Vorträge und Aufsätze 1930-1938 -  HANNAH ARENDT

Vorträge und Aufsätze 1930-1938 (eBook)

(Autor)

Thomas Meyer (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
368 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60699-8 (ISBN)
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Die Entwicklung einer großen Denkerin In einer vollkommen neuen Edition ausgelegt auf vier Bände werden die einzelnen Texte und Vorträge Hannah Arendts veröffentlicht. Entstehen soll eine Studienausgabe, die alle deutschen Arbeiten Arendts neben ihren großen Monografien eint. Die Texte werden in chronologischer Reihenfolge von Thomas Meyer herausgegeben und jeweils mit einem ausführlichen Nachwort verschiedener Wissenschaftler:innen versehen, die Arendts Denkweg einordnen. So wird auf ganz eigene Art und Weise die Intellektuelle Entwicklung einer großen Denkerin nachgezeichnet. Band eins umfasst alle Einzelschriften von 1930-1938.

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.

2 Rilkes »Duineser Elegien«[45]


von Hannah Arendt und Günther Stern

Erschienen 1930 in der Neuen Schweizer Rundschau

»Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?«

Echolosigkeit und das Wissen um die Vergeblichkeit ist die paradoxe, zweideutige und verzweifelte Situation, aus der allein die Duineser Elegien zu verstehen sind. Dieser bewußte Verzicht auf Gehörtwerden, diese Verzweiflung, nicht gehört werden zu können, schließlich der Wortzwang ohne Antwort ist der eigentliche Grund der Dunkelheit, Abruptheit und Überspanntheit des Stiles, in dem die Dichtung ihre eigenen Möglichkeiten und ihren Willen zur Form aufgibt.

Vor einer derart kommunikationentfremdeten Dichtung entsteht die grundsätzliche Frage, wie weit sie noch verstanden sein will, wie weit sie verstanden werden kann, d. h. für uns: wie weit Interpretation noch erlaubt ist. Diese in der Sache selbst liegende Schwierigkeit zeigt sich am eindeutigsten in der 5. Elegie, in der jede Sinnkonstruktion und jedes nachträgliche Brückenschlagen von Zeile zu Zeile unmöglich wäre, da die Bildassoziationen in ihrer unnachvollziehbaren Einmaligkeit und Situationsabhängigkeit einem völligen Belieben anheimgegeben sind. Methodisch möglich bleibt hier allein, den Hintergrund des Gestimmtseins, gleichsam die Tonart, die als einzige Einheit feststeht, deutlich zu machen. Aus dieser Einheit tauchen die einzelnen Zeilen zusammenhanglos und inselhaft auf; ihre Umstellung wäre durchaus denkbar. Trotz dieser völligen Beliebigkeit, trotz des Mangels an einem zeitlich unumkehrbaren Prozeß, trotz der Gleichzeitigkeit der Bilder häuft sich die Dichtung doch nicht zu einer sinnlosen Assoziationsmenge. Denn alles Einzelne und in dieser Vereinzelung nicht zu Verbindende beruht auf dem Grunde des eigentlich zu Sagenden, der die isolierten Bilder erst herauftreibt. Dieser Grund ist hier die Vergeblichkeit, von der aus jedes einzelne Bild nur eines ist unter unendlich vielen möglichen, und das von sich aus andere mit sich zieht.

Bei dem religiösen Sinn der Elegien bedeutet unverbundenes Nebeneinander zugleich Unverbindlichkeit. Diese zusammen mit der eingestandenen Echolosigkeit (die wiederum nur als Dichtung sich äußern kann), macht die eigentümlich zweideutige Situation der Elegien aus. So ist diese Dichtung zwar religiös bestimmt, aber kein religiöses Dokument. Bezeichnend dafür ist die merkwürdige Tatsache, daß für »Gott« zumeist Zwischenschichten eintreten, die »Engel« oder die »Toten«, oder in äußerster Unbestimmtheit ein »Man« (»denn man ist sehr deutlich mit uns« 4. El.). Daß die eigentlich religiöse Kategorie in völliger Unbestimmtheit belassen wird, bedeutet eine Rückbesinnung auf das Religiöse. Die Macht Gottes wird zwar verspürt, aber wer und wo der Mächtige sei, verbleibt in der Antwort nicht mehr erhoffenden Frage. Diese Frage geht dennoch an ihrer Antwortlosigkeit nicht zugrunde, sie lebt als Unruhe weiter und schlägt in endgültige Verzweiflung an der Treffbarkeit Gottes um. Im Unterschied zu jeder unverbindlichen Religiosität, die mit ihrem eigenen Gefühl zufrieden, auf einen persönlichen Gott verzichten zu können glaubt, sichert sich Rilke in der Unbestimmtheit des »Man« ein letztes Residuum des Objektiven. Hieraus entspringt die einzigartige Einschätzung der Verzweiflung und der Schmerzen, die nicht (wie etwa noch bei Kierkegaard) Gefahr und »Ärgernis« des Religiösen sind, sondern umgekehrt zu der religiösen Situation schlechthin werden: von Gott geschlagen sein, es zu wissen, ja noch zu rühmen, wird zu der letzten Möglichkeit, Gott zu erfahren.

»Daß ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht,

Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln.

Daß von den klargeschlagenen Hämmern des Herzens

keiner versage an weichen, zweifelnden oder

reißenden Saiten. Daß mich mein strömendes Antlitz

glänzender mache: daß das unscheinbare Weinen

blühe. O wie werdet ihr dann, Nächte, mir lieb sein,

gehärmte. […] Sie (sc. die Schmerzen) […] sind ja

unser winterwähriges Laub, unser dunkeles Sinngrün,

eine der Zeiten des heimlichen Jahres –, nicht nur

Zeit –, sind Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort.«10. El.

 

Trotz ihrer religiösen Zweideutigkeit ist die Rilke’sche Welt wie jede echte religiöse eine akustische.[46] Niemals sind »Rang« oder »Engel«, allgemeiner das »stärkere Dasein« (1. El.) für Rilke objekthafte Gesichte; jedenfalls verlegt er jede direkte und visionäre Begegnungsmöglichkeit des Engels in ein unserer Zeit und ihren Möglichkeiten grundsätzlich vorausliegendes Zeitalter:

»[…] Wohin sind die Tage Tobiae,

da der Strahlendsten einer stand an der einfachen Haustür,

zur Reise ein wenig verkleidet und schon nicht mehr furchtbar;

(Jüngling dem Jüngling, wie er neugierig hinaussah).

Träte der Erzengel jetzt, der gefährliche, hinter den Sternen

eines Schrittes nur nieder und herwärts: hochauf-

schlagend erschlüg uns das eigene Herz […]« 2. El.

 

Was nun ihm, dem vergeblich Lebenden, allein noch hörbar bleibt, ist das »Wehende« zwischen den Rängen. Das Hören bindet sich so wenig an ein Objekt, daß es gerade erst umgekehrt »seine ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet« (1. El.) erhält, wenn die Objekte sich verlieren und verwehen: es ist nicht ein jeweiliges Hören einer artikulierten Nachricht, sondern die Inständigkeit des Herzens (»Höre, mein Herz«), also ein Seinsmodus (»so waren sie hörend«, 1. El.). Diese Inständigkeit setzt ebensowenig wie die Inständigkeit des Gebetes, mit der sie eigentlich identisch ist, schon die Gegenwart der antwortenden Stimme voraus, sondern ist in ihrer Intensität unabhängig von deren Gegenwart; ja das Hörendsein ist soweit schon seine eigene Erfüllung, daß es selbst der Erhörung seiner Inständigkeit nicht mehr achtet.

»[…] Höre, mein Herz, wie sonst nur

Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf

aufhob vom Boden; sie aber knieten,

Unmögliche, weiter und achteten’s nicht:

so waren sie hörend […]« 1. El.

 

Was Rilke in seiner religiös entfremdeten Situation, in der er »Gottes Stimme bei weitem nicht mehr ertrüge«, in der er »verginge von seinem stärkeren Dasein«, noch zu retten sucht, ist diese Inständigkeit des Hörens, dieses Im-Hören-sein. Heute braucht das Im-Hören-sein Bedingung und Gelegenheit. An die Stelle der völligen Objektlosigkeit, der unser Herz nicht mehr gewachsen ist, tritt als Gelegenheit das Schwinden des Objektes, dem wir lauschend nachgehen: das Wehen aus der »Lücke«, die der Sterbende im Übergang aus unserm Dasein zum »stärkeren«, aus einem Rang zum anderen in den Kreis der Lebenden reißt. Der »andere Bezug« (9. El.) wird nun nicht mehr erfahren, nur noch der Hingang zu ihm, den wir hören im Vermissen eines eben Hingegangenen. (»Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir.«)

Durch die Aussichtslosigkeit, unmittelbar die Transzendenz zu erfahren, erhält der Sterbende in seinem Transzendieren von einem Dasein ins andere grundsätzliche religiöse Bedeutung: er wird einer der Vermittler und eine der Bedingungen, um die Existenz des »andern Bezuges« zwar nicht mehr zu erfahren, aber von ihr gerade noch zu hören. In diesem Hören auf den entweichenden Toten schwinden wir mit, erreichen zwar den andern Bezug nicht (»Und das Totsein ist mühsam und voller Nachholn, daß man allmählich ein wenig Ewigkeit spürt.«), sind aber bereits unserer menschlichen Erde entfremdet und schweben zweideutig zwischen einem Nicht-mehr und einem Noch-nicht:

»Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen,

kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben,

Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen

nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben;

..............

Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen. Seltsam,

alles, was sich bezog, so lose im Raume

flattern zu sehen. […]« 1. El.

 

Obwohl für Rilke menschliches Dasein und menschliches Rufen heute grundsätzlich in der Vergeblichkeit bleibt, versteht sich...

Erscheint lt. Verlag 3.5.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Arendt • Arendts Denken • Aufsätze • Entwicklung des Denkens • Entwicklung einer großen Denkerin • Gesellschaft • Hannah Arendt • Monographien • Philosophie • Philosophin • Thomas Meyer • Vordenkerin • Vorträge
ISBN-10 3-492-60699-7 / 3492606997
ISBN-13 978-3-492-60699-8 / 9783492606998
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