Kurz gesagt: Italien -  Sebastian Heinrich

Kurz gesagt: Italien (eBook)

Italien erklärt - Wort für Wort | Das perfekte Wörterbuch für alle Italien-Liebhaber
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
309 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77908-8 (ISBN)
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Italien erklärt - Wort für Wort

Ach, bella Italia: Schon der Espresso am Autogrill gleich hinter der Grenze schmeckt viel besser als jede Edelbohne bei uns. Die Italiener lieben ihren caffè wie ihren Fußball und ihre Pasta. Der Verkehr ist chaotischer als bei uns, die Politik - die Politik ... Der deutsche Blick auf Italien ist geprägt von Sehnsucht und Bewunderung. Und von Stereotypen: Berlusconi, Bialetti, Bolognese.

Sebastian Heinrich lädt uns ein, hinter die Klischees zu schauen. Anhand einzelner, unübersetzbarer Begriffe bringt er uns das Land Wort für Wort ein Stückchen näher: von den herrlich kitschigen cinepanettoni, die an Weihnachten im Fernsehen laufen, über den berlusconismo bis hin zu papeete und der Frage, warum in Rom eigentlich so oft die Regierung stürzt. Er erklärt, warum der Norden über den Süden die Nase rümpft - und umgekehrt - und weshalb die Städte an ferragosto in einen tiefen Sommerschlaf verfallen. Ein Handwörterbuch für alle Italianità-Liebhaber!



Sebastian Heinrich, geboren 1987, ist politischer Journalist. Er hat einen Großteil seiner Schulzeit nahe Neapel verbracht, hat eine zur Hälfte italienische Familie – und hört nicht auf, neugierig auf dieses Land zu sein. Seit 2022 veröffentlicht er den Podcast »Kurz gesagt: Italien« und einen dazugehörigen Newsletter. In beiden erzählt er von Italien, indem er das Land ernst nimmt: jenseits der romantischen wie der negativen Klischees, immer ausgehend von einem unübersetzbaren Wort.

La parola – das Wort:


Autogrill [autoˈgrill] – Markenname, zusammengesetzt aus »Auto« und »Grill«, Kurzform für [englisch] »Grillroom«; Imbisslokal oder Restaurant entlang einer Autobahn, üblicherweise verbunden mit einer Tankstelle.1

La storia dietro la parola – die Geschichte hinter dem Wort:


Stahlträger um Stahlträger, Betonteil um Betonteil reißen sie ein gigantisches Souvenir aus der Landschaft. Nach fünfeinhalb Jahrzehnten entfernen sie dieses Erinnerungsstück an den italienischen Aufbruch aus dem Val di Chiana, diesem Tal zwischen Arezzo und Orvieto in der südlichen Toskana, durch das sich die Autobahn A1 zieht. Im Oktober 2021 entfernen Bautrupps die Brückenraststätte Montepulciano aus dem mittelitalienischen Agrargebiet, in dessen Mitte sie jahrzehntelang tonnenschwer über der Autobahn geschwebt hatte. Hier verschwindet ein autogrill, und was für einer.

Die unübersetzbar italienischen Orte namens autogrill haben eine Bedeutung, die nicht erfassbar ist mit dem deutschen Ausdruck »Autobahnraststätte«. Für mutmaßlich Hunderttausende Italienbesucherinnen und Besucher, die im Familienwagen oder Reisebus aus dem Norden ins Land kommen, sind die autogrill Wegmarken in Richtung Urlaub. Menschen, die über den Brenner, über Chiasso oder Tarvisio nach Italien fahren, schlürfen in Adige, Villoresi oder Fella den ersten Espresso auf italienischem Boden, beißen dort in das erste cornetto, befriedigen den ersten Schub Italiensehnsucht. Nur wenige von ihnen erahnen, welche Rolle die autogrill für die nationale Identität Italiens spielen.

Etwas davon schimmert durch in den Worten, mit denen die Journalistin Maddalena Pieroni ihren Bericht vom Ende der Abrissarbeiten an der Brückenraststätte Montepulciano betextet, der im Lokalfernsehsender ToscanaTV ausgestrahlt wird.2 Als in dem Beitrag die Kräne am letzten Rest des Autogrill-Stahlskeletts eingeblendet werden, ist von Pieroni zu hören, dieses Gebäude sei hier, im Süden der Toskana, die »Konkretisierung des amerikanischen Traums« gewesen.

Als der autogrill 1967 eröffnet, wenige Meter vom Bahnhof der kleinen Gemeinde Montepulciano entfernt, ragt dieser Bau auf einem gigantischen Cortenstahl-Träger in die ländliche Gegend wie ein Objekt aus einer fernen Zukunft: mit seinen hohen Glasfassaden, den roten Sonnenblenden und dem roten Schild in der Form eines stilisierten Hundeknochens mit der Aufschrift »Autogrill Pavesi«.3 Entworfen hat ihn Angelo Bianchetti, ein Star der italienischen Nachkriegsarchitektur, der den seltenen Zukunftsmut dieser Jahre in aufsehenerregende Gebäude übersetzte.

Die Journalistin Pieroni erzählt in ihrem Fernsehbeitrag, in den Jahren nach der Eröffnung hätten sich viele Menschen aus der Region im autogrill mit Delikatessen eingedeckt. In den über den Fahrbahnen hängenden Räumen in Montepulciano habe es Ende der 1960er Jahre schon »seltene Waren« gegeben, die in den kleinen Lebensmittelläden der Umgebung noch nicht erhältlich waren. Viele Menschen aus dieser bis weit in die Nachkriegsjahrzehnte bäuerlichen Gegend hätten hier erstmals in ihrem Leben einen Aufzug gesehen.

Ein anderer Journalist, Alessandro Benetti, schreibt im Architekturmagazin Domus in einem Artikel zum Abriss dieser Raststätte, das über dem Autoverkehr hängende Bauwerk sei ein »Fixpunkt« gewesen. Ein »Ort mit einem Hauch Amerika, der die Menschen zum Träumen brachte, in einer Zeit, in der die Freiheit mit dem Automobil verbunden war«.4

15Jahre vor der Eröffnung von Montepulciano taucht das Wort »autogrill« zum ersten Mal auf. Es ist das Jahr 1952, sieben Jahre sind vergangen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem endgültigen Sturz der faschistischen Gewaltherrschaft von Diktator Benito Mussolini. Am 2. Juni 1946 haben die Italiener in einem Referendum für die Abschaffung der Monarchie und den Aufbau einer Republik gestimmt. 1948, nach den ersten Parlamentswahlen, hat die Regierung unter dem Antifaschisten und Christdemokraten Alcide De Gasperi deutlich gemacht, auf welcher Seite sie im gerade begonnenen Kalten Krieg stehen will: im Westen, an der Seite der USA, als Mitglied der Nato, zu deren Gründungsmitgliedern Italien im April 1949 gehört. Italien ist ein armes Land, gezeichnet von verbreiteter Armut und tiefer politischer Spaltung. Doch wer es damals durchquert, sieht auch die Zeichen des Aufbruchs.

Zu diesen Zeichen gehört ein einstöckiges Gebäude, das 1952 an einer der wenigen Autobahnen des Landes eröffnet: an der Strecke Turin–Mailand, nahe der Stadt Novara in der norditalienischen Region Piemont. In seinem Inneren ist ein Laden untergebracht, in dem Autofahrer Kekse kaufen können, und daneben ein Restaurant.5 Hinter der Attraktion steckt Mario Pavesi, ein Unternehmer, der seit den 1930er Jahren im piemontesischen Novara industriell Gebäck herstellt. Die Pavesini, Kekse in der Form eines stilisierten Hundeknochens, werden in der Nachkriegszeit zu einer der beliebtesten Süßwaren des Landes. »È sempre l’ora dei Pavesini«, es ist immer die richtige Uhrzeit für Pavesini, dieser Slogan gehört zu den erfolgreichsten Werbebotschaften, die je in italienischer Sprache geschrieben worden sind.6

Pavesi ist, wie viele italienische Unternehmer seiner Generation, vernarrt in die USA. Während einer Reise in die Staaten in den 1940er Jahren haben es ihm die grill rooms angetan:7 Restaurants für Autoreisende, entlang der Interstate Highways, die damals schon die US-Bundesstaaten miteinander verbinden. Bereits 1947 beginnt Pavesi am Rand einer Autobahn seine Produkte zu verkaufen: In Novara öffnet ein erster Verkaufsladen für die Kekse aus eigener Herstellung, ergänzt um eine bar mit Tischen und einer Pergola im Außenbereich, von weithin sichtbar gemacht mit einem Betonbogen, aus dem ein Dutzend beflaggter Fahnenmasten ragen – und an dessen Seite ein großes Neonreklame-Schild mit der Aufschrift Pavesini in die Landschaft ragt.8 Dann lässt Unternehmer Pavesi das Lokal ausbauen und um ein Restaurant erweitern. Über dem vergrößerten Gebäude hängt ein Schild mit der Aufschrift »Bar-Autogrill-Restaurant Pavesini biscuits«.9 Dem ersten autogrill lässt der schnell expandierende Keksunternehmer Pavesi bis 1958 drei weitere folgen.

Ende der 1950er Jahre erleben Italienerinnen und Italiener – vor allem im Norden und in der Mitte des Landes – den bis heute spektakulärsten wirtschaftlichen Aufstieg der Geschichte: den boom economico, das italienische Wirtschaftswunder. Millionen Menschen im Land ermöglicht der Aufschwung, einen Kühlschrank und eine Waschmaschine in die Wohnung zu stellen und ein eigenes Auto zu kaufen. Ein Auto, mit dem sie ihr Land Jahr für Jahr schneller und einfacher durchqueren können. Das Netz der autostrade wird dichter und dichter, und die autogrill werden zum wesentlichen Bestandteil der Planungen. Als die über 750 Kilometer lange Autobahn A1 geplant wird, die Autostrada del Sole zwischen Mailand und Neapel, sind in Abständen von vierzig Kilometern zueinander Raststätten vorgesehen.10 1961 gründet die Mehrheit im italienischen Parlament mit dem Zaccagnini-Gesetz die Autobahngesellschaft Società Autostrade und verpflichtet sie zum Bau weiterer Hunderter Kilometer Autobahnnetz.11

Für Mineralölkonzerne und die italienische Lebensmittelindustrie entsteht mit den Plänen für Dutzende neue Raststätten ein Geschäftsmodell von gigantischem Ausmaß. Am Business entlang der Autobahnen will nicht nur Pionier Pavesi verdienen. Zwei weitere wachsende Riesen der italienischen Lebensmittelindustrie steigen ein: Motta und Alemagna. ...

Erscheint lt. Verlag 17.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte Autogrill • Azzuro • Belpaese • Bialetti • Cinepanettone • Dietrologia • Dissesto • Elena Ferrante • Eric Pfeil • Espresso • Geschichte Italiens • Giorgia Meloni • Italien besser verstehen • Italienisch • Italienisch für Kenner • Italien ohne Klischees • LVI • MOKA • Neofaschismus • Pasta • Pizza • Reise • Sanremo • Silvio Berlusconi • ST 5434 • ST5434 • suhrkamp taschenbuch 5434 • tangentopoli • Unbekanntes Italien
ISBN-10 3-518-77908-7 / 3518779087
ISBN-13 978-3-518-77908-8 / 9783518779088
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