Autismus - (m)eine andere Wahrnehmung -  Gee Vero

Autismus - (m)eine andere Wahrnehmung (eBook)

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
212 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-9707-3 (ISBN)
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Autismus ist in aller Munde. Allein in Deutschland leben ca. 800.000 autistische Menschen. Dennoch mangelt es an Unterstützung, Hilfsmitteln, adäquaten Lebens-, Wohn- und Arbeitsbedingungen. Vor allem aber fehlt die Akzeptanz für das Anderssein. Dieses Buch ist sowohl für Eltern und Angehörige autistischer Menschen als auch für heilpädagogische und pädagogische Fachkräfte, Therapeut: innen, Schulbegleiter: innen, Betreuer: innen und alle Menschen interessant und hilfreich, die autistischen Menschen in ihrem Lebens- und Arbeitsalltag unterstützend zur Seite stehen wollen. Gee Vero erklärt auf sehr anschauliche Weise sowohl ihren eigenen Asperger-Autismus als auch den frühkindlichen Autismus ihres Sohnes Elijah. Das Buch beleuchtet die Entstehung des anderen Verhaltens autistischer Menschen und bietet zudem einen Einblick in die zahlreichen Strategien, die von der Autorin und ihrem Sohn entwickelt wurden. Nach der Lektüre werden Sie sich der Herausforderung des Mitmensch-Seins mit autistischen Menschen stellen können. Sie werden ein tieferes Verständnis für autistische Menschen haben, welches Ihnen ermöglicht, die Welt, die wir uns alle teilen, jedoch auf ganz unterschiedliche Weisen wahrnehmen, zu schätzen und inklusiver zu gestalten. Durch das Verständnis für Autismus wird Toleranz gefördert und schließlich die dringend benötigte Akzeptanz für autistische Menschen geschaffen. Gee Vero ist eine autistische Künstlerin, Autorin und Referentin mit über 50 Jahren Autismus Erfahrung. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. Gee Vero lebt und arbeitet, nach langen Jahren in London, heute wieder in der Nähe von Leipzig. www.bareface.jimdofree.com

Die Künstlerin Gee Vero hat über 50 Jahre Autismus Erfahrung Die Welt präsentiert sich ihr auf eine andere Art und Weise. Sie ist Mutter von drei Kindern, von denen der Jüngste auch Autist ist. Gee Vero ist verheiratet und lebt, nach langen Jahren in London, nun wieder in der Nähe von Leipzig. Sie ist Initiatorin des Kunstprojektes The Art of Inclusion, bei dem sie Menschen dazu einlädt, ihr auf einem Blatt Papier zu begegnen. Gee Vero hält Vorträge zu Autismus, Wahrnehmung und Inklusion und schreibt Bücher zu diesen Themen. Mehr Informationen und Kontakt unter www.bareface.jimdofree.com

2. Wahrnehmung

Wahrnehmung und Realität können sich sehr unterscheiden.

Eine Frage: Haben Sie schon einmal einen Sonnenuntergang erlebt? Sind Sie sicher? Ich frage, weil die Sonne weder auf- noch untergeht. Dieses Beispiel verdeutlicht wunderbar, dass es immer unsere Wahrnehmung ist, die wir mit Worten zu beschreiben versuchen. Es zeigt außerdem, wie wenig diese Wahrnehmung mit der Realität übereinstimmt. Es ist so, dass sich die Erde um die Sonne dreht. In unseren Köpfen entsteht jedoch der Eindruck, dass die Sonne jeden Abend im Westen an einem Horizont untergeht. Die Wahrnehmung ist zwar sehr romantisch, aber verzerrt.

Da sich aber fast alle Menschen diese Sonnenuntergangs-Wahrnehmung teilen und sich ihr Verhalten auf diesen Reiz deckt, ist alles gut. Die Erwartungshaltung der Umgebung wird erfüllt. Wären Sie jedoch die: der Einzige, die: der diese Wahrnehmung hat und würden Sie zudem darauf bestehen, dass es weder einen Sonnenaufgang noch einen Sonnenuntergang gibt, dann würde sich die anderen schnell über Sie wundern. Und selbst dann, wenn Sie, wie in diesem Fall recht haben. Was wäre, wenn dies häufiger geschehen würde? Wenn Sie ständig ganz anders reagieren würden? Was, wenn Ihre Mitmenschen nicht tolerant wären und Ihr Anderssein nicht akzeptieren würden? Sie würden sehr schnell aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. So geht es den meisten autistischen Menschen.

Die Wahrnehmung nicht-autistischer Menschen muss sich sehr ähneln. Wie wäre es sonst möglich, dass sie auf gleiche Reize meist übereinstimmende Reaktionen zeigen?

Wie entsteht eigentlich Wahrnehmung? Was passiert da in unseren Köpfen? Wahrnehmung ist ein komplizierter Prozess, bei dem in unserem Gehirn durch Aufnahme, Filtern und Verarbeiten von äußeren (aus der Umwelt) und inneren (aus dem Körper) Reizen ein individuelles Modell der Welt entsteht. Man kann das Gehirn als einen Modellbauer sehen. Es erstellt zudem noch ein Modell des eigenen Geistes (unsere Wünsche, Gedanken und Gefühle) und ein Modell des Geistes Anderer (Vermutungen über die mentalistischen Zustände anderer Menschen). Diese Modelle sind verbunden und stehen im ständigen Austausch miteinander.

Ein Beispiel: Kommen wir ins Gespräch mit einem Menschen, der uns erzählt, dass er Lehrer ist, fließen sofort all unsere Erfahrungen und alles bisher Gesehene und Gehörte über Lehrer: innen und Schule in unsere Wahrnehmung dieses Menschen ein. So entstehen Vorurteile, die unsere Beziehungen zu anderen Menschen negativ beeinflussen, und das oft schon, bevor wir ihnen überhaupt begegnen.

Da Wahrnehmung subjektiv ist, ist sie nicht nur spezifisch für uns, sondern ausschließlich nur von uns erlebbar. Wir können nicht wissen, wie die Wahrnehmung anderer Menschen ist. Gleichzeitig können wir einem anderen Menschen unsere eigene Wahrnehmung nicht erklären. Natürlich können wir ausführlich darüber reden, wie es für uns ist, die Farbe Rot zu sehen. Wir können versuchen zu beschreiben, wie es sich für uns anfühlt, wenn wir etwas Saures essen. Aber egal, wie sehr wir uns bemühen und wie viel wir jemals über das Gehirn wissen werden, die Erlebnisperspektive eines anderen Menschen wird uns immer verschlossen bleiben. So kann ich Ihnen nicht sagen, wie es ist autistisch zu sein. Ich kann Ihnen nicht vermitteln, wie es sich für mich anfühlt autistisch zu sein. Auch Sie können keinem anderen Menschen mitteilen, wie es für Sie ist, Sie zu sein.

Ein Beispiel: 1974 publizierte der amerikanische Philosoph Thomas Nagel dazu einen Aufsatz mit dem Titel „What is it like to be a bat?“ (Wie ist es eine Fledermaus zu sein?). In diesem schreibt er, dass selbst dann, wenn wir genau wüssten, was im Gehirn einer Fledermaus vorgeht, wenn wir verstehen könnten, wie sie mithilfe des Echolots Gegenstände wahrnehmen kann, wenn wir all das erklären könnten, wüssten wir trotzdem nicht, wie es sich für die Fledermaus anfühlt, genau das zu tun, diese Wahrnehmung von sich und der Welt zu haben. Die größten Fledermaus-Fachleute werden nie wissen, wie es für eine Fledermaus ist, genau diese Fledermaus zu sein.

Das trifft auf jede Wahrnehmung zu, egal ob autistisch, nicht-autistisch oder Fledermaus. Vielleicht gibt es sie tatsächlich, die Menschen, die sich mit autistischen Gehirnen auskennen und die neurologischen Vorgänge verstehen und ausgezeichnet erklären können. Aber dennoch wird keiner von ihnen je wissen, wie es sich für einen autistischen Menschen anfühlt, autistisch zu sein. Ich kann immer nur den Versuch unternehmen, Ihnen zu erklären, wie es für mich ist mit meinem Autismus zu leben. Über die Autismen anderer Menschen, selbst über Elijahs Autismus, kann auch ich nur Vermutungen anstellen.

Autismus ist keine Wahrnehmungsstörung, sondern eine andere, eine verzerrte Wahrnehmung. Um uns verbal effektiv über unsere Wahrnehmungen austauschen zu können, bräuchte es eine Art neuronales Kabel, mit dem wir unsere Gehirne verbinden könnten. Hätten wir dann den gewünschten Aha-Effekt? Dann könnten wir auch herauszufinden, wie es sich für Udo Lindenberg anfühlt, Udo Lindenberg zu sein.

Nicht-autistische Menschen können mit einer ziemlich hohen Genauigkeit von sich auf Andere schließen. Ähneln sich ihre Wahrnehmungen oder können sie sie aneinander anpassen? Dies kann aber immer nur auf der Basis der Annahme geschehen. Das ist den meisten Menschen nicht bewusst. Sie gehen davon aus, dass ihre Mitmenschen aufgrund der ähnlichen Reaktionen auch eine ähnliche Wahrnehmung haben. Sie wissen schon vorher, wie ein Mensch reagieren wird, wenn er in eine Zitrone beißt. Sie können sich gut vorstellen, wie es sich für einen anderen Menschen anfühlt, wenn er lacht oder weint. Oft, ohne groß nachdenken zu müssen, können Sie die Ursachen und Gründe für das Verhalten Ihrer Mitmenschen erahnen.

Die Fähigkeit, sich in ein Gegenüber hineinversetzen zu können, ist Grundvoraussetzung dafür, in einer Gesellschaft gut leben zu können. Sie bildet die Basis jeder Gemeinschaft. Dieses Wundermittel wird Theory of Mind genannt. Theory of Mind zu haben bedeutet, sich bewusst zu sein, dass andere Menschen mentalistische Zustände wie Gefühle, Wünsche, Erwartungen, Ideen, Absichten und Ansichten haben und dass diese sich von den eigenen unterscheiden können. (Lesen Sie mehr dazu in Kapitel 11) Haben Sie Theory of Mind, sind Sie in der Lage, sich diese mentalistische Zustände vorstellen zu können, sowohl in der eigenen Person als auch im Gegenüber. Sie können sich in andere Menschen hineinversetzen und sich vorstellen, wie es für sie ist, wenn sie Dinge sehen, schmecken, fühlen, hören, sagen oder tun, indem Sie dies mit dem eigenen Empfinden und Verhalten in ähnlichen Situationen vergleichen. Das Empfinden, also die Wahrnehmung eines anderen Menschen, bleibt Ihnen aber trotz der Fähigkeit zur Theory of Mind verborgen. Es ist das Verhalten, welches als Vergleichsgegenstand herangezogen wird.

Merke! Theory of Mind ist also immer nur eine Annahme, eine Vermutung. Nur von mir selbst kann ich wissen, was ich wann, wie und warum denke, fühle, tue und wie es mir dabei geht!

Im Zusammenleben von autistischen und nicht-autistischen Menschen zeigt sich, dass die Fähigkeit zur Theory of Mind und deren Anwendung immer wieder zu großen Problemen im Miteinander führt. Autistische Menschen reagieren anders als das Gegenüber es aufgrund seiner ToM Fähigkeit erwartet und deshalb kommt zu den großen Schwierigkeiten in der Begegnung. Nicht-autistische Menschen bleiben oftmals ratlos und kopfschüttelnd zurück. Vor allem dann, wenn nicht bekannt ist, dass das Gegenüber Autist:in ist und was das bedeutet. Solche Erfahrungen führen unweigerlich zu Unverständnis und letztendlich zu Ablehnung. Autistische Menschen erleben das leider auch dann noch, wenn das Umfeld von ihrem Autismus weiß.

Man kann sagen, dass Theory of Mind im Umgang mit autistischen Menschen nicht gut bis gar nicht funktioniert. Nicht-autistische Menschen müssen sich im Umgang mit autistischen Menschen immer wieder bewusst machen, dass sie sich jetzt überhaupt nicht mehr auf ihre Theory of Mind verlassen können. Das Modell der Welt im Kopf eines autistischen Menschen ist ein völlig anderes und führt zu unerwartetem Verhalten. Das nicht-autistische Modell der Welt ist, weil es erfolgreich ist, in Serienproduktion gegangen, während das autistische immer als Einzelstück oder streng limitierte Auflage erscheint.

Eine Frage: Mögen Sie Bauchredner? Wir wissen, wie Sprache entsteht und wie Sprechen funktioniert. Uns ist klar, dass uns nicht die Puppe, sondern die Puppenspielerin mit ihren Worten zum Lachen bringt. Das ist die Realität. Dennoch entsteht bei uns schnell der Eindruck, dass die Puppe zu uns spricht. Das ist unsere Wahrnehmung. Warum ist das so? Unser Sehsinn dominiert über den Hörsinn. Wir sehen: eine Puppe mit übergroßem Mund, der sich bewegt. Wir hören eine Stimme, deren Worte zu der...

Erscheint lt. Verlag 6.12.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Geisteswissenschaften Psychologie Persönlichkeitsstörungen
ISBN-10 3-7583-9707-3 / 3758397073
ISBN-13 978-3-7583-9707-3 / 9783758397073
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