Rhetorik der Säkularisierung (eBook)

Über eine Denkfigur der Moderne
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2024 | 1. Auflage
243 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45648-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rhetorik der Säkularisierung -  Daniel Weidner
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»Säkularisierung« ist ein so wichtiger wie umstrittener Begriff zur Selbstverständigung westlicher Gesellschaften - er meint sowohl das Verschwinden der Religion in der Moderne als auch deren Verwandlung. Daniel Weidner zeigt, wie im 20. Jahrhundert von Säkularisierung gesprochen wurde und wie zentral diese Überlegungen für das philosophische, theologische, soziologische und kulturelle Selbstverständnis waren. Dabei erweist sich Säkularisierung weniger als klares Konzept denn als Denkfigur, die gerade durch ihre Rhetorik - durch Metaphern und Mehrdeutigkeiten - in der Lage ist, das ambivalente Verhältnis der Moderne zur Religion zum Ausdruck zu bringen.

Daniel Weidner ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg.

Daniel Weidner ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg.

1.Vier Entwürfe (Taylor, Agamben, Asad, Habermas)


Die Wiederkehr der Rede von der Säkularisierung in den öffentlichen Diskurs hat den Ausdruck nicht präziser gemacht haben – eher im Gegenteil. Je mehr in den letzten Jahrzehnten über Säkularisierung gesprochen wurde, desto unübersichtlicher wurden die Diskussionen. Denn nicht nur war man sich uneinig, wie man Säkularisierung eigentlich beschreiben könne, woran man sie festmache, seit wann es sie gebe und wie und von wem sie zu bewerten sei. Der Ausdruck wird auch in ganz verschiedenen Grammatiken verwendet, wie sich das schon bei Habermas abzeichnet – als Prozess, Resultat, Aufgabe etc. –, deren Differenzen in der Diskussion oft vergessen werden. Man redet leicht aneinander vorbei, man ist sich zwar einig, dass ›die Frage der Säkularisierung‹ wichtig ist – aber jeder versteht darunter etwas anderes.

Wie unübersichtlich heute die Diskussion ist, kann man an vier wichtigen Entwürfen veranschaulichen, die alle neu und alle anders von Säkularisierung reden. Der kanadische Philosoph Charles Taylor denkt im 2007 erschienenen A Secular Age darüber nach, was es eigentlich bedeutet, in einer ›säkularen‹ Welt zu leben und warum wir diese Frage selten stellen. Letzteres liege wohl an der »Subtraktionserzählung«, die unser Verständnis der Moderne bestimme; nach ihr war die Religion nur ein Firnis des falschen Bewusstseins, nach dessen Abtragung die Wirklichkeit als solche sichtbar geworden sei. Gegen dieses Selbstbild betont Taylor, dass sich zwar in der Moderne die »Bedingungen der Gläubigkeit« radikal gewandelt haben – weil heute ein religiöses Welt- und Selbstverständnis eher die Ausnahme als die Regel sei –, dass Religion aber trotzdem fortbestehe und vor allem auch Spuren hinterlassen habe, ohne die man die Gegenwart nicht verstehen könne: »Unsere westlichen Gesellschaften werden in historischer Hinsicht für immer christlich geprägt bleiben.«12 Taylor erzählt daher auf vielen hundert Seiten die Geschichte nach, wie schon im Mittelalter religiöse Reformen Ideen wie etwa die der ›Subjektivität‹ und der ›Innerlichkeit‹ entworfen haben, die uns heute säkular erscheinen, die aber in ihrer gegenwärtigen Form erst in mehreren Schritten aus jenen religiösen Reformen hervorgegangen seien. Taylor spricht also über Säkularisierung als Transformationsgeschichte, ohne freilich den Ausdruck zu explizieren oder Bezug auf die umfänglichen Diskussionen darüber zu nehmen – so zentrale Autoren wie Max Weber, Ernst Troeltsch und Karl Löwith kommen auf den gut tausend Seiten nicht vor. Sein Entwurf zeigt, wie produktiv die Frage nach einer christlichen Prägung sein kann – zugleich zeigt er aber die Gefahr einer ›großen Erzählung‹, die sich allzu sehr auf den Schwung ihrer ein Jahrtausend umfassenden Geschichte verlässt und sich bezeichnenderweise auch nur für das Christentum interessiert.

Auch der italienische Philosoph Giorgio Agamben fragt in seinem seit 1995 erscheinenden Homo Sacer-Projekt nach religiösen Vorgeschichten, mit denen er etwa zeigen will, dass die moderne Vorstellung staatlicher Souveränität auf Ideen von göttlicher Allmacht zurückgehe – allerdings ist sein Unternehmen in Gehalt und Orientierung dem von Taylor fast entgegengesetzt.13 Denn zum einen geht es ihm weniger um die Werte liberaler Gesellschaften, sondern um die hinter ihnen stehenden Machtstrukturen: auch die modernen liberalen Gesellschaften funktionierten im letzten durch Exklusion etwa von Staatenlosen oder Flüchtlingen, die auf das Muster archaischer Opferrituale zurückgingen. Zum anderen ist für ihn die ›Säkularisierung‹ weniger eine Transformation als eine Verbergung: »eine Form von Verdrängung, welche die Kräfte weiterwirken läßt und sich auf deren Verschiebung von einem Ort zum andern beschränkt. So macht die politische Säkularisierung theologischer Begriffe (die Transzendenz Gottes als souveräne Macht) nichts anderes, als die himmlische Monarchie auf die Erde zu versetzen, läßt deren Macht aber unangetastet.«14 Agambens »theologische Genealogie« betont dabei immer wieder, dass auch moderne politische Ordnungen letztlich ›grundlos‹ seien, das heißt auf Voraussetzungen beruhen, die sie selbst nicht ausweisen können – allerdings geschieht das ironischerweise in einem orakelnden Ton der Grundsätzlichkeit und Grundlegung, der alle Züge des Dogmatismus trägt.15 Wie wir noch sehen werden (s.u. Kapitel 15), zeigt die ›Politische Theologie‹, der Agamben hier folgt, wie fruchtbar das Selbstbild der säkularen und liberalen Gesellschaft von der Religion aus kritisiert werden kann – dass das aber zugleich leicht in einem hochgradig idiosynkratischen Diskurs geschieht, der zwischen Theologie, Metaphysik und Politik changiert.

Auch der Ethnologe und Religionswissenschaftler Talal Asad geht in seinem 2003 erschienenen Projekt einer »Ethnologie des Säkularen« von der Gegenwart aus; er untersucht die Implikationen und die Geschichte des ›Säkularismus‹, also der Ansicht, dass Privatisierung der Religion und der religiöse Pluralismus grundlegend für die Moderne seien und daher auch global eingefordert werden müssten.16 Diskussionen über die ›Universalität‹ solcher Menschenrechte werden allerdings, so Asad, oft in einem asymmetrischen und postkolonialen Kontext geführt, wobei die Forderung des Säkularismus die Hegemonie des ›Westens‹ zugleich voraussetze und bestätige. Schon die Vorstellung einer (privaten, innerlichen) Religion sei tief durch westliche, christliche und protestantische Vorannahmen geprägt, und ein Blick auf die »Genealogie des Säkularismus« zeige, dass das moderne Selbstbild des Westens immer schon auf einen ›abergläubischen‹ Anderen angewiesen war, den es zu bekehren, zu zivilisieren oder zu säkularisieren aufgerufen sei. Der aktuelle Konflikt mit ›dem Islam‹ folge diesem Muster und sei letztlich auch durch eine innere Krise des Westens zu erklären: Wo die spätmoderne Beschleunigung es dem Einzelnen immer schwerer mache, sich als kohärentes, autonomes Individuum wahrzunehmen, werde dieser Anspruch nach außen umso vehementer in humanitären Interventionen vorgetragen. Asads Unternehmen macht deutlich, dass das moderne Selbstbild wesentlich durch Fremdprojektionen bestimmt ist und die Rede von Säkularisierung auch dazu dient, »Deutungsmacht« über den anderen zu gewinnen – auch wenn Asad selbst nur selten von Säkularisierung spricht, die religiöse Geschichte des ›Westens‹ weitgehend ignoriert und daher ›das‹ westliche Konzept der Religion als viel zu homogen darstellt.

Schließlich hat auch Jürgen Habermas die in der Paulskirchenrede gegebenen Stichworte von der »postsäkularen« Gegenwart und der »unabgeschlossenen Dialektik des abendländischen Säkularisierungsprozesses« zu einem historischen Entwurf entwickelt, der denjenigen Taylors an historischer Reichweite wie an Umfang noch übertrifft: Auch eine Geschichte der Philosophie, 2019 erschienen, wiederholt den Anspruch, »dass die Philosophie in Ihrem Verhältnis zur religiösen Überlieferung ihr säkularistisches Selbstverständnis überprüfen muss«, begnügt sich aber nicht mit der isolierten Übersetzung einzelner religiöser Gehalte, sondern will die Entwicklung des Verhältnisses von Glauben und Wissen in der »okzidentalen Tradition« immerhin seit der »Achsenzeit« rekonstruieren.17 Auch Habermas fragt von der Gegenwart aus, von der aktuellen Paradigmenkonkurrenz von naturalistischem und transzendentalen Ansätzen in der nachmetaphysischen Philosophie. Auch Habermas bezeichnet sein Projekt als »Genealogie«, aber anders als etwa bei Agamben soll diese Genealogie nicht subversiv oder kritisch sein, sondern schlicht die Frage stellen, »ob die Philosophie aus der begrifflichen Osmose ihrer Verschwisterung mit der Theologie ein Erbe geltend machen kann, das über die Schwelle der methodischen Trennung von Glauben und Wissen hinaus zählt«, ob sich also »eine Fortsetzung dieses Diskurses im Hinblick auf die Übersetzung möglicher unausgeschöpfter Wahrheitsgehalte religiöser Überlieferung empfiehlt«.18 Habermas will die moderne Philosophie weniger in Frage stellen als erweitern, indem er die semantischen und gedanklichen Reserven nutzbar macht, die innerhalb der religiösen Überlieferung vor allem im performativen Modus des Rituals entwickelt worden sind. Ähnlich wie Taylor zeigt Habermas, dass auch der »Westen« eine komplexere religiöse Geschichte...

Erscheint lt. Verlag 17.1.2024
Reihe/Serie Religion und Moderne
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte 20. Jahrhundert • Allegorie • Carl Schmitt • Charles Taylor • Entmythologisierung • Entzauberung • Ernst Troeltsch • Friedrich Gogarten • Giorgio Agamben • Hans Blumenberg • Jürgen Habermas • Karl Barth • Karl Löwith • Max Scheler • Max Weber • Metapher • Metaphorologie • Moderne • Philosophie • Politische Theologie • Religion • Religionswissenschaft • Religion und Moderne • Rudolf Bultmann • Säkularisierung • Säkularismus • Soziologie • Talal Asad • Theologie • Verschwinden der Religion in der Moderne • Walter Benjamin
ISBN-10 3-593-45648-6 / 3593456486
ISBN-13 978-3-593-45648-5 / 9783593456485
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