Sezessionen

das erbitterte Ringen um Unabhängigkeit

(Autor)

Buch | Softcover
340 Seiten
2024 | 1. Auflage
Olzog (Verlag)
978-3-95768-257-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sezessionen - Martin Grosch
28,00 inkl. MwSt
Die Ukraine kämpft aktuell um ihre 1991 erlangte Unabhängigkeit, China wiederum stellt die Unabhängigkeit Taiwans in Frage und ob Bosnien-Herzegowina als Staat langfristig existieren wird, ist durchaus fraglich. All dies sind Konflikte, die aufgrund des Unabhängigkeitswillen von Nationen bzw. ethnischer Gruppen ein zentrales politisches Problem unserer Zeit darstellen. So hat sich seit Gründung der UNO 1945 die Zahl ihrer Mitgliedstaaten nahezu vervierfacht - ein Umstand, der einen Trend zur Fragmentierung der Staatenwelt zu belegen scheint. Dabei ist nicht nur die territoriale Integrität autoritär beherrschter Staaten, die Teilen ihrer Bevölkerung (oft nationale Minderheiten) grundlegende Menschen- oder Bürgerrechte vorenthalten, durch separatistische Gruppen und deren Sezessionsbestrebungen bedroht. Vielmehr sehen sich damit auch demokratische, westlich geprägte Rechtsstaaten wie Kanada, Großbritannien, Spanien, Italien, Frankreich oder Belgien konfrontiert. Erinnert sei hier nur an die Unabhängigkeitsbestrebungen Katalaniens oder an Anschläge korsischer Separatisten. Letztlich finden sich in allen Teilen der Erde Staaten, die sich auf ihrem Territorium mit separatistischen Strömungen auseinandersetzen müssen. Das Streben nach Sezession stellt somit wenig verwunderlich einen Hauptgrund für kriegerische Konflikte dar.Der Autor Dr. Martin Grosch möchte daher mit seinem Buch einen Beitrag leisten, den Blick vor allem für derzeitige Sezessionsbestrebungen - gerade auch in Europa - und die damit einhergehenden Folgen zu schärfen. Dabei zeichnet er die kulturellen, historischen sowie geographischen Hintergründe früherer und aktueller Separatismusbestrebungen nach. Warum zerfallen Staaten, was sind die Motive für Separatismus und Sezessionen, welche Rolle spielen dabei die Idee der Nation bzw. nationalistische Beweggründe, wie laufen derartige Prozesse ab und warum dann häufig mit Gewalt und eben leider nicht friedlich und - zuletzt - wie können sich neu entstehende Staaten international behaupten? Auf solche und weitere Fragen gibt das Buch umfassende Antworten.

Dr. Martin Grosch, geboren 1969, Ministerialrat, Studium der Geschichte und Geographie in Marburg, Promotion zum Thema "Johann Victor Bredt. Konservative Politik zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Eine politische Biographie." Langjährige Tätigkeit als Lehrer für Geschichte, Erdkunde, Politik und Wirtschaft an Oberstufengymnasien. Dort Durchführung zahlreicher geo- und sicherheitspolitischer Seminare. Vorträge an der Universität Köln und an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg zu historischen und geo- bzw. sicherheitspolitischen Themen und Lehrauftrag 2009/10 an der Universität Köln zum Thema "Karten im Geschichtsunterricht." Mitglied der "Namibia Scientific Society ", der "Scientific Society Swakopmund" und des "Arbeitskreises Militärgeschichte". Oberstleutnant d.R., derzeit beordert beim Landeskommando Hessen als Pressestabsoffizier. Zahlreiche Reisen in das südliche Afrika, in den Nahen Osten, China, Russland und Osteuropa. Dabei intensiver Austausch mit relevanten Akteuren und Recherche vor Ort.

Einleitung

I. Definitionen und Begriffe – Nation, Volk und Nationalismus
1. Die Nation
2. Was ist ein Volk?
3. Das Beispiel der »Deutschen Nation«
4. Nationalismus

II. Definitionen und Begriffe – Sezessionen im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmungsrecht und Wahrung territorialer Integrität
1. Definitionen wesentlicher Begriffe
2. Allgemeine völkerrechtliche Aspekte von Sezessionen
3. Sezessionsrecht als Selbstbestimmungsrecht der Völker
4. Staatsrechtliche Grundlagen in Deutschland

III. Ursachen für Sezessionen und Separatismus
1. Ethnische Motive
2. Religiöse Motive
3. Wirtschaftliche Motive
4. Historische Motive

IV. Freiheitskämpfer oder Terroristen?
1. Kosovo und die UÇK
2. Spanien und die ETA
3. Großbritannien, Irland und die IRA

V. Erfolgreiche Sezessionen und Staatsgründungen
1. Europa
a. Überblick über Staatsbildung und -zerfall seit dem 19. Jahrhundert
b. Nationalitätenpolitik in der UdSSR – ein Überblick
c. Das Baltikum: Estland, Lettland und Litauen
d. Die Ukraine
e. Belarus bzw. Weißrussland
f. Jugoslawien
g. Irland
2. Afrika
a. Allgemeiner Überblick über den Entkolonialisierungsprozess
b. Eritrea
c. Südsudan
3. Asien
a. Bangladesch
b. Osttimor als unechte Sezession
c. Mongolei ab 1911 und Tibet 1911 – 1950/51
4. Nordamerika
a. Texas
b. Vereinigte Staaten von Mittelamerika
c. Großkolumbien und Panama

VI. Aktuelle und potenzielle Sezessionsbewegungen – eine exemplarische Übersicht
1. Italien und Südtirol
2. Spanien: Katalonien und das Baskenland
3. Frankreich: Korsika
4. Großbritannien: Schottland
5. Belgien: Flandern
6. Die Kurdenproblematik in der Türkei, in Syrien, Irak und Iran
7. Afrika: Azawad

VII. Faktisch erfolgte, international nicht anerkannte Sezessionen
1. Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion: Transnistrien, Südossetien, Abchasien, Bergkarabach
2. Somaliland
3. Nordzypern

VIII. Gescheiterte Sezessionen
1. Kurzlebige Staaten
a. Konföderierte Staaten von Amerika (Südstaaten)
b. Afrika: Katanga und Biafra
2. Misslungene Sezessionsbestrebungen
a. Québec
b. Tschetschenien
c. Tamilenbewegung in Sri Lanka
d. Südjemen

IX. Sonderfälle
1. Taiwan
2. Westsahara

X. Fazit

Anmerkungen
Literaturverzeichnis

Während 1992 die damaligen politischen Vertreter der heutigen Staaten Tschechien und Slowakei beschlossen, künftig getrennte Wege zu gehen, und dann mit Beginn des Jahres 1993 ihre Staatenunion, die Tschechoslowakische Föderative Republik (CSFR), auf friedlichem Wege auf‌lösten, zerfiel parallel mit Jugoslawien ein weiterer Staat in Europa – allerdings hier auf gewaltsame Weise unter Einsatz militärischer Mittel. Mittlerweile beerben sieben Staaten – Slowenien, Kroatien, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo – die frühere Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien; wobei die beiden Letztgenannten allerdings hinsichtlich ihrer Souveränität bzw. ihrer internationalen Anerkennung bis heute zu Diskussionen Anlass geben. Anhand dieser einleitenden Beispiele, von denen der Zerfall Jugoslawiens im Verlauf des Buches noch ausführlich geschildert wird, lassen sich schon die zentralen Probleme skizzieren, die in dieser Darstellung untersucht werden sollen. Warum zerfallen Staaten, welches sind die Motive für ­Separatismus und Sezessionen, welche Rolle spielen dabei die Idee der Nation bzw. nationalistische Beweggründe, wie laufen derartige Prozesse ab und warum dann häufig mit Gewalt und eben leider nicht friedlich? Und – zuletzt – wie können sich neu entstehende Staaten international behaupten? All diese Fragen gilt es einer näheren Betrachtung zu unterziehen, zu diskutieren und zu bewerten. Die heutige Menschheit gliedert sich in fast 200 Nationen, die in einem eigenen Staatswesen oder als größere Minderheit in einem Staat leben; ­hinzu kommen zahlreiche weitere ethnische Gruppen, die für sich den Anspruch reklamieren, eine Nation zu sein, zum Teil friedlich, zum Teil aber auch auf gewaltsame Weise. So lassen sich wissenschaftlichen Schätzungen zufolge auf der Welt insgesamt rund 8000 Nationen identifizieren. Dabei verändern sich nationale Identitäten mit der Zeit; sie können sich verstärken oder abschwächen. Und nach und nach können auch neue Nationen entstehen. Ein gewisser Prozentsatz von ihnen wird dann irgendwann die staatliche Unabhängigkeit anstreben, sodass es nach wie vor ein großes ­Reservoir für Separatismus gibt. Nicht nur scheint also trotz Globalisierung nach wie vor für die meisten Menschen keine Bindung von so großer Bedeutung zu sein wie die an die eigene Nation – auch wenn dieser Begriff alles andere als einfach und plakativ zu definieren ist. Separatistische Bewegungen reklamieren in diesem Zusammenhang jedenfalls ein Recht auf politische Selbstbestimmung von Völkern, aus dem sie ein Sezessionsrecht im Sinne einer normativen Vorstellung des europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts ableiten. Auch wenn die vom Nationalgefühl so hoch bewertete Unabhängigkeit der Nation häufig eine Illusion bzw. Utopie darstellt – allein schon oft aufgrund der Kleinheit des Gebietes, der geringen Kopfzahl einer nach Selbstständigkeit strebenden ethnischen Gruppe oder infolge ökonomischer Schwäche –, so finden sich separatistische, auf den Gedanken der eigenen Nation beruhende Tendenzen weltweit; getreu der Devise des 19. Jahrhunderts »Jede Nation ein Staat – jeder Staat eine Nation«, die augenscheinlich auch im 21. Jahrhundert noch eine erhebliche Faszination ausübt. Schließlich haben auch neuere und aktuelle Bindungen, Bezugspunkte bzw. Identifikationen wie beispielsweise der Kommunismus im 20. Jahrhundert oder nach dem Zweiten Weltkrieg die Idee und praktische Umsetzung eines möglichst vereinten Europas es nicht oder nur teilweise vermocht, den ­hohen Stellenwert der Nation aufzuheben. Nationen stellen somit bis ­heute eine Realität dar. Und das Nationalgefühl, in übersteigerter Form der ­Nationalismus, bildet auch in Zeiten der Demokratie und europäischen Kooperation eine politische Kraft ersten Ranges. Nach wie vor sind die Konflikte, die aus dem Unabhängigkeitswillen mancher Nationen bzw. ethnischer Gruppen und ihrer tatsächlichen Abhängigkeit von anderen Volksgruppen oder Staaten, sei es in wirtschaftlicher (man denke hier nur an internationale Handelsverflechtungen und Lieferketten), politischer oder militärischer Hinsicht, resultieren, ein zen­trales politisches Problem unserer Zeit. So hat sich seit Gründung der Vereinten Nationen 1945 die Zahl ihrer Mitgliedstaaten nahezu vervierfacht – ein Umstand, der einen Trend zur Fragmentierung der Staatenwelt zu belegen scheint. Dabei ist nicht nur die territoriale Integrität autoritär beherrschter Staaten, die Teilen ihrer Bevölkerung (oft nationale Minderheiten) grundlegende Menschen- oder Bürgerrechte vorenthalten, durch separatistische Gruppen und deren Sezessionsbestrebungen bedroht. Mit Sezessionsbewegungen sehen sich vielmehr längst auch demokratische, westlich geprägte Rechtsstaaten wie Kanada, Großbritannien, Spanien, Italien, Frankreich oder Belgien konfrontiert. Erinnert sei hier nur an den politischen Dauerstreit in Belgien, die frühere Separatismusbewegung der ETA im Baskenland, die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens oder an Anschläge korsischer Separatisten. Letztlich finden sich in allen Teilen der Erde Staaten, die sich auf ihrem Territorium mit separatistischen Strömungen auseinandersetzen müssen. Nur in den seltensten Fällen wurde aber ein Sezessionsrecht in der Verfassung von Staaten verankert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dies lediglich in vier Staatsverfassungen anerkannt: in der Verfassung Burmas aus dem Jahre 1947, in der Präambel und in Art. 1 Abs. 2 des Verfassungsgesetzes über die tschechoslowakische Föderation vom 27. 10. 1968, in Abschnitt I des Einführungsteiles der Verfassung Jugoslawiens vom 21. 2. 1974 und in Art. 72 der Verfassung der UdSSR vom 7. 10. 1977. Keines dieser Sezessionsrechte existiert heute noch. Das burmesische Sezessionsrecht wurde 1974 wieder abgeschafft. Das jugoslawische und das sowjetische Sezessionsrecht wurde nicht gewährt, sodass die gewünschten Sezessionen teilweise blutig erkämpft wurden. Lediglich im Fall der ehemaligen Tschechoslowakei könnte das in der Verfassung garantierte Sezessionsrecht einen positiven Einfluss auf die friedliche Trennung der beiden Staaten gehabt haben. Das Streben nach Sezession stellt somit, wenig verwunderlich, einen Hauptgrund für kriegerische Konflikte dar. 1994 hatten 49 Prozent der 39 weltweit stattfindenden Kriege einen sezessionistischen Hintergrund, 1996 waren es 40 Prozent und 2008 wurden beispielsweise rund 100 ­bewaffnete Autonomie- und Sezessionskonflikte gezählt, von denen 20 – gemessen an der Intensität der Gewaltanwendung – bereits die höchste Eskalationsstufe erreicht haben. Das Völkerrecht kennt zwar Regeln zur Austragung von Bürgerkriegen, bleibt jedoch bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit von Sezessionen uneindeutig, hat sich doch bis dato weder ein konkreter Anspruch auf eine Sezession noch ein universelles Verbot einer solchen he­rausgebildet. Letzten Endes liegt es im eigenen Ermessen und in eigener Verantwortung eines Staates, ob er ein sich für unabhängig erklärtes Territorium als souveränen Staat anerkennt oder nicht. So kann es durchaus der Fall sein, dass trotz höchst zweifelhafter Staatsqualität ein neues territoriales Gebilde eine breite Anerkennung erfährt (wie z. B. bezüglich Bosnien-Herze­gowina oder Südsudan) und in die Staatengemeinschaft integriert wird. Umgekehrt kann es vorkommen, dass aus rein taktisch-politischen Gründen einem funktionierenden Staat von zahlreichen – oft politisch äußerst bedeutenden – Staaten die Anerkennung verweigert wird, was ihm eine Partizipation an den internationalen Beziehungen natürlich in erheblichem Maße erschwert. Diese Nichtanerkennung trifft z. B. auf ­Somaliland zu, das sich vom Failed State Somalia für unabhängig erklärt hat. Vor allem kommt es in zahlreichen afrikanischen und asiatischen Staaten immer wieder zu teils bewaffneten Sezessionskonflikten, wie z. B. in ­Niger, Nigeria, Äthiopien (Stichwort Tigray), Myanmar, auf den Philippinen, im Süden Thailands oder im Nordosten Indiens, um nur einige wenige Regionen zu nennen, auf die im weiteren Verlauf der Darstellung allerdings nicht eingegangen werden kann. Gegenwartsbezüge sind also reichlich vorhanden. Man mag dies bedauern, kritisieren oder akzeptieren, nur ignorieren lassen sich derartige Erscheinungen nicht, und wenn dies dann doch geschieht, dann mit teilweise katastrophalen Konsequenzen, wie der Bosnien-Krieg 1992 – 1995 in seiner ganzen Brutalität gezeigt hat. Martin Braml und Gabriel Feldermayer äußerten 2017 angesichts der ­damaligen massiven Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens in der FAZ den folgenden grundlegenden Gedanken zum Recht auf Separatismus und die damit einhergehende Veränderung von Grenzen: »Legalisten mögen sich, wie im Falle Spaniens geschehen, hinter der Verfassung verstecken, die keine Abspaltung einzelner Landesteile vorsieht. Hätten die Legalisten ihrer Zeit immer recht behalten, wäre die Schweiz heute noch deutsch, die Niederlande spanisch, Polen nicht existent und die Vereinigten Staaten befänden sich noch im Kolonialbesitz des British Empire. Die Geschichte zeigt, dass die vermeintliche Unverrückbarkeit von Grenzen lediglich eine Überhöhung des Status quo darstellt und dass das Verschieben von Grenzen gerade auch Ausdruck der Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts der Völker ist. Die Ablehnung von gewaltsamen Grenzverschiebungen ist demokratischer Konsens; der ­Umkehrschluss gilt für das Nicht-Verschieben von Grenzen unter Einsatz von Gewalt bedauernswerterweise nicht.« Das hier deutlich werdende Problem mancher Grenzverläufe, die z. B. durch Kolonialmächte in Afrika ohne Rücksicht auf ethnische Gegebenheiten gezogen wurden oder aufgrund einer ethnischen Gemengelage wie u. a. auf dem Balkan heftige Konflikte zur Folgen hatten bzw. haben, führen dann oft dazu, dass manche Volksgruppen im Sinne einer eigenständigen Nation ihre politische, wirtschaftliche und/oder kulturelle Unabhängigkeit fordern, notfalls auch mit dem in Europa längst überholt geglaubten Mittel des Krieges. Ja, der Krieg war (vielleicht ist er es auch noch aktuell, siehe den Krieg Russlands gegen die Ukraine) oft ein Geburtshelfer der meisten Nationalstaaten im westlichen Europa. Gerade die Abgrenzung oder – historisch betrachtet – v. a. der Kampf gegen andere Nationen trugen in entscheidendem Maße zur Herausbildung einer eigenen Identität bei und stärkten den inneren Zusammenhalt, der durch eine glorifizierende Erinnerung an triumphale Siege, an am Rande der Vernichtung ­stehende Niederlagen oder an welches Blutvergießen auch immer, in vielfältiger Weise – oft in Form von Denkmälern, Heldenepen, Schlachtengemälden u. Ä. – mythisch überhöht oder instrumentalisiert wurde bzw. nach wie vor wird, denken wir nur an den Amselfeld-Mythos der Serben, der bis heute in Form eines Feindbildes gegenüber den bosnischen Moslems nachwirkt. Bleibt trotz allem die Frage offen, ob es einen rechtmäßigen historischen Anspruch eines Volkes bzw. einer Nation oder einer politischen Einheit auf ein eigenes unabhängiges Territorium gibt. Mit welchem Recht soll nämlich dem einen Volk die Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit zugestanden werden und dem anderen nicht? Würde man allerdings allen Völkern, d. h. auch den kleinen und kleinsten ethnischen Gruppen, ein Recht auf Wahrung ihrer Identität, Kultur und Sprache zubilligen, stünde man vor dem großen Problem der praktischen Umsetzung. Ein Ansatz, dieses ­Dilemma aufzulösen, könnte darin bestehen, nationalen Minderheiten so weit wie möglich Selbstbestimmung in Einklang mit Demokratie, Achtung der Menschenrechte und dem Willen zu Toleranz und Transparenz als ­Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben einzuräumen. Leicht gesagt, aber in der Realität oft kaum oder gar nicht durchsetzbar. Mit einem effektiven Minderheitenschutz, der aufgrund des Rechts, die Muttersprache im öffentlichen Leben zu gebrauchen, und der Ausübung politischer und kultureller Menschenrechte ein friedliches Neben- und Miteinander von Völkern und Ethnien ermöglicht, wäre dennoch schon viel erreicht.

Während 1992 die damaligen politischen Vertreter der heutigen Staaten Tschechien und Slowakei beschlossen, künftig getrennte Wege zu gehen, und dann mit Beginn des Jahres 1993 ihre Staatenunion, die Tschechoslowakische Föderative Republik (CSFR), auf friedlichem Wege auf lösten, zerfiel parallel mit Jugoslawien ein weiterer Staat in Europa - allerdings hier auf gewaltsame Weise unter Einsatz militärischer Mittel. Mittlerweile beerben sieben Staaten - Slowenien, Kroatien, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo - die frühere Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien; wobei die beiden Letztgenannten allerdings hinsichtlich ihrer Souveränität bzw. ihrer internationalen Anerkennung bis heute zu Diskussionen Anlass geben. Anhand dieser einleitenden Beispiele, von denen der Zerfall Jugoslawiens im Verlauf des Buches noch ausführlich geschildert wird, lassen sich schon die zentralen Probleme skizzieren, die in dieser Darstellung untersucht werden sollen. Warum zerfallen Staaten, welches sind die Motive für Separatismus und Sezessionen, welche Rolle spielen dabei die Idee der Nation bzw. nationalistische Beweggründe, wie laufen derartige Prozesse ab und warum dann häufig mit Gewalt und eben leider nicht friedlich? Und - zuletzt - wie können sich neu entstehende Staaten international behaupten? All diese Fragen gilt es einer näheren Betrachtung zu unterziehen, zu diskutieren und zu bewerten.Die heutige Menschheit gliedert sich in fast 200 Nationen, die in einem eigenen Staatswesen oder als größere Minderheit in einem Staat leben; hinzu kommen zahlreiche weitere ethnische Gruppen, die für sich den Anspruch reklamieren, eine Nation zu sein, zum Teil friedlich, zum Teil aber auch auf gewaltsame Weise. So lassen sich wissenschaftlichen Schätzungen zufolge auf der Welt insgesamt rund 8000 Nationen identifizieren. Dabei verändern sich nationale Identitäten mit der Zeit; sie können sich verstärken oder abschwächen. Und nach und nach können auch neue Nationen entstehen. Ein gewisser Prozentsatz von ihnen wird dann irgendwann die staatliche Unabhängigkeit anstreben, sodass es nach wie vor ein großes Reservoir für Separatismus gibt.Nicht nur scheint also trotz Globalisierung nach wie vor für die meisten Menschen keine Bindung von so großer Bedeutung zu sein wie die an die eigene Nation - auch wenn dieser Begriff alles andere als einfach und plakativ zu definieren ist. Separatistische Bewegungen reklamieren in diesem Zusammenhang jedenfalls ein Recht auf politische Selbstbestimmung von Völkern, aus dem sie ein Sezessionsrecht im Sinne einer normativen Vorstellung des europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts ableiten.Auch wenn die vom Nationalgefühl so hoch bewertete Unabhängigkeit der Nation häufig eine Illusion bzw. Utopie darstellt - allein schon oft aufgrund der Kleinheit des Gebietes, der geringen Kopfzahl einer nach Selbstständigkeit strebenden ethnischen Gruppe oder infolge ökonomischer Schwäche -, so finden sich separatistische, auf den Gedanken der eigenen Nation beruhende Tendenzen weltweit; getreu der Devise des 19. Jahrhunderts »Jede Nation ein Staat - jeder Staat eine Nation«, die augenscheinlich auch im 21. Jahrhundert noch eine erhebliche Faszination ausübt. Schließlich haben auch neuere und aktuelle Bindungen, Bezugspunkte bzw. Identifikationen wie beispielsweise der Kommunismus im 20. Jahrhundert oder nach dem Zweiten Weltkrieg die Idee und praktische Umsetzung eines möglichst vereinten Europas es nicht oder nur teilweise vermocht, den hohen Stellenwert der Nation aufzuheben. Nationen stellen somit bis heute eine Realität dar. Und das Nationalgefühl, in übersteigerter Form der Nationalismus, bildet auch in Zeiten der Demokratie und europäischen Kooperation eine politische Kraft ersten Ranges.Nach wie vor sind die Konflikte, die aus dem Unabhängigkeitswillen mancher Nationen bzw. ethnischer Gruppen und ihrer tatsächlichen Abhängigkeit von anderen Volksgruppen oder Staaten, sei es in wirt

Erscheinungsdatum
Zusatzinfo Illustrationen
Verlagsort Reinbek
Sprache deutsch
Maße 150 x 227 mm
Einbandart kartoniert
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Bürgerkrieg • Geopolitik • Konflikte • Nation • Nationen • Politik • Selbstbestimmung • Seperatismus • Seperatismusbewegung • Sezession • sezessionen • sezessionsbestrebungen • Staat • staatliche Unabhängigkeit • Staatsbildung • Staatsentstehung • Staatsgründungen • Staatszerfall • Unabhängigkeit • Unabhängigkeitsbestrebungen • Unabhängigkeitsbewegungen • Unabhängigkeitswillen
ISBN-10 3-95768-257-6 / 3957682576
ISBN-13 978-3-95768-257-4 / 9783957682574
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