Kompendium Trauma und Akutintervention (eBook)
354 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12321-0 (ISBN)
Robert Bering, Prof. Dr., war Mitgründer und zuletzt Chefarzt des Zentrums für Psychotraumatologie der Alexianer Krefeld GmbH. Heute lehrt er an der Universität zu Köln Rehabilitationswissenschaften und ist Leitender Arzt für ambulante Psychotherapie am Psychiatrischen Zentrum Kopenhagen.
Robert Bering, Prof. Dr., war Mitgründer und zuletzt Chefarzt des Zentrums für Psychotraumatologie der Alexianer Krefeld GmbH. Heute lehrt er an der Universität zu Köln Rehabilitationswissenschaften und ist Leitender Arzt für ambulante Psychotherapie am Psychiatrischen Zentrum Kopenhagen. Claudia Schedlich, Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin, ist in eigener Praxis in Köln tätig und seit 2019 Leiterin des Therapiezentrums für Folteropfer des Caritasverbandes für die Stadt Köln e.V. Sie studierte Psychologie in Köln und absolvierte ihre psychotherapeutische Ausbildung in Bonn. In ihrer beruflichen und wissenschaftlichen Laufbahn ist sie seit 1989 mit dem Thema Psychotraumatologie befasst: klinische Tätigkeit mit Schwerpunkt Traumatherapie in der Dr. von Ehrenwall'schen Klinik, Ahrweiler, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität zu Köln, Krisenbeauftragte für Schulen an der Schulpsychologischen Beratungsstelle der Landeshauptstadt Düsseldorf, 2007-2019 Referentin im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Referat Psychosoziales Krisenmanagement, seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeit und Koordination bei internationalen Forschungsprojekten zur Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) bei komplexen Gefahren- und Schadenslagen (Terrorlagen, Amok, Naturkatastrophen), die von verschiedenen Kommissionen der Europäischen Union gefördert wurden. Gisela Zurek, wurde als Tanztherapeutin in Monheim a. R. ausgebildet und studierte Psychologie in Köln. Nach einigen Jahren als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie arbeitet sie seit 2009 in der Ambulanz für Gewaltopfer am Gesundheitsamt der Landeshauptstadt Düsseldorf. Als freie Mitarbeiterin des Deutschen Instituts für Psychotraumatologie e. V. in Much ist sie in der Ausbildungsleitung für die Weiterbildung Fachberater/in für Psychotraumatologie und für das Alexianer Institut für Psychotraumatologie in Krefeld in der Zusatzqualifikation Bezugspflege in der Psychotraumatologie tätig. Ihre Themenschwerpunkte lagen über viele Jahre in der wissenschaftlichen Tätigkeit in Europäischen Drittmittelprojekten zum Thema Psychosoziale Nachsorge nach Großschadenslagen und spezifische Situationstypologien wie Betroffene nach Terroranschlägen und Betroffene mit Behinderung nach komplexen Schadenslagen, auch als wissenschaftliche Beraterin des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. In 2019 absolvierte sie einen humanitären Einsatz in Tadschikistan zum Thema Gewalt gegen Frauen. Frau Zurek ist als Supervisorin für das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben im Kontext Gewalt gegen Frauen und für den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes tätig. Veröffentlichungen liegen vor zu den Themen: Traumasensible Übertragung – Gegenübertragung - Eigenübertragung, das Konzept der Zielgruppenorientierten Intervention und Maßnahmen der Psychoinformation, Psychosoziale Notfallversorgung für Menschen mit Behinderung, Europäische Selbsthilfeverbände für Hinterbliebene und Betroffene nach Terroranschlägen, Gewalt am Arbeitsplatz, Menschenrechtsverletzungen und die Istanbul Konvention. Frau Zurek ist Mitglied im Netzwerk Frauengesundheit und Gewalt in NRW.
Kapitel 2
Grundlagen
Im Folgenden stellen wir allgemeine Prinzipien der mehrstufigen Akutinterventionen auf, die für alle Situationstypen gelten. Wir skizzieren im ersten Abschnitt die Wissenschaftsgeschichte der Psychotraumatologie und gehen im zweiten Abschnitt gesondert auf das Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung von Fischer und Riedesser (2023) ein.
2.1 Wissenschaftsgeschichte
Die Vorzüge der kategorialen Aufzählung von Symptomen zur Diagnosestellung liegen in der Klarheit ihrer Definition und Anwendbarkeit. Das gilt auch für die stressinduzierten Störungen. Sobald der Prozessverlauf im Mittelpunkt steht, hat die Erklärungskraft dieses Ansatzes Grenzen, da wir die stressinduzierten Symptome nach schweren Belastungen zunächst als natürliche Reaktion verstehen, die in der Regel überwunden wird.
Unser Modell erfolgt auf der Grundlage der Wissenschaftsgeschichte der Psychotraumatologie. Aus diesem Grund haben wir in Anlehnung an Fischer und Riedesser (2023) sechs Säulen der Wissenschaftsgeschichte der Psychotraumatologie formuliert und weiterentwickelt (s. Abb. 2).
Abb. 2: Wissenschaftsgeschichte der Psychotraumatologie. Die sechs Säulen der Wissenschaftsgeschichte tragen gemeinsam das Konzept der Psychotraumatologie (Fischer 1998, modifiziert von Bering 2011).
Eine richtungsweisende Darstellung der Bedeutung von traumatischen Erlebnissen findet sich in der Gründerzeit der Psychoanalyse (vgl. Abb. 2). Seit Sigmund Freud (1856–1939) wissen wir: »Nicht das reale Erlebnis allein, sondern die assoziativ geweckte Erinnerung an frühere Erlebnisse verursacht die Krankheitssymptome […]« (Freud 1896, zitiert nach Hirsch, 2000, S. 135). Mit der Erforschung des kindlichen Sexuallebens arbeitete Freud die Rolle kindlicher Triebwünsche und Phantasiebildungen bei der Entstehung neurotischer Störungen heraus. Anfangs war Freud davon überzeugt, dass sexueller Missbrauch von Kindern jeder späteren hysterischen Störung zugrunde liege. In einer späteren Forschungsperiode relativierte er diese ausschließliche Kausalität, aber nicht den sexuellen Missbrauch als Ursache schwerer psychischer Störungen.
Die dynamische Psychiatrie bildet mit Pierre Janet (1859–1947) die zweite Säule der Wissenschaftsgeschichte. Er war insbesondere an dem Zusammenspiel zwischen Psychotraumatisierung und Psychopathologie interessiert und nannte seinen Ansatz »dynamische Psychiatrie«. In seiner Arbeit L´automatisme psychologique (1889) schreibt er, traumatische Erfahrungen könnten oft nicht angemessen verarbeitet werden und würden daher vom Bewusstsein abgespalten und dissoziiert. Zu einem späteren Zeitpunkt lebe die Erinnerung entweder als emotionaler Erlebniszustand, als körperliches Zustandsbild, in Form von Vorstellungen und Bildern oder von Reinszenierungen im Verhalten wieder auf. Mit der Entfaltung der Psychotraumatologie wurden Janets Arbeiten weltbekannt. Er formulierte den Zusammenhang von akuter Psychotraumatisierung und Dissoziation, das Konzept des Informationstraumas sowie das Dreiphasenmodell der Therapie – Stabilisierung, Exposition und Integration – erstmalig, das immer noch Gültigkeit hat (Janet 1989).
Eine dritte Forschungsrichtung, die zur Entstehung der Psychotraumatologie wesentlich beigetragen hat, ist die Stressforschung. Im Jahr 1936 formulierte Selye sein Modell der Stressreaktion mit den drei Phasen Alarm-, Widerstands- und Erschöpfungsstadium. Dauert der pathogene Stress an, so treten möglicherweise irreversible Folgen auf. Selye unterteilte die Umweltreize in Stressfaktoren mit positiver und negativer Bedeutung für den Organismus. Die positiven nannte er Eustress, die negativen Disstress. Im Zuge der Weiterentwicklung des Behaviorismus entstand eine ausdifferenzierte Konzeption der Subjekt-Umwelt-Beziehung, wie sie zum Beispiel im ›transaktionalen Stressmodell‹ nach Lazarus und Folkman (1984) beschrieben ist. Eine große Relevanz für das Risikofaktorenmodell des TGIP hat der Stressforscher Stevan Hobfoll mit seiner COR-Theorie entwickelt. »Conservations of ressources« (COR) besagt: Menschen benötigen zum Erhalt des psychischen und physischen Wohlbefindens die notwendigen Ressourcen. Deren eingetretene oder drohende Verluste sind für die Stressbildung entscheidend. Gewinne von Ressourcen können Verluste auffangen (Hobfoll 1998). George A. Bonanno (2024) trug mit seinem »Flexibility«-Konzept wesentlich dazu bei, resiliente Verläufe nach schweren Belastungen zu beschreiben. Flexibilität beschreibt er als einen Prozess, »den wir anwenden, um uns selbst an traumatischen Stress anzupassen, damit wir unseren Weg zur Resilienz finden können« (2024, S. 117).
Die vierte Säule der Wissenschaftsgeschichte wird von modernen Vertretern der Psychotraumatologie mit psychodynamischen Ansätzen gebildet. So hat Mardi Horowitz (1976, 2011) den Zyklus der Traumaverarbeitung entwickelt. Analog zu Janet versteht er die traumatische Situation als ›Informationstrauma‹. Die Kapazität der Informationsverarbeitung wird nachhaltig überstiegen. Es beginnt eine Schaukelbewegung, die Horowitz im Rahmen der traumatischen Reaktion als biphasische Abfolge von Intrusion und Verleugnung beschreibt und ›Zyklus der Traumaverarbeitung‹ nennt. Die Schaukelbewegung von Zulassen und Vermeiden zielt auf Vollendung im Sinne einer schrittweisen Aufarbeitung. Es geht um den relativen Abschluss der unbewältigten Erfahrung, indem das Trauma in den kognitiven Wissensbestand integriert wird. Misslingt die Integration des Traumas, chronifizieren die Symptome der traumatischen Reaktion auf dem Niveau von persönlichkeitstypischen Erlebniszuständen oder Stimmungslagen, die Horowitz (1979) ›states of mind‹ nennt. Mit dieser dynamischen Betrachtung beginnt die Darstellung der Psychotraumatisierung als Prozess, die sich in der Beschreibung des Verlaufsmodells psychischer Traumatisierung nach Fischer und Riedesser (2023) fortsetzen wird. Die vierte Säule bahnt den Weg zur psychodynamischen Traumatherapie, die sich von einem freudianischen Verständnis gelöst hat. In Deutschland wurde sie von Gottfried Fischer und Luise Reddemann gegründet.
Die fünfte Säule der Wissenschaftsgeschichte stützt sich auf das lerntheoretische Paradigma. Die Erkenntnisse zur klassischen (Pavlov 1927) und operanten Konditionierung sind die Grundlage für die ersten Generationen der Verhaltenstherapie. Für unsere Belange ist der Schemabegriff von Jean Piaget (1896–1980) relevant. Schemata sind als senso-motorische kognitive Repräsentanz in ein ökopsychologisches Bedingungsgefüge eingebunden. Eine Assimilation der traumatischen Situation ist erst möglich, wenn diese Schemata akkommodiert werden. Wir ziehen das Modell von Piaget heran und schlussfolgern auf Grund unserer klinischen Beobachtungen, dass die Betroffenen in der traumatischen Situation in ihrer Wahrnehmung auf senso-motorische Schemata der frühen Entwicklungsstufen zurückfallen. Folgendes Beispiel verdeutlicht den Zusammenhang: Die Person, die mit einer Pistole bedroht wird und Unfassbarkeit der Situation empfindet, starrt unverwandt auf den Lauf der Waffe. Das explorative Verhalten ist supprimiert und kognitive Schemata sind nicht zugänglich, die sonst einen Perspektivenwechsel gewährleisten. Die Person fällt in der traumatischen Situation in das präoperative Denken zurück. Erst wenn der Verarbeitungszyklus akkommodierte Schemata bereitstellt, ist eine Erholung denkbar. Piaget versteht hierunter einen Äquilibrationsprozess. Nach unserer Auffassung handelt es sich hierbei um die Integration des Traumas.
Die Ausdifferenzierung der kognitiven Schule in der Psychotraumatologie ist mittlerweile weit verzweigt und hat sich in den Leitlinien zur Behandlung der PTBS durch die Vorlage von kontrollierten Studien durchgesetzt. Ein wichtiges Beispiel ist die »Prolonged Exposure« von Edna Foa et al. (2019). Die Entwicklung des Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) durch Francine Shapiro (2017) verstehen wir als Variante eines kognitiven Verfahrens.
Der sechste Baustein der Wissenschaftsgeschichte bezieht sich auf die Neurowissenschaften, die die neurobiologischen Grundlagen der Psychotraumatisierung erforschen. Bahnbrechend waren die Befunde der funktionellen Bildgebung. Sie haben deutlich gemacht, dass Menschen im Wiedererleben von Traumatisierung spezifische Muster der Hirnaktivierung zeigen (Rauch et al. 1996). Die Befunde aus der Bildgebung wurden mit Les Doux’s (2000) »Schaltkreis der Angst« verknüpft. Diese neurobiologische Modellbildung war mitentscheidend, dass die PTBS zunächst als eine Angststörung aufgefasst wurde. Einen zentralen Beitrag für die komplexen Verläufe einer PTBS liefert Julian Ford mit seinem Modell des »surviving brains« und »learning brains« (2020). Die große Zahl an Befunden aus den Neurowissenschaften wurden in das 5-Ebenen-Modell der Neurobiologie der PTBS/komplexen PTBS integriert (Bering & Thüm 2022, S. 118–146).
Diese sechs Säulen tragen das Konzept der Psychotraumatologie. Der Modellpluralismus macht die moderne Psychotraumatologie zu einer interdisziplinären Wissenschaft. Darüber hinaus haben insbesondere Wissenschaftler wie Kardiner, Winnicott, Seligman, A. Freud und Bowlby das Konzept der Psychotraumatologie beeinflusst.
Abram Kardiner (1941) war der erste, der die massiven physiologischen...
Erscheint lt. Verlag | 14.12.2024 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Traumatherapie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Akuttherapie • Katastrophenhilfe • Krisenintervention • Postraumatische Belastungsstörung • Psychologie • Psychosoziale Notfallversorgung • Psychotraumatologie • PTBS • Terroranschläge • Trauma • Traumatherapie |
ISBN-10 | 3-608-12321-0 / 3608123210 |
ISBN-13 | 978-3-608-12321-0 / 9783608123210 |
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