Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst (eBook)
576 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12319-7 (ISBN)
Peter Fonagy, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychoanalytiker, ist Professor am University College London und leitet das Anna Freud National Centre for Children and Families in London. Zudem ist er Vize-Präsident der IPA, Mitherausgeber einer Anzahl bedeutender Zeitschriften, zum Beispiel des International Journal of Psychoanalysis, des Development and Psychopathology und des Bulletin of the Menninger Clinic. Fonagy gilt als einer der weltweit führenden Köpfe der Psychotherapieforschung.
Peter Fonagy, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychoanalytiker, ist Professor am University College London und leitet das Anna Freud National Centre for Children and Families in London. Zudem ist er Vize-Präsident der IPA, Mitherausgeber einer Anzahl bedeutender Zeitschriften, zum Beispiel des International Journal of Psychoanalysis, des Development and Psychopathology und des Bulletin of the Menninger Clinic. Fonagy gilt als einer der weltweit führenden Köpfe der Psychotherapieforschung. György Gergely, Dr. phil., ist Professor am Department of Cognitive Science des Cognitive Development Centers an der Central European University in Budapest, er war klinischer Psychologe und Gastdozent am Max-Planck-Institut für Psychologie in München, am Child and Family Center an der Menninger Clinic und in der Abteilung Psychologie der Universität London und der Universität Berkeley. Elliot L. Jurist, Dr. phil., ist Professor für Psychologie und Philosophie am Graduate Center und City College of New York der City University of New York, CUNY. Mary Target (Hepworth), Dr. phil., ist Dozentin für Psychoanalyse am University College London, Mitglied der Psychoanalytischen Gesellschaft, war Forschungsdirektorin am Anna Freud Centre, London, Vorsitzende des Forschungskomitees der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft und Vorsitzende der Arbeitsgruppe Ausbildung der Europäischen Psychoanalytischen Föderation.
Einleitung
In diesem Buch treffen zahlreiche Wege zusammen. Wir stützen uns auf eine breite Vielfalt von Quellen und haben uns das ehrgeizige Ziel gesetzt, Leser unterschiedlichster professioneller Herkunft anzusprechen: akademische Psychologen, klinische Psychologen und Psychotherapeuten, aber auch Entwicklungspsychologen aus anderen Disziplinen. Ganz allgemein gesprochen, wollen wir Licht auf die entscheidende Bedeutung werfen, die der Entwicklungsarbeit für die Psychotherapie und Psychopathologie zukommt. Wir formulieren eine Erklärung der Wirkungsweise der Psychotherapie, in der wir unsere wissenschaftlichen Kenntnisse über die psychische Entwicklung mit der Erfahrung verbinden, die wir als Kinder- und Erwachsenentherapeuten gesammelt haben. Nach unserer Ansicht können wir dem Interesse unserer Patienten am besten dienen, wenn wir uns als Individualtherapeuten wie auch als professionelles Kollektiv fortwährend um eine solche Integration bemühen. Freilich wird deren Nutzen nicht ohne weiteres anerkannt (siehe Green, 2000; Wolff, 1996) – und so sollte es auch gar nicht sein. Der Psychotherapeut bietet Menschen, die nicht (nur) bei Medikamenten Hilfe suchen, sondern bei einer Person, die bereit ist, ihre innere Welt in seine eigene aufzunehmen, klinische Unterstützung an, in erster Linie in Form von Gesprächen. Man kann nicht selbstverständlich davon ausgehen, daß wissenschaftliche Fortschritte in den Nachbardisziplinen der psychotherapeutischen Praxis zugute kommen werden. Wir können uns zum Beispiel lebhaft vorstellen, daß Hulls oder Skinners lerntheoretische Weiterentwicklungen in den 1940er und 1950er Jahren den damaligen psychodynamisch orientierten Therapeuten wenig zu sagen hatten. Von der Lerntheorie profitierte eine ganz andere Art der Psychotherapie, der es weniger um das Individuum und um Bedeutung zu tun ist als um Verhalten und Umwelt.
Unsere Arbeit fügt sich in die alte Tradition der entwicklungspsychologischen Theorie und Forschung innerhalb der Psychoanalyse ein, die von Koryphäen wie Anna Freud, Melanie Klein, Mahler, Brody, Emde, Stern und zahlreichen anderen repräsentiert wird. Ein besonders inspirierendes Beispiel für die nahtlose Integration entwicklungspsychologischer und klinischer Überlegungen ist ein Buch von Anni Bergman (1999, deutsch 2001), Margaret Mahlers berühmter Mitarbeiterin. Viele ihrer Gedanken finden sich, mitunter ein wenig anders akzentuiert, in unserem Buch wieder. Den entwicklungspsychologisch orientierten psychotherapeutischen Ansätzen sind zwangsläufig zahlreiche wichtige Merkmale gemeinsam, weil sie alle auf der Beobachtung der menschlichen Entwicklung beruhen. Gleichzeitig sind wir überzeugt, daß etliche Konzepte, die wir in diesem Buch diskutieren – beispielsweise die Theorie des sozialen Biofeedbacks durch mütterliche Affektspiegelung, der teleologische und intentionale Standpunkt, die Reflexionsfunktion, der Modus der psychischen Äquivalenz und der Als-ob-Modus der Wahrnehmung psychischer Realität, das fremde Selbst, Mentalisierung, Affektivität und natürlich Affektregulierung und Mentalisierung –, der Psychoanalyse und Psychotherapie eine genuin neue Richtung aufzeigen können.
Unter einem anderen Blickwinkel aber geht dieses Buch über psychoanalytische Konzepte und Gegenstände hinaus. Die Philosophie des Geistes dient uns als Grundlage, um den Prozeß, durch den Säuglinge und Kleinkinder die innere Welt anderer Menschen und schließlich ihr eigenes Seelenleben zu verstehen versuchen, herauszuarbeiten und zu erklären. Die Überlegung, daß wir uns selbst durch andere verstehen lernen, wurzelt im deutschen Idealismus und wurde von den Vertretern der analytischen Philosophie des Geistes weiterentwickelt (Jurist, 2000). Die Anwendung der Philosophie des Geistes ist, was die soziale Kognition anlangt, gang und gäbe. Unser Ansatz unterscheidet sich davon insofern, als wir nicht nur die Kognition, sondern auch die Affekte untersuchen. Dabei stützen wir uns auf die Bindungstheorie, die den empirischen Nachweis für das Konzept erbracht hat, daß das Selbstgefühl des Säuglings aus der affektiven Bindung zur primären Bezugsperson hervorgeht. Dennoch berufen wir uns nicht lediglich auf die Bindungstheorie, sondern entwickeln auch eine präzise Neuformulierung. Wir vertreten die These, daß die Bindung kein Selbstzweck ist, sondern daß sie dazu dient, die Entwicklung eines Repräsentationssystems zu ermöglichen, das nach unserer Meinung im Dienste des menschlichen Überlebens steht. Daher könnte man auch sagen, daß wir uns in diesem Buch anschicken, die historischen Spannungen zwischen Psychoanalyse und Bindungstheorie beizulegen (Fonagy, 2001).
Ein Wort noch zum Hauptthema dieser Arbeit und seiner Beziehung zu dem Begriffstrio, das wir für den Titel dieses Buches ausgewählt haben. Wir konzentrieren uns in erster Linie auf die Entwicklung von Repräsentationen psychischer Zustände bei Säuglingen, Kindern, Adoleszenten und Erwachsenen. Als »Mentalisierung« – ein Konzept, das den Entwicklungspsychologen vertraut ist – bezeichnen wir den Prozeß, durch den wir erkennen, daß unser Geist unsere Weltwahrnehmung vermittelt. Mentalisierung hängt unauflöslich mit der Entwicklung des Selbst zusammen, mit seiner zunehmend differenzierteren inneren Organisation und seiner Teilnahme an der menschlichen Gesellschaft, einem Netzwerk von Beziehungen zu anderen, die diese einzigartige Fähigkeit ebenfalls besitzen. Mit dem Begriff »Reflexionsfunktion« bezeichnen wir unsere Operationalisierung der mentalen Fähigkeiten, die das Mentalisieren erzeugen (Fonagy, Target, Steele und Steele, 1998).
Zwischen der Mentalisierung und der Entwicklung des Selbst als Akteur sowie des repräsentationalen Selbst – dem von W.James (1890) beschriebenen »I« und »Me« – besteht ein enger Zusammenhang. Die Forschung hat sich traditionell auf die Entwicklung der Selbstrepräsentation konzentriert, James’ »Me« oder das »empirische Selbst« (Lewis und Brooks-Gunn, 1979), das auch die Entwicklung von Eigenschaften umfaßt, die wir uns selbst zuschreiben, auch wenn wir dieses Wissen aus den Reaktionen unserer sozialen Umwelt geschlossen haben (Harter, 1999). Dieser Aspekt der Mentalisierung ist daher ein Konzept, das sowohl in der psychoanalytischen Theorie (Fonagy, 1991) als auch in der Kognitionspsychologie (Morton und Frith, 1995) auf eine reiche Geschichte zurückblickt. Das Selbst als mentaler Akteur aber – an anderer Stelle (Fonagy, Moran und Target, 1993; Fonagy und Target, 1995) haben wir es als das psychologische Selbst bezeichnet – war seit jeher ein Stiefkind der Forschung. Man könnte diese psychologische und psychoanalytische Vernachlässigung der Entwicklungsprozesse, die dem »Selbst als Akteur« zugrunde liegen, als Überbleibsel der traditionell ungemein einflußreichen cartesianischen Doktrin der »Autorität der Ersten Person« verstehen. Sie postuliert einen unmittelbaren und unfehlbaren introspektiven Zugang zu intentionalen Zuständen, während wir diesen Zugang als eine mühsam erworbene Entwicklungserrungenschaft betrachten. Das Werk von Marcia Cavell (1988, 1994, 2000), das wir hier stellvertretend für die Arbeiten anderer Forscher nennen, erinnert uns daran, daß es der psychoanalytischen Metapsychologie nur begrenzt gelungen ist, sich von der cartesianischen Doktrin zu distanzieren. Sowohl die Psychoanalyse als auch die entwicklungspsychologischen Disziplinen sind der cartesianischen Tradition oft verhaftet geblieben, indem sie annahmen, daß das Gewahrsein mentaler Urheberschaft des Selbst angeboren sei. In diesem Buch versuchen wir, radikal mit dieser dominierenden philosophischen Tradition zu brechen, denn wir vertreten die These, daß es sinnvoller und ergiebiger ist, mentale Urheberschaft als eine sich entwickelnde und konstruierte Fähigkeit zu begreifen.
Entwicklungspsychologische und philosophische Untersuchungen der Repräsentation intentionalen Handelns haben gezeigt, daß die Repräsentation intentionaler innerer Zustände eine hochkomplexe innere Struktur besitzen kann. Der bewußte Zugang zu diesen Strukturen ist bestenfalls partiell und mitunter gar nicht vorhanden. Wir halten es für wichtig, den Prozeß herauszuarbeiten, durch den das Verstehen des Selbst als mentaler Urheber aus der interpersonalen Erfahrung, insbesondere aus der Beziehung zum primären Objekt, auftaucht. An der Mentalisierung sind eine selbstreflexive und eine interpersonale Komponente beteiligt. Gemeinsam vermitteln sie dem Kind die Fähigkeit, zwischen innerer und äußerer Realität, intrapersonalen mentalen und emotionalen Prozessen und interpersonalen Kommunikationen zu unterscheiden. In diesem Buch stellen wir klinisches und empirisches Material in Verbindung mit Beobachtungsdaten vor, um zu zeigen, daß das Baby nicht mit einem Bewußtsein seiner selbst als geistbegabter Organismus oder als psychologisches Selbst geboren wird. Das Selbst ist eine Struktur, die sich vom Säuglingsalter bis in die Kindheit hinein entwickelt, und diese Entwicklung hängt in entscheidendem Maße von Interaktionen mit reiferen Psychen ab, die das Kind wohlwollend und reflektierend unterstützen.
Wir verstehen unter Mentalisierung nicht lediglich einen kognitiven Prozeß; sie beginnt vielmehr mit der »Entdeckung« der Affekte in der und durch die Beziehung zu den Primärobjekten. Aus diesem Grund konzentrieren wir uns auf das Konzept der »Affektregulierung«, das in vielen Bereichen der Entwicklungstheorie und der Psychopathologietheorien eine wichtige Rolle spielt (vgl. Clarkin und Lenzenweger, 1996). Affektregulierung, das heißt die Fähigkeit, Affektzustände zu modulieren, hängt insofern eng mit der Mentalisierung zusammen, als sie für die Entwicklung des Selbstgefühls und des Gewahrseins der Urheberschaft des...
Erscheint lt. Verlag | 16.12.2023 |
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Übersetzer | Elisabeth Vorspohl |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Psychoanalyse / Tiefenpsychologie |
Schlagworte | Bindung • Bindungsforschung • Bindungstheorie • Entwicklungspsychologie • Mentalisieren • Persönlichkeitsentwicklung • Peter Fonagy • Psyche • Psychoanalyse • Psychologie • Psychotherapie |
ISBN-10 | 3-608-12319-9 / 3608123199 |
ISBN-13 | 978-3-608-12319-7 / 9783608123197 |
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