBook)

Beste philosophische Aufklärung zum Streitthema »Cancel Culture«

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
319 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77878-4 (ISBN)
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Die Wissenschaftsfreiheit gilt vielerorts als bedroht von Moralismus, Denkverboten und Cancel Culture. Aber ist moralische Empörung angesichts bestimmter wissenschaftlicher Positionen - etwa zu Genetik und IQ, zu Geschlecht und Biologie oder zu Behinderung und Infantizid - immer ein ideologischer, sachfremder Versuch der Bevormundung? Oder gibt es legitime moralische Kritik an wissenschaftlichen Thesen? Der Philosoph Tim Henning geht diesen Fragen in seinem hochaktuellen und originellen Buch auf den Grund.

Einerseits verteidigt er eine strenge Auffassung von Wissenschaftsfreiheit: Die Wissenschaft ist ein autonomer Bereich und sollte als solcher auch respektiert werden. Sie sollte sich allein an den Kriterien orientieren, die sich aus der immanenten Natur einer systematischen Wahrheitssuche ergeben - an Daten und Belegen, an wahr oder falsch. Andererseits betont er die Möglichkeit einer nichtmoralistischen moralischen Kritik. Ansatzpunkte hierfür finden sich im Inneren des vermeintlich reinen Bereichs wissenschaftlicher Kriterien, wie neuere Analysen aus Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie zeigen. Es sind die praktischen Kosten eines Irrtums, die sich als erkenntnistheoretisch und als moralisch relevant erweisen. Ob eine These wissenschaftlich haltbar ist, kann daher durchaus eine moralische Frage sein.



Tim Henning ist Professor für Praktische Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er forscht zu Fragen der Moralphilosophie, der Sprachphilosophie sowie zur Philosophie Immanuel Kants und ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und der Gesellschaft für Analytische Philosophie. Für seine Forschungen wurde er u. a. mit dem Wolfgang-Stegmüller-Preis der Gesellschaft für Analytische Philosophie ausgezeichnet.

312. Wie sind Konflikte von Wissenschaft und Moral überhaupt möglich?


Konflikte zwischen Moral und Wissenschaft scheinen möglich zu sein, so viel dokumentieren die einleitend genannten Fälle. Wir haben also allemal den Eindruck, dass manche wissenschaftlichen Positionen, wie Elif Özmen schreibt, »im Widerspruch zu bestimmten ›richtigen‹ politischen und moralischen Normen« stehen.[19] 

Doch es ist nicht offensichtlich, dass es sich wirklich so verhalten kann. Wissenschaftler:innen treffen Aussagen über Tatsachen oder vermeinte Tatsachen auf der Basis von Belegen. Wie könnte darin eine moralische Verfehlung liegen? Wie könnte es also dazu kommen, dass eine wissenschaftliche Position in Widerspruch zu einer moralischen Norm gerät?

Die Analyse solcher Konflikte und ihrer Möglichkeit wird weite Teile dieses Buches in Anspruch nehmen. Aber es wird der Klarheit und dem Überblick dienen, die Frage an dieser Stelle vorbereitend in schematischer Form zu erörtern. Ich beschreibe im Folgenden also, wie es sein kann, dass rein deskriptive, also Tatsachen beschreibende Aussagen in Konflikt mit moralischen Normen geraten. Einige Möglichkeiten solcher Konflikte werden anhand vereinfachter Beispiele aus alltäglichen Kontexten typologisiert. Das wird es uns unten erleichtern, die realen Beispiele aus der Wissenschaft zu analysieren.

32Schon zu Beginn erweist sich dabei eine erste Differenzierung als notwendig. Eine berechtigte Frage ist, wie gesagt, ob und wie eine Behauptung deskriptiven Inhalts überhaupt eine moralische Verfehlung sein kann. Eine zweite, für unsere Zusammenhänge noch wichtigere Frage lautet: Kann auch eine deskriptive Behauptung, die sich unserer theoretischen Vernunft als prima facie begründet präsentiert, gleichwohl unmoralisch sein?

Erforderlich ist diese Unterscheidung wegen einiger Fälle, in denen deskriptive Behauptungen ganz offenkundig moralisch problematisch sind: Lügen, in denen eine Sprecher:in etwas behauptet, das sie für falsch hält, mit der Absicht, ihre Hörer:innen zu täuschen, und Bullshit, der Harry Frankfurt zufolge geäußert wird, ohne der Wahrheit irgendeine Orientierungsfunktion zu geben. Dass es sich in diesen Fällen um moralische Verfehlungen handeln kann, ist, wie gesagt, unkontrovers. Zwar wird um die Erklärung ihres unmoralischen Charakters in der Philosophie gestritten.[20]  Einigkeit besteht aber darüber, dass die moralische Falschheit wesentlich mit dem Mangel an Wahrhaftigkeit (und im Falle des Bullshits der Orientierung an der Wahrheit) zu tun hat. Damit sind diese Fälle, unerachtet ihrer moralischen und philosophischen Relevanz im Allgemeinen, für dieses Buch aber nicht zentral. Denn hier 33handelt es sich natürlich nicht um Fälle, in denen die Forderungen der theoretischen und der praktischen Vernunft in Konflikt geraten könnten. Im Gegenteil besteht die moralische Verfehlung gerade darin, dass auch die Forderungen der theoretischen Vernunft, die (wie ich hier vorläufig unterstelle) auf Wahrheit zielen, ignoriert werden.

Wir konzentrieren uns daher nun auf Fälle, in denen zumindest prima facie die Möglichkeit eines tieferen Konflikts besteht – Fälle, in denen eine Behauptung einerseits gute Belege für sich zu haben und andererseits dennoch mit der Moral in Konflikt zu geraten scheint. Ich beschränke mich dabei auf inhaltsbasierte Konflikte, also auf solche, in denen nicht bereits jeder beliebige Akt des Behauptens moralisch problematisch ist (weil er etwa ein Schweigegelübde bricht oder eine Beerdigung stört), sondern in denen eine Behauptung aufgrund des behaupteten Inhalts mit den Forderungen der Moral konfligiert. Ich unterscheide dabei kausale, symbolische, logische und epistemische inhaltsbasierte Konflikte. Die zwei ersten Varianten (kausal, symbolisch) werden besonders kurz und summarisch abgehandelt, da ihre Rolle im Zusammenhang meiner Argumentation keine bedeutende ist.

Zunächst zu Konflikten kausaler (gemeint ist: rein kausaler, oder: bloß kausaler) Natur. Hier hat eine Behauptung wegen ihres Inhalts absehbar Effekte, die sie moralisch problematisch machen, ohne dass diese Effekte allerdings in einer Beziehung der rationalen Begründung zum behaupteten Inhalt stehen. Angenommen, ein Lehrer erinnert die Schüler:innen direkt vor der Mathearbeit eigens daran, dass laut der PISA-Studie von 2018 »Jungen weiterhin eine deutlich höhere mathematische Kompetenz als Mädchen« zeigen.[21]  Viele bekannte Studien dokumentie34ren, dass solche Äußerungen einen messbaren nachteiligen Effekt (der den Titel stereotype threat trägt) auf die Leistungen von Schülerinnen haben, indem sie ein gesellschaftliches Stereotyp aufrufen, was dazu führt, dass die Betroffenen ihm stärker entsprechen.[22]  Dies macht die Äußerung der Lehrkraft, unerachtet ihrer Korrektheit, offenkundig moralisch kritikwürdig.

Ein inhaltsbasierter Konflikt symbolischer Art liegt vor, wenn eine Behauptung neben ihrem Inhalt eine weitere Bedeutung trägt, weil sie z. ‌B. in einem bestimmten historischen Kontext eine charakteristische Rolle gespielt hat. Neben einigen Beispielen, die unten genannt werden, genügt hier vielleicht folgender Fall: In einem Interview berichtet Jan Müller von der Band Tocotronic von einer CD-Kompilation aus dem Jahr 2002, die deutschsprachige Künstler:innen und Songs versammelte und einen Werbesticker mit dem Aufdruck »Deutschland ist erwacht« trug.[23]  Dabei ging es keineswegs um rechtsradikale Bands oder einen entsprechenden Musikverlag, sondern, so Müller, um einen ahnungslosen Mitarbeiter in der Werbeabteilung. Der Punkt: Auch dann, wenn wir mit Müller davon ausgehen, dass hier keine fragwürdige bewusste Absicht vorlag, bleibt der Sticker anstößig.

35Diese beiden Konflikt-Typen sind in einer Reflexion über die Wissenschaftsfreiheit keineswegs unwichtig, und sie sollen in diesem Buch Berücksichtigung finden. Trotzdem sind sie für meine Argumentation nicht zentral. Der Grund dafür lautet, dass es kontingente äußere Umstände (in unseren Beispielen etwa die psychischen Auswirkungen sozialer Stereotype, die Verbrechen der deutschen Geschichte) sind, die diese Äußerungen unmoralisch machen. Nicht, dass solche exogenen Merkmale per se irrelevant wären. Aber ich werde argumentieren, dass zumindest der wissenschaftliche Diskurs (als unser Hauptgegenstand) sich mit einiger Plausibilität das Recht nehmen darf, frei von Rücksicht auf solche Umstände zu agieren.

Anders verhalten sich die Formen des Konflikts, auf die ich mich konzentrieren will. Zunächst geht es dabei um Konflikte logischer Art – um solche also, die nicht nur deshalb bestehen, weil eine Behauptung bestimmte kausale Konsequenzen oder eine bestimmte symbolische Dimension hat, sondern rein aufgrund der Implikationen des Inhalts. Es ist also der behauptete Inhalt selbst, der »im Widerspruch zu bestimmten ›richtigen‹ politischen und sozialen Normen« steht (um erneut Özmen zu zitieren). Es geht nun darum, genauer zu verstehen, wie diese Art von Konflikt eigentlich möglich sein soll.

Einfach gesagt, bestehen solche Konflikte darin, dass der Inhalt einer Behauptung einer moralischen Überzeugung widerspricht, die wir für wahr halten. Diese Charakterisierung wirft aber Fragen auf. Erstens fragt sich, inwiefern deskriptive Aussagen überhaupt in Widerspruch zu moralischen Überzeugungen geraten können. Zweitens ist zu klären, warum ein solcher logischer Widerspruch die deskriptive Aussage nicht nur als zweifelhaft oder vielleicht falsch erscheinen lässt, sondern eben als eine moralische Verfehlung.

36Zum ersten Punkt: Es zählt zu den frühen Lektionen eines Studiums der Ethik, dass es keinen direkten logischen Schritt gibt von Aussagen darüber, wie die Welt ist, zu Aussagen darüber, ob die Welt auch so sein soll. Diese logische Lücke zwischen »Sein« und »Sollen«, zwischen Beschreiben und Vorschreiben, erweist sich zwar bei näherem Studium als...

Erscheint lt. Verlag 17.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte cancel culture • Redefreiheit • Wissenschaftsphilosophie • woke
ISBN-10 3-518-77878-1 / 3518778781
ISBN-13 978-3-518-77878-4 / 9783518778784
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