Weißsein als Privileg. The Privilege Papers -  Peggy McIntosh

Weißsein als Privileg. The Privilege Papers (eBook)

[Was bedeutet das alles?]
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
112 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962251-4 (ISBN)
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In ihren mittlerweile zu Klassikern avancierten Privilege Papers zeigt Peggy McIntosh, dass vielen ?weißen? Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind, die eigenen Privilegien als nicht nennenswert erscheinen, sondern als individuelle, geradezu unsichtbare Zufälligkeiten. McIntosh fragt danach, wie mit der ?Schuld? des »weißen Privilegs« reflektiert umgegangen werden kann, und sie legt offen, wie wichtig es ist, die systemischen Mechanismen von Diskriminierung zu erkennen und gegen sie vorzugehen. Yasemin Dinçer hat die 'Privilege Papers' erstmals ins Deutsche übersetzt. Mit einem instruktiven Nachwort von Markus Rieger-Ladich.

Peggy McIntosh, geb. 1934, ist US-amerikanische Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin. Sie hat den Begriff »White Privilege« geprägt - berühmt ist etwa ihre »Privilegien-Checkliste«, die als Grundlagenwerk bei Antirassismus-Workshops eingesetzt wird. Yasemin Dinçer, geb. 1983, hat u. a. Saidiya Hartman, Olivette Otele und Minna Salami aus dem Englischen ins Deutsche übertragen und mehrere Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds erhalten. Markus Rieger-Ladich, geb. 1967, ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Lehraufträge führen ihn u. a. nach Basel, Zürich und Tokio, und er schreibt politische Feuilletons für das Online-Magazin rauchzeichen.

Peggy McIntosh, geb. 1934, ist US-amerikanische Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin. Sie hat den Begriff »White Privilege« geprägt – berühmt ist etwa ihre »Privilegien-Checkliste«, die als Grundlagenwerk bei Antirassismus-Workshops eingesetzt wird. Yasemin Dinçer, geb. 1983, hat u. a. Saidiya Hartman, Olivette Otele und Minna Salami aus dem Englischen ins Deutsche übertragen und mehrere Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds erhalten. Markus Rieger-Ladich, geb. 1967, ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Lehraufträge führen ihn u. a. nach Basel, Zürich und Tokio, und er schreibt politische Feuilletons für das Online-Magazin rauchzeichen.

Ein Brief zu den Privilege Papers


Liebe Leserin, lieber Leser,

wann immer ich über Privilegien spreche, lautet hinterher die häufigste Frage aus dem Publikum: »Wie kam es dazu, dass Ihnen spezifisch weiße Privilegien auffielen?« Für den Fall, dass es auch Sie interessiert, werde ich diese Frage im Folgenden beantworten. Es ist keine angenehme Geschichte, aber sie hat mein Leben ungemein zum Besseren verändert. Was daran so unangenehm war? Aus dem Gleichgewicht zu geraten, meine wichtigsten Annahmen über mich selbst und über andere Menschen über Bord werfen und mein Gefühl dafür, wer, was und wo ich bin, anpassen zu müssen. Aber letzten Endes haben diese Veränderungen mein Leben auf ein neues, besseres Fundament gestellt.

In drei aufeinanderfolgenden Jahren (1982 bis 1985) kam es an meiner Arbeitsstelle, dem Wellesley College Center for Research on Women, in einem von mir geleiteten Seminar zu einer Art Streit zwischen den Männern und Frauen. Die Teilnehmer:innen des Seminars waren Hochschullehrer:innen aus ganz New England sowie aus New York, New Jersey und Connecticut. Wir trafen uns während eines Studienjahres einmal im Monat. Die Männer, die an diesen Seminaren teilnahmen, waren nette Menschen und obendrein mutig, schließlich kamen sie an ein Frauencollege, um über unser feministisches Thema zu diskutieren: die aktuelle Frauenforschung und wie diese in alle Liberal-Arts-Disziplinen eingebunden werden könnte, darunter auch Mathematik und Naturwissenschaften.

Jeden September begannen wir in bester Verfassung mit zweiundzwanzig Männern und Frauen, die einander wertschätzten und die allesamt dieses unendlich interessante Thema wertschätzten. Jedes Jahr beschrieben ein paar von uns Hochschullehrer:innen, wie wir Materialien zu Frauen bereits in unsere Kurse am College einfließen ließen. Aber jedes Jahr stellten auch ein paar der Frauen die Frage, weshalb wir Materialien zu Frauen nicht bereits in die Einführungskurse integrieren konnten.

Damals machte ich mir eine Menge Notizen. Ein Mann beantwortete diese Frage folgendermaßen: »Wenn man versucht, die Grundsteine für Wissen zu legen, hat soft stuff [etwas Schwammiges oder Weiches] keinen Platz.« Wie alle anderen von uns hatte er viele Bücher und Artikel in Fachzeitschriften über Women’s Studies gelesen, aber sein Kommentar zeigte, dass er nach wie vor alles, was mit Frauen zu tun hatte, als soft empfand. Er war ein ausgesprochen netter Mann. Ich schrieb seinen Kommentar auf. Niemand von uns stellte das von ihm gebrauchte Wort soft infrage.

In dem Seminar zwei Jahre darauf sagte eine Dozentin, sie wolle nicht, dass Studierende auf ein feministisches Seminar im letzten Studienjahr warten müssten, um Materialien zu Frauen zu lesen. Daraufhin erklärte ein weiterer sehr netter Mann, weshalb Materialien zu Frauen in Kursen für Studienanfänger:innen nicht berücksichtigt werden könnten. Er sagte: »In diesem ersten Jahr versuchen die Studierenden, sich für ein Hauptfach zu entscheiden. Das ist ihre Disziplin. Wenn Studierende so denken sollen, wie ihr Fach es vorsieht, haben Extras keinen Platz.« Liebe Leserin, lieber Leser, sollten Sie vor den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geboren worden sein, wird es Sie wohl kaum wundern, dass niemand der zweiundzwanzig Hochschullehrer:innen in der Gruppe seine Wortwahl infrage stellte. Dieser Mann war, wie jeder andere Mensch in der Weltgeschichte, von einer Frau geboren worden, aber irgendwie war er so gepolt, dass er die Person, die ihn geboren und ihm sein Leben geschenkt hatte, als ein »Extra« betrachtete. Ich fragte mich, was wohl mit seinem Verstand angestellt worden war, dass er unsere Hälfte der Bevölkerung ausblendete. Da mir die Worte fehlten, schrieb ich auch seinen Kommentar lediglich auf.

Allerdings hatte ich damals das Gefühl, ich müsse mich entscheiden, ob diese Männer nett oder aber unterdrückerisch waren. Ich wusste, dass sie nette Männer waren und mutige obendrein, da sie dieses fünfstündige feministische Seminar besuchten und jeden Monat viele Stunden für die An- und Abreise aufwendeten. Ich wusste, dass sie nett waren, aber ihre Kommentare führten dazu, dass ich mich unterdrückt fühlte. Mir war noch nicht in den Sinn gekommen, dass Menschen nett (sogar mutig) und unterdrückerisch zugleich sein konnten. Ein paar Jahre lang verwirrte mich dieser Umstand, aber dann erinnerte ich mich plötzlich zurück an das Jahr 1979, als ich das Statement des Combahee River Collective von 1977 gelesen hatte. Darin erklärten die brillanten schwarzen Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen, »dass die Hauptunterdrückungssysteme miteinander verschränkt sind« (The Combahee River Collective 2019, S. 48). Weiter schrieben sie:

Ein Thema, welches uns ein großes Anliegen ist und welches wir begonnen haben, in öffentlichen Räumen anzusprechen, ist Rassismus in der weißen Frauen*bewegung. Als Schwarze Feministinnen* wird uns ständig schmerzlich bewusst gemacht, wie wenig sich weiße Frauen* bemüht haben, ihren Rassismus zu verstehen und zu bekämpfen. Dies erfordert unter anderem, dass sie ein tieferes Verständnis von Race, Hautfarben und Schwarzer Geschichte und Kultur entwickeln. (Ebd., S. 59)

Sie implizierten damit, dass nicht manche weiße Frauen, sondern weiße Frauen als gesamte Gruppe in der Zusammenarbeit unterdrückerisch agierten. Ich hörte schwarze Frauen auf Konferenzen und in den Fluren der Colleges rund um Boston diese Empfindung teilen. Meine erste Reaktion, so erinnerte ich mich nun, war eine Art inneres Klagen gewesen: »Ich verstehe nicht, wie sie so etwas über uns sagen können – ich finde, dass wir nett sind.« Und meine zweite innere und unausgesprochene Reaktion war ganz und gar rassistisch: »Ich finde vor allem, dass wir nett sind, wenn wir mit ihnen zusammenarbeiten.«

Mir wurde nun bewusst, dass ich einen Dank dafür erwartete, wenn ich mit Menschen zusammenarbeitete, auf die herabzublicken man mich gelehrt hatte. War ich aus diesem Grund in der Zusammenarbeit unterdrückerisch? Ich brauchte zwei Jahre des Zauderns, ehe ich mich schließlich mit der Antwort abfand: Ja, ich war in der Zusammenarbeit mit schwarzen Frauen unterdrückerisch. Ich hatte meinen Rassismus zu verbergen gehofft, indem ich nett war – nein: sehr nett. Nun musste ich zugeben, dass mein Rassismus natürlich zu erkennen war. Mir kam der Gedanke, dass schwarze Frauen wahrscheinlich deshalb mit mir zusammenarbeiteten, weil ich es zumindest zu versuchen schien. An der University of Denver hatte ich schwarze Frauenliteratur gelehrt, aber ich hatte nichts darüber gelehrt, wie die Systeme weißer Menschen die Härten und Bedingungen im Leben jener schwarzen Figuren und Autorinnen geschaffen hatten, auf die ich da meinen Blick richtete.

Mitte der achtziger Jahre erkannte ich also plötzlich diese hässliche Parallele zwischen dem unterdrückerischen Verhalten der männlichen Seminarteilnehmer und meinem eigenen rassistischen unterdrückerischen Verhalten. Das war ein unangenehmer Schlag in die Magengrube. Dann wurde mir klarer, wie es dazu gekommen ist, dass die Männer in den Seminaren so dachten. Ich kam zu dem Schluss, dass sie nette Männer waren, die einfach nur sehr gut gelernt hatten, was ihnen beigebracht worden war, nämlich einen langen Katalog von Annahmen, die sie (und ich) aus den Lehrplänen und aus der Gesellschaft aufgesaugt hatten: Männer verfügen über Wissen. Männer erschaffen neues Wissen. Männer veröffentlichen und behaupten Wissen, als Dozenten. Männer leiten die bekanntesten Forschungsuniversitäten. Männer leiten die größten Universitätsverlage. Und wir haben die Vorstellung verinnerlicht, dass Männer die Wissenden sind und das Wissen selbst männlich ist.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich angenommen, ich bekäme – anders als meine Kolleginnen of Color – für meine Arbeit an der Änderung des Lehrplans deshalb Fördergelder, weil ich bessere Förderungsanträge schrieb als sie. Nun verstand ich es plötzlich anders. Ich musste mich mit meinem eigenen langen Katalog an Annahmen über das Weißsein auseinandersetzen: Weiße Menschen verfügen über Wissen. Weiße Menschen erschaffen neues Wissen. Weiße Menschen veröffentlichen und behaupten Wissen, als Dozent:innen. Weiße Menschen leiten die bekanntesten Forschungsuniversitäten. Weiße Menschen leiten die größten Universitätsverlage. Mir wurde bewusst, dass ich die Vorstellung verinnerlicht hatte, dass weiße Menschen die Wissenden sind und das Wissen selbst weiß ist.

Es war unerträglich. Dann begriff ich etwas, woran ich bis heute glaube – dass es hier nicht um Nettsein geht. Mir fiel auf, dass das Seminar selbst von der Andrew W. Mellon Foundation finanziert wurde und dass all die Menschen, mit denen ich bei der Stiftung zu tun gehabt hatte, weiß waren. Alle Menschen, mit denen ich bei welcher Stiftung auch immer jemals gesprochen hatte, waren weiß. Mir wurde bewusst, dass ich nicht nur das gesamte Wissenssystem auf meiner Seite hatte, sondern auch das Förderungsbewilligungssystem und das Geldsystem.

Das entlarvte die Meritokratie als bloßen Mythos. Ich war aufgewachsen mit diesem Mythos der Meritokratie, der zwei Teile hat. Zum einen: Die einzige Einheit der Gesellschaft ist das Individuum. Zum anderen: Was auch immer ein Individuum bis zu seinem Tod erreicht hat, muss das sein, was dieses Individuum gewollt, wofür es sich angestrengt, was es sich erarbeitet und was es verdient hat. Meine weißen Privilegien zu erkennen, zerstörte meine Annahme, ich hätte mir alles, was ich besaß, selbst...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2024
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek – [Was bedeutet das alles?]
Nachwort Markus Rieger-Ladich
Übersetzer Yasemin Dinçer
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
Schlagworte Begünstigungen • Benachteiligung • Black lives matter • Check your Privileges • Diskriminierung • Ebenbürtigkeit • Gesellschaft • Gleichstellung • Gleichwertigkeit • Möglichkeiten • People of Color • poc • Politik • Rassismus • Soziologie • Unterdrückung • Vorteile • weißes Privileg • white privilege
ISBN-10 3-15-962251-7 / 3159622517
ISBN-13 978-3-15-962251-4 / 9783159622514
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