Der nächste Redner ist eine Dame (eBook)

Die Frauen im ersten Deutschen Bundestag
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3501-5 (ISBN)

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Der nächste Redner ist eine Dame
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Die Pionierinnen des Deutschen Bundestags.

Als am 7. September 1949 die 410 frisch gewählten Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages zusammenkamen, waren darunter 28 Frauen. Während der Legislaturperiode wuchs deren Zahl auf 38, doch hatten sie es schwer, politisch in Erscheinung zu treten. Dennoch behaupteten sie sich in ihren Fraktionen und in den Ausschüssen. Die Zentrumsabgeordnete Helene Wessel wurde zur ersten weiblichen Partei- und Fraktionsvorsitzenden gewählt, die SPD-Abgeordnete Jeanette Wolff stieß als bekennende Jüdin und Holocaust-Überlebende mit ihren Forderungen nach Entschädigung der jüdischen Opfer im Parlament auf viel Unverständnis, und die Theologin und CDU-Abgeordnete Anne Marie Heiler war eine typische Hinterbänklerin und hielt am 12. Mai 1950 ihre erste Rede. 'Der nächste Redner ist eine Dame', kündigte Bundestagspräsident Erich Köhler sie an.

Mit einem Vorwort von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, 38 Kurzporträts und Texten von Helene Bukowski, Julia Franck, Shelly Kupferberg, Terézia Mora und Juli Zeh.

»Da fehlt noch Salz«


Helene Bukowski über die FDP-Abgeordnete Dr. Friederike Mulert

Blätter treiben auf dem Schlachtensee. Am Rand die ersten kahlen Bäume. Kurz zuvor hat es geregnet. Es riecht nach feuchter Erde, Schlick. Ich gehe dicht am Ufer entlang. Einmal bin ich längs durchgeschwommen. Vom Ufer im Osten zum westlichen Ufer. Zwei Kilometer. Der Sommer hatte gerade begonnen. Die Bäume grün und schwer. Dahinter die höher gelegenen Häuser. Ich beachtete sie kaum. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nichts von dir, Friederike, und dass du vor mehr als siebzig Jahren hier wohntest. Jetzt kommt es mir so vor, als würdest du neben mir laufen, während ich um den See laufe und überlege, wie ich deine Geschichte beginne und wie ich sie erzählen kann.

*

1919. Jena. Du und deine Schwester in hellen – weißen? – Sommerkleidern. Ihr seid an diesem Tag aus Danzig, eurer Heimatstadt, zurückgekehrt. Waren eure Körper nicht müde von der langen Fahrt, als ihr beschlossen habt, noch einmal hinauszugehen, über das Gelände der Universitätsklinik zu streifen? Vor dem schwarzen Brett bliebt ihr stehen. Ein junger Mann studierte neben euch die Aushänge. Er fiel dir auf durch seine hochgewachsene Statur. Aber auch wegen des ins Gesicht geschriebenen Ernstes. Er hatte keine Augen für euch, dich. Du hast ihn trotzdem im Kopf behalten. Hast du deiner Freundin Ilse von ihm erzählt? Ilse, die ihn kannte, nicht nur vom Sehen, und die ihn dir schließlich vorstellte, auf dem Korridor der Kinderklinik. Der Winter hatte bereits begonnen. Das Licht war fahl. Der junge Mann schüttelte dir die von der Kälte trockene Hand. »Martin, Friederike. Friederike, Martin.« Du musstest zu ihm aufblicken. Aber nicht wie vielleicht andere Frauen, auch du warst groß.

An deinem Geburtstag gingt ihr wandern. Ihr, das heißt Ilse, Martin, ein anderer Freund und du. Es lag der erste Schnee. Martin warf sich hinein, ruderte mit Armen und Beinen, hinterließ den Abdruck von »Adlern« im Weiß. Eine kleine Spielerei, als wäre er wieder ein Junge, als hätte er noch keinen Krieg erlebt, keinen kahlen Schädel vom Stahlhelmtragen. Schnee blieb an seinem Mantel hängen, pulverig, auch am Kragen. Wäre ich an deiner Stelle gewesen, ich hätte die Hand ausgestreckt, ihn von den Resten befreit, bevor sie schmelzen und ihm in den Nacken laufen. Aber es war eine andere Zeit, also schiebe ich deine Hände lieber in deine Manteltaschen und lasse dich Martin einen Moment länger ansehen, was fast wie eine Berührung ist. Bemerkt Martin diesen Blick?

Ein anderer Tag. Ein Abend. Ilse, Martin und du. Ihr hattet die Dunkelheit ausgesperrt. Kerzen flackerten. Ein Ofen glühte. Und Martin spielte Klavier für euch. Oder spielte er nur für dich? Noch wusstest du nicht, dass dir dieser Anblick schon bald ein vertrauter sein würde – oder ahntest du es schon?

Das Jahr neigte sich dem Ende zu. Ich sehe euch vor mir, in Gespräche vertieft, Bratäpfel essend, durch Jena gehend, schlendernd, in einer engen Gasse stehend, Schnee oder Regen, beschlagene Fenster, der Geruch von Kohle und vielleicht doch dort im Schatten eine erste, wie zufällig wirkende Berührung. Eure gemeinsame Zeit hatte ein jähes Ende, als du nach Danzig musstest, zu deiner Familie. Vorher aber gab es noch einen Abschied am Gleis. Du schautest aus dem Fenster. Stand Martin still oder folgte er dem Zug, als dieser anfuhr? Versuchte er Schritt zu halten, bis zum Ende des Bahnsteigs, um noch möglichst lange dein Gesicht zu sehen? Was belegt ist: Wenige Tage nach deiner Abreise schrieb er dir einen Brief. Die in Jena begonnenen Gespräche wurde nun schriftlich fortgesetzt. Zwischen jedem neuen Umschlag das Warten. Ich lasse dich zum Postkasten gehen, wo du nachschaust, ob ein neuer Brief gekommen ist. Oder sind es Umschläge auf der Fußmatte, die du nach deinem in Martins Handschrift geschriebenen Namen absuchst? Was ihr euch schreibt, bleibt euer Geheimnis. Sicher ist, es hat Gewicht.

Im Frühling kehrtest du nach Jena zurück. Die Kirschbäume blühten. Oder waren sie schon verblüht? Ihr traft euch im letzten Licht. Als Treffpunkt hattet ihr den Hausberg ausgemacht. Wusstet ihr, dass seine Sedimente aus Muschelkalk bestehen? Ein Stück vergessenes Meer unter deinen, unter euren Füßen. Zwei Tage später wart ihr verlobt. Und ein Jahr später: die Hochzeit. Trauen lassen habt ihr euch dort, wo du geboren wurdest – am Meer, das sich in Fußnähe befindet, sich bewegt, Wellen schlägt: Danzig. Auch bei geschlossenem Fenster hört man hier die Möwen. Du trugst ein Seidenkleid, und das, obwohl deine Mutter einen günstigeren Wollstoff wollte. Bei der Blumendekoration konntest du dich nicht durchsetzen. Es wurden keine Traubenhyazinthen verteilt. War dafür der Himmel an diesem Tag blau? Ich stelle Martin und dich in den Wind, in eine Böe, bei der ihr euch zusammendrängt, vor der Marienkirche, nach der Zeremonie, du gehalten von Martin, Martin gehalten von dir, im Kopf der Nachhall des von dir gewählten Psalms: »Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.«

Eure Hochzeitsreise war eine Wanderung. Das Laufen durch Landschaften habt ihr beide geliebt, und noch hattet ihr dafür Zeit, noch hattest du dafür Zeit. In den Seen, die ihr passiertet, spiegelte sich der Himmel. Die Tage waren »golden«. Der Frühling verschwendete sich. Und Martin ließ deine Hand nicht los. Ihr gingt jetzt zusammen durchs Leben, Seite an Seite, Mann und Frau, bald auch Arzt und Ärztin.

Noch in Jena das erste Kind. Eine Tochter. Ihr gabt ihr den Namen Dörte. 1922 zogt ihr nach Langenberg bei Gera, in ein Haus, übernahmt dort eine Praxis. 1924 kamen die Zwillinge auf die Welt: Rose und Antje. 1929 das vierte Kind: Lore. Fünf Jahre später der lang gewünschte Sohn: Thomas. Und trotz der fünf Kinder, trotz des Alltags, trotz der Arbeit gab es zwischen euch noch immer kleine Momente der Zärtlichkeit: Martin, der am Bahnhof Berlin-Friedrichstraße auf dich wartete, in der Hand einen Stauß dunkelroter Rosen. Ich stelle ihn auch an andere Bahnhöfe, aber immer mit diesen Rosen im Arm, und du steigst aus dem Zug, stürzt nicht auf ihn zu, so ungestüm bist du nicht, aber als du ihn erreichst, lasse ich dich für einen Moment innehalten, das Gesicht gegen seinen Kragen gedrückt, den vertrauten Geruch einatmend.

Und dann begann der Krieg. Es war der zweite, den ihr erleben musstet. Auch in diesen wurde Martin eingezogen, diesmal als Stabsarzt der Reserve. Einen Tag vor seiner Einberufung habt ihr euch mit den Kindern für ein Familienbild aufgestellt. Darauf Martin und du, sitzend auf einer Bank. Ihr haltet euch an den Händen. Die Berührung leuchtet hell vor Martins dunkler Uniform. Wie hast du geschlafen in der ersten Nacht allein, wie in den folgenden Nächten? Ich stelle mir vor, wie du aufschreckst in der Finsternis, wie du neben dich greifst, aber Martin liegt da nicht, also musst du das hämmernde Herz selbst beruhigen.

Wieder schriebt ihr euch Briefe. Auch besuchen konntest du ihn an der Front. Und er besuchte dich und die Kinder. Aber immer musste es einen Abschied geben, und du warst wieder allein das Familienoberhaupt. Hast du dich an diesen Zustand gewöhnt? Das Alleineschlafen? Martins Abwesenheit? Fünf Jahre ging das so. In dieser Zeit batest du immer wieder um Martins Entlassung aus dem Dienst. Die Praxis, die Gegend brauchte zwei Ärzte, es gab viel zu tun. Und da waren ja auch noch eure fünf Kinder und die Arbeit eines dritten Arztes, der auch eingezogen worden war und den du seitdem vertratst. Erst im letzten Kriegsjahr wurde deinen Bitten nachgegeben. Der Frühling begann, und Martin kehrte zu dir zurück. Ich schneide Blumen aus dem Garten und verteile sie bei seiner Ankunft überall im Haus. Die Bomben fielen weiter, aber Martin schlief jetzt wieder neben dir. Ihr standet das Jahr gemeinsam durch, ahntet längst Deutschlands Niederlage.

Dann wieder Frühling. Kapitulation. Frieden. Blühende Bäume? Oder hat euch für die der Blick gefehlt? Ihr seid unbeschadet durch die Zeit des »Dritten Reiches« gekommen, durch den Krieg, habt euch nicht verloren, eure Kinder haben überlebt, auch euer Haus stand noch. Einmal hatte Martin die Fahne gehisst, so wird es erzählt, nach der Geburt von Thomas, 1934. Schwarz, rot, weiß. Aber ohne Hakenkreuz. Dafür hat er ein Bußgeld zahlen müssen. Ansonsten war euer Haus, die Praxis, »neutraler Boden«, keine Mitgliedschaft in der NSDAP, bis auf die der...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 1949 • Anne Marie Heiler • Bonn • Bundespräsident • Bundestag • die Unbeugsamen • Erich Köhler • Friederike Mulert • Gertrud Strohbach • Grundgesetz • Gründung der Bundesrepublik • Helene Bukowski • Helene Wessel • Holocaust-Überlebende • Jeanette Wolff • Jüdin • Julia Franck • Juli Zeh • Legislaturperiode • Parlamentarierinnen • Pionierinnen • Plenarsaal • Shelly Kupferberg • Terézia Mora
ISBN-10 3-8412-3501-8 / 3841235018
ISBN-13 978-3-8412-3501-5 / 9783841235015
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