Wenn du schon hundert wirst, kannst du genauso gut auch glücklich sein (eBook)
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01982-9 (ISBN)
Rhee Kun Hoo ist Psychiater und einer der beliebtesten und meistverkauften Essayisten Koreas. Er wurde 1935 als einziger Sohn eines ehemaligen koreanischen Unabhängigkeitsaktivisten geboren. 1960 wurde er verhaftet und verbüßte eine Haftstrafe als einer der Studentenführer der Aprilrevolution, einer demokratischen Bewegung gegen den damaligen Diktator. Nach seiner Freilassung setzte er sich für die Veränderung des missbräuchlichen psychiatrischen Systems in Südkorea ein und war der erste, der im koreanischen Gesundheitssektor ein offenes Stationssystem und patientenfreundliche Behandlungsmethoden wie die Psychodrama-Therapie einführte. Seine Bücher haben sich in Korea insgesamt nahezu eine Million mal verkauft.
Rhee Kun Hoo ist Psychiater und einer der beliebtesten und meistverkauften Essayisten Koreas. Er wurde 1935 als einziger Sohn eines ehemaligen koreanischen Unabhängigkeitsaktivisten geboren. 1960 wurde er verhaftet und verbüßte eine Haftstrafe als einer der Studentenführer der Aprilrevolution, einer demokratischen Bewegung gegen den damaligen Diktator. Nach seiner Freilassung setzte er sich für die Veränderung des missbräuchlichen psychiatrischen Systems in Südkorea ein und war der erste, der im koreanischen Gesundheitssektor ein offenes Stationssystem und patientenfreundliche Behandlungsmethoden wie die Psychodrama-Therapie einführte. Seine Bücher haben sich in Korea insgesamt nahezu eine Million mal verkauft.
1 Niemand altert gern
Ein Menschenleben lässt sich grob in fünf Phasen einteilen: Kindheit, Jugend, junges Erwachsenenalter, mittleres Alter und hohes Alter. Jeder Übergang von einer Phase in die nächste ruft unvermeidlich Gefühle der Unsicherheit und damit verbunden Angst und Schmerz hervor. Daher haben wir für diese Wechsel von einer Lebensphase in die nächste sogenannte Übergangsrituale erfunden. Diese Rituale kündigen die Veränderung der sozialen Rolle an und helfen dabei, die damit verbundenen Ängste zu bewältigen. In der Vergangenheit waren vor allem der achtzehnte Geburtstag, Hochzeiten und Beerdigungen solche Übergangsriten, heutzutage zählen auch der Studienbeginn oder die erste feste Anstellung dazu.
Doch lassen Sie uns einmal überlegen, ob wir Rituale für den Übergang ins Alter kennen. Mir fallen nämlich keine ein. In früheren Zeiten wurde in Korea der sechzigste Geburtstag als besonderer Tag groß gefeiert, mittlerweile aber springen wir gleich zum siebzigsten Geburtstag, der allerdings, selbst wenn er gefeiert wird, eine eher stille Veranstaltung bleibt. Nach all den gesellschaftlichen Veränderungen ist es schwierig geworden, genau zu entscheiden, ab wann wir heutzutage «alt» sind. Wie wir sehen, hat sich das Konzept des Alters mit der Zeit weiterentwickelt, und ich muss sagen, dass mich das ein wenig verwirrt.
Ich hatte einen Professor, den ich immer bewunderte und der mir nahestand. Als er emeritiert war, kam er noch recht häufig in die Universitätsklinik, in der ich arbeitete, weil er sich dort regelmäßig durchchecken ließ. Eines Tages hörte ich, dass an der Klinikpforte gestritten wurde. Anfangs beachtete ich das nicht weiter, weil ich glaubte, es ginge um ein kleines Problem mit einem unzufriedenen Patienten. Als aber der Streit zu Geschrei eskalierte, verließ ich rasch mein Büro. Ich traute meinen Augen nicht: Mein emeritierter Professor brüllte die Dame an der Pforte an. Ich führte ihn in mein Büro und fragte ihn, was geschehen war. Wie sich herausstellte, war er der Meinung, die Angestellte, die ihn nicht erkannt hatte, hätte ihm nicht genug Respekt entgegengebracht.
«Ich bin hier Emeritus …»
Wenn ein Professor keine Lehrveranstaltungen mehr abhält, wird er natürlich immer seltener erkannt. Ein Universitätsbetrieb wird alle paar Jahre komplett umgekrempelt, weil ständig neue Studierende hinzukommen. Wer also erinnert sich nach einigen Jahren noch an einen emeritierten Professor, ganz gleich, wie sehr dieser Mann während seines Berufslebens geschätzt und verehrt wurde? Hinzu kommt, dass er nicht einmal der medizinischen Fakultät angehörte, sondern einer ganz anderen Abteilung – wie konnte er da der Dame an der Pforte einen Vorwurf machen?
Mein emeritierter Professor durchlebte offenbar gerade eine harte Phase, denn es fiel ihm nicht leicht, seine veränderte Rolle in der Gesellschaft zu akzeptieren. Das unerwartete Verhalten dieses angesehenen Gelehrten, den ich als Menschen sehr bewunderte, machte mich betroffen. Dass der Übergang ins hohe Alter selbst von einem so großartigen Menschen einen derart hohen Tribut forderte, war für mich ein Beweis dafür, dass der Beginn dieser neuen Lebensphase uns vor große Herausforderungen stellt. Mein eigener Ruhestand war nicht mehr allzu weit entfernt, und an jenem Tag beschloss ich, mich darin zu üben, mein Leben als alter Mann lediglich unter dem Namen Rhee Kun Hoo zu führen – ganz ohne solche Titel wie Professor oder Doktor. Ich verordnete mir eine Art Training im Altwerden.
Für meine ersten Übungen wählte ich die U-Bahn. Zunächst einmal waren die Fahrgäste in der U-Bahn Fremde, daher war es mir nicht so wichtig, was sie von mir denken würden. Und weil es bei uns in Korea Sitte ist, Sitzplätze für ältere Menschen freizumachen, würde ich genau sehen können, für wie alt meine Mitfahrer mich hielten. Ich mied in der U-Bahn die Plätze, die für Senioren bestimmt waren, und stellte mich absichtlich in die Nähe der anderen Sitzplätze. Da ich nicht während des Berufsverkehrs fuhr, mussten nur wenige Menschen überhaupt stehen. Ich schaute mich um und sah, dass ich vermutlich der älteste Mensch im Zug war. Direkt vor mir saß ein junger Mann, und ich war neugierig, ob er aufstehen und mir seinen Sitzplatz anbieten würde, so, wie es üblich ist. Aber über mehrere Stationen hinweg rührte er sich nicht. Er schloss sogar die Augen, als wollte er meinem Blick ausweichen. Das forderte mich auf seltsame Art und Weise heraus, und ich dachte: Na, mal sehen, wie lange du das aushältst!
Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, meine lieben Leserinnen und Leser, ich hatte noch nie daran gedacht, mich auch nur in die Nähe der Plätze zu begeben, die in den U-Bahnen für Alte und Behinderte reserviert sind. Ich war immer der Ansicht gewesen, dass diese Sitze für Personen bestimmt waren, die sie wirklich brauchten. Ich hatte mich auch nie berechtigt gefühlt, allein aufgrund meines fortgeschrittenen Alters und ohne wirklich körperliche Probleme oder Beeinträchtigungen zu haben, diese Sitze nutzen zu können. Und diesen Standpunkt vertrat ich auch, wenn jemand mir – oder überhaupt älteren Menschen – seinen Platz anbot. Aber jetzt, da ich erkunden wollte, wie ich als älterer Mitbürger draußen in der Welt behandelt wurde, irritierte mich das Verhalten des jungen Mannes. Und so blieb ich während der ganzen Fahrt bis zu meinem Ziel vor ihm stehen und durchbohrte ihn mit meinen Blicken.
Es war ein schockierendes erstes Experiment. Aber da ich mir nicht auf der Grundlage eines einzigen Erlebnisses eine Meinung bilden wollte, stieg ich in eine weitere U-Bahn. Dieses Mal sprang sofort ein Schüler auf.
«Großvater, bitte setzen Sie sich doch.»
Und wieder war ich schockiert. Wie bitte? Großvater? Ich stellte fest, dass ich über diesen Schüler genauso empört war wie über den jungen Mann, der nicht für mich aufgestanden war. Peinlich berührt sagte ich zu ihm: «Ist nicht nötig, ich steige an der nächsten Haltestelle aus.»
An der nächsten Haltestelle verließ ich hastig die Bahn, obwohl ich eigentlich hätte weiterfahren wollen. Leise sagte ich zu mir selbst: «Was bist du doch für ein Heuchler! Du möchtest wie ein Senior behandelt werden, aber niemand soll dich Großvater nennen, puh!»
Vor diesem Erlebnis hatte ich mich immer für einen entspannten, lockeren Menschen gehalten, dem Alter, Hierarchien oder Autoritäten herzlich egal waren. War ich nicht immer der antiautoritäre Vater, der freundliche Student und der bescheidene Arzt gewesen? Und jetzt regte ich mich über diese völlig fremden Menschen auf, weil ich fand, dass sie mich nicht meinem Alter angemessen behandelten. Ich spürte, wie meine Wangen vor Scham über diese bittere Wahrheit brennend heiß wurden. Ich war nicht anders als ein Jugendlicher, der auf seine Rechte pocht, aber seine Pflichten vernachlässigt – ich wollte zwar den gebotenen Respekt für mein Alter, aber man sollte mich nicht wie einen alten Mann behandeln. Was für eine Doppelmoral!
Seit jenem Tag arbeite ich an mir, um diese Einstellung zu verändern. Erstens war «Großvater» zu dem Zeitpunkt eine völlig richtige Bezeichnung für mich, denn ich würde ganz bald in den Ruhestand gehen. Und zweitens ist es in Südkorea üblich, Männer, die ein gewisses Alter überschritten haben, mit diesem respektvollen, freundlichen Begriff anzureden. Man spricht einander in der Regel – insbesondere in formellen Beziehungen – mit dem beruflichen Titel oder der Altersbezeichnung an. Das heißt, für jüngere Menschen bin ich selbstverständlich «Großvater», wenn nicht gar «Herr Doktor». Trotzdem hatte ich offenbar einen inneren Widerstand dagegen. Aber ob Widerstand oder nicht, ich würde weder meinen Alterungsprozess aufhalten können noch über Nacht auf wundersame Art und Weise verjüngt werden. Jetzt ging es einfach darum, die altersbedingten Veränderungen anzunehmen. Und wenn ich mein Alter nicht akzeptierte, würde ich nur mir selbst schaden und sonst niemandem. Solange ich das nicht lernte, würde ich mich jedes Mal wieder angegriffen fühlen, wenn mich jemand als «Großvater» titulierte.
Über solche Umwege kam ich dahin, mein Alter zu erkennen und es anzunehmen. Nach viel Training kann ich jetzt glücklicherweise lächeln, wenn junge Menschen mir in der U-Bahn ihren Sitzplatz anbieten, und ich vergesse nicht, mich dafür zu bedanken. Wenn sie mir keinen Sitzplatz anbieten, werde ich auch nicht mehr zornig. Ich nehme einfach an, dass sie wohl erschöpft sein müssen. Das ist der kostbare Friede, den ich nach diesem wichtigen Übergangsritus erlangt habe: Ich habe mein Alter akzeptiert.
Mir scheint, in meinen Kreisen haben viele Menschen wohl oder übel diese psychischen «Kinderkrankheiten» durchlebt. Denken Sie daran, liebe Leserinnen und Leser, es ist vollkommen normal, sich auf so widersprüchliche Weise zu ärgern – weil man einerseits nicht als alt angesehen und andererseits mit Respekt dem Alter gegenüber behandelt werden will. Falls Sie eines Tages merken, dass Sie mit diesen widersprüchlichen Gefühlen ringen, machen Sie sich keine Vorwürfe, sondern betrachten Sie diesen Kampf als Teil des Übergangsrituals. Nach diesem Übergang erwartet Sie ein friedliches Leben, das verspreche ich Ihnen.
Der Amerikaner...
Erscheint lt. Verlag | 18.6.2024 |
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Übersetzer | Sabine Schulte |
Zusatzinfo | Mit 5 s/w Zeichn. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Achtsamkeit • achtsamkeit buch • Akzeptanz • Altern • Altwerden • Anhaftungen • Bedauern • bücher selbstfindung • Bücher zum nachdenken • buch zum verschenken • Freundschaft • Generationenverhältnis • Geschenkbuch • gesund älter werden • Glücklich im Alter • Inspiration • inspirierende bücher • inspirierende Memoiren • In Würde altwerden • Lebensbericht • Lebenserfahrung • Lebensfreude • Lebenslanges Lernen • Lebensqualität im Alter • Lebensratgeber • Lebenssinn • Lebensweisheiten • Motivation • Optimierung • Persönlichkeitsentwicklung • Positive Psychologie • Psychologie des Alterns • Schuld • Selbstakzeptanz • Selbstfindung • Selbsthilfe • Selbstliebe • Vermächtnis • was bleibt • Zufriedenheit |
ISBN-10 | 3-644-01982-7 / 3644019827 |
ISBN-13 | 978-3-644-01982-9 / 9783644019829 |
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