Psychoanalyse und die Psychopathologie der Entwicklung (eBook)
542 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12320-3 (ISBN)
Peter Fonagy, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychoanalytiker, ist Professor am University College London und leitet das Anna Freud National Centre for Children and Families in London. Zudem ist er Vize-Präsident der IPA, Mitherausgeber einer Anzahl bedeutender Zeitschriften, zum Beispiel des International Journal of Psychoanalysis, des Development and Psychopathology und des Bulletin of the Menninger Clinic. Fonagy gilt als einer der weltweit führenden Köpfe der Psychotherapieforschung.
Peter Fonagy, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychoanalytiker, ist Professor am University College London und leitet das Anna Freud National Centre for Children and Families in London. Zudem ist er Vize-Präsident der IPA, Mitherausgeber einer Anzahl bedeutender Zeitschriften, zum Beispiel des International Journal of Psychoanalysis, des Development and Psychopathology und des Bulletin of the Menninger Clinic. Fonagy gilt als einer der weltweit führenden Köpfe der Psychotherapieforschung. Mary Target (Hepworth), Dr. phil., ist Dozentin für Psychoanalyse am University College London, Mitglied der Psychoanalytischen Gesellschaft, war Forschungsdirektorin am Anna Freud Centre, London, Vorsitzende des Forschungskomitees der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft und Vorsitzende der Arbeitsgruppe Ausbildung der Europäischen Psychoanalytischen Föderation.
1. KAPITEL
Einführung in dieses Buch und in das psychoanalytische Grundmodell
1.1 Einleitende Bemerkungen
In diesem Buch betrachten wir die Psychoanalyse unter dem spezifischen Blickwinkel der Entwicklungspsychopathologie. Diese Disziplin erforscht die Ursachen und den Verlauf individueller Muster der Fehlanpassung (Sroufe und Rutter, 1984). Zu deren Verständnis lieferte und liefert die Psychoanalyse wichtige Beiträge, indem sie uns Einblick in die psychischen Prozesse gewährt, die der Kontinuität sowie der Veränderung von angepaßten oder fehlangepaßten Mustern zugrunde liegen. Wie ist es zu erklären, daß manche Individuen aus einer Krise gestärkt und um eine Erfahrung reicher hervorgehen, während es anderen nach einem solchen Einschnitt zunehmend schwerer fällt, sich der Realität anzupassen und den Alltag zu bewältigen? Psychoanalytische Theorien begreifen die Entwicklung als einen aktiven, dynamischen Prozeß, in dem das Individuum seinem Erleben eine Bedeutung zuschreibt; diese Bedeutung wiederum verändert die Auswirkungen der Erfahrung. Unsere Biologie prägt unser Erleben ebenso, wie sie selbst durch unsere Erfahrungen geprägt wird. Die psychoanalytischen Theorien, die wir in diesem Buch näher betrachten werden, erheben den Anspruch, uns dabei zu helfen, unsere Lebenswege besser zu verstehen, indem sie Licht auf unbewußte Bedeutungen und Einflüsse werfen.
Das entwicklungspsychologische Verständnis der Psychopathologie bildet den traditionellen Bezugsrahmen, innerhalb dessen die Psychoanalyse die Entwicklungsphasen zu identifizieren versucht, in denen verschiedenartige Störungen wurzeln, die im Kindes- und Erwachsenenalter auftreten (siehe Tyson und Tyson, 1990); erhellt werden dabei auch die weiteren Folgen solcher Störungen sowie die Faktoren, durch die sie beeinflußt werden (Sroufe, 1990; Sroufe, Egeland und Kreutzer, 1990). Dieses Buches enthält ausführliche Darstellungen psychoanalytischer Theorien, darunter der klassischen und modernen Strukturtheorie, der ich-psychologischen Modelle sowie der britischen und US-amerikanischen Objektbeziehungstheorien und relationalen Ansätze. Mit der Beschreibung all dieser psychoanalytischen Schulen wollen wir den jeweiligen Beitrag aufzeigen, den sie unter ätiologischem, behandlungstechnischem und empirischem Aspekt zur Entwicklungspsychopathologie leisten können. Wir vertreten die Ansicht, daß die Verbindung von Psychoanalyse und Entwicklungspsychopathologie etwas explizit macht, das seit Freuds Tagen einen Kernbestandteil der psychoanalytischen Theoriebildung und Behandlung darstellt.
Aufgrund der schieren Fülle an psychoanalytischer Literatur ist es uns unmöglich, sämtlichen Theorien gerecht zu werden. Viele wichtige Überlegungen, die in Frankreich, Deutschland, Italien und Lateinamerika formuliert wurden, bleiben deshalb unberücksichtigt. Am ausführlichsten wird die anglo-amerikanische Tradition behandelt. Wir haben versucht, die entwicklungspsychologischen Aspekte einer jeden Theorie herauszuarbeiten und im Anschluß daran zu zeigen, wie sie fehlangepaßte Entwicklungsverläufe erklärt. Dabei konzentrieren wir uns vorrangig auf die Persönlichkeitsstörungen, anhand deren man die Tauglichkeit solcher Erklärungen am sichersten überprüfen kann. Im Falle jeder einzelnen Theorie haben wir nach systematisch gesammelten Daten gesucht, die für die entsprechenden Überlegungen relevant sind. Es gibt mehr psychoanalytische Theorien, als wir brauchen, doch trotz zahlreicher Überschneidungen weist jedes theoretische Korpus unverwechselbare Merkmale auf. Zu entscheiden, was für und was gegen eine Theorie spricht, ist eine wichtige Aufgabe der psychoanalytischen Forschung, die sich dabei auf die beiden Auswahlkriterien Kohärenz sowie Übereinstimmung mit den bekannten Fakten stützen kann. Beide Kriterien haben wir auf die Theorien, die wir untersuchen, anzuwenden versucht.
In diesem Buch geht es weniger um die Praxis als um Ideen. Natürlich hätten wir dem Beispiel anderer Autoren folgen und als ein weiteres Kriterium zur Evaluierung psychoanalytischer Modelle einen Vergleich der Theorien unter dem Aspekt ihrer klinischen Nützlichkeit anstellen können. Wir wenden uns jedoch in erster Linie an Leser, die sich mit der psychoanalytischen Theorie vertraut machen wollen, um diese Perspektive in eine andere Disziplin einzubringen oder um ihre Fähigkeit, leidenden Patienten zu helfen, zu verbessern. Als Disziplin ist die Psychoanalyse weit mehr als psychoanalytische Psychotherapie. Das psychoanalytische Verstehen des Seelenlebens und insbesondere die entwicklungspsychologische Perspektive sind für Behandler, die mit den Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie arbeiten, und sogar für Ärzte, die medikamentös behandeln, genauso relevant wie für den »klassischen« Psychoanalytiker. Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie dient uns als Möglichkeit zur Erforschung der Psyche und repräsentiert vielleicht den fruchtbarsten und produktivsten theoretischen Bezugsrahmen, der uns heute zur Verfügung steht. Einige große Denker des 20.Jahrhunderts haben die Schwierigkeiten, denen Menschen im Laufe ihrer Entwicklung begegnen, mit Hilfe von Freuds Ideen zu verstehen versucht. Ihre Modelle bilden ein Korpus außerordentlich kreativer Ideen, dessen eingehendes Studium sich lohnt.
1.2 Die Grundannahmen der Psychoanalyse
Die Psychologie, die Freud entdeckte und ausarbeitete, hat sich als erklärender Bezugsrahmen erfolgreich bewährt. Dies ist darauf zurückzuführen, daß ihre wenigen Grundannahmen und Hypothesen nach Bedarf revidiert und verbessert werden können und daß das klinische Verfahren, das ihr empirisches Fundament bildet, einen einzigartigen Einblick in die menschliche Psyche gewährt. Die Mehrzahl der spezifischen Hypothesen, die oben kurz gestreift wurden und in den folgenden Kapiteln näher erläutert werden sollen, sind datenabhängig, das heißt, sie können revidiert und sogar verworfen werden, ohne daß die theoretische Struktur der Psychoanalyse in ihrer Integrität beeinträchtigt würde. All die Theorien aber, die in diesem Buch vorgestellt werden, teilen gewisse Kernannahmen. Zu den zentralen Annahmen des »psychoanalytischen Grundmodells« (Sandler, 1962a; Sandler und Joffe, 1969) gehören: (a) der psychische Determinismus, das heißt die Überzeugung, daß kognitive, emotionale und behaviorale Aspekte der Pathologie psychische Ursachen haben (und nicht ohne weiteres auf körperliche Besonderheiten oder biologische Zufälle zurückgeführt werden können); (b) das Lust-Unlust-Prinzip, demzufolge Verhalten als ein Versuch zu verstehen ist, psychische Unlust zu minimieren und psychische Lust sowie ein Gefühl der intrapsychischen Sicherheit zu maximieren; (c) die biologische Natur des Organismus, die als Antriebskraft hinter der psychischen Anpassung steht; (d) ein dynamisches Unbewußtes, in dem psychische Kräfte um Ausdruck ringen und das mitbestimmt, welche Ideen und Gefühle das Bewußtsein erreichen; (e) die genetisch-entwicklungspsychologische These, nach der sämtliche Verhaltensweisen als Abfolge von Aktionen verstanden werden können, die aus vergangenen (bis in die früheste Kindheit zurückreichenden) Ereignissen hervorgehen. Betrachten wir diese Grundannahmen ein wenig ausführlicher:
(a) Psychoanalytiker nehmen an, daß psychische Störungen am sinnvollsten auf der Ebene der psychischen Verursachung untersucht werden und daß die Repräsentation früherer Erfahrungen, das heißt ihre bewußte und unbewußte Interpretation und Bedeutung, die Reaktion des Individuums auf seine äußere Welt sowie seine Fähigkeit determiniert, sich dieser Welt anzupassen. Die Betonung der psychischen Verursachung bedeutet nicht, daß andere Ebenen, auf denen psychiatrische Probleme analysiert werden können – etwa biologische, familiäre oder allgemeinere soziale Faktoren –, nicht anerkannt oder nicht hinreichend berücksichtigt würden. Gleichwohl verstehen Psychoanalytiker psychiatrische Probleme ungeachtet ihrer genetischen, konstitutionellen oder sozialen Verursachung als eine bedeutungsvolle Konsequenz der Überzeugungen, Gedanken und Gefühle des Kindes; das bedeutet zugleich, daß diese Probleme psychotherapeutisch behandelt werden können. Daß man die Handlungen eines Menschen durch seine psychischen Zustände (Gedanken, Gefühle, Überzeugungen und Wünsche) erklären kann, ist Teil der Alltagspsychologie, die wir benutzen, ohne weiter darüber nachzudenken (Churchland, Ramachandran und Sejnowski, 1994). Daß dasselbe auch für unbewußte Überzeugungen und Gefühle gilt, war vielleicht Freuds größte Entdeckung (Hopkins, 1992; Wollheim, 1995).
(b) Die Psychoanalyse nimmt an, daß komplexe unbewußte psychische Prozesse für den Inhalt des bewußten Denkens und für unser Verhalten verantwortlich sind. Genauer: Unbewußte Phantasien, die mit Wünschen nach Triebbefriedigung (früherem Lusterleben) oder Sicherheit (Sandler, 1987b) zusammenhängen, motivieren und determinieren das Verhalten, die Affektregulierung und die Fähigkeit, sich in der sozialen Umwelt zurechtzufinden. Unbewußte Vorstellungen erzeugen emotionale Zustände, die mentalen Funktionen als Orientierung dienen und sie organisieren.
(c) Die Erfahrungen, die das Selbst mit anderen Menschen sammelt, werden internalisiert und führen zum Aufbau von repräsentationalen Strukturen interpersonaler Interaktionen. Auf der einfachsten Ebene erzeugen diese Repräsentationen Erwartungen in bezug auf das Verhalten anderer Menschen; darüber hinaus determinieren sie die »Form« der Selbst-...
Erscheint lt. Verlag | 16.12.2023 |
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Übersetzer | Elisabeth Vorspohl |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Psychoanalyse / Tiefenpsychologie |
Schlagworte | Bindung • Bindungsforschung • Bindungstheorie • Entwicklung • Entwicklungspsychologie • Freud • Intersubjektivitätstheorie • Kernberg • Klein-Bion-Modell • Kohut • Psyche • Psychiatrie • Psychische Erkrankung • Psychische Störung • Psychopathologie • Psychotherapie |
ISBN-10 | 3-608-12320-2 / 3608123202 |
ISBN-13 | 978-3-608-12320-3 / 9783608123203 |
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