Katastrophe vor der Haustür - Sofortaktiv (eBook)

Fürsorge für die Kolleg:innen & Psychohygiene

Handreichungen

Nach dem Erleben einer Katastrophe sind direkt Betroffenen in einem angespannten und aufgeregten Zustand – dies kann auch für die Helfer:innen vor Ort so sein. Um eine erste praktische Orientierung zu geben, entwarfen wir eine Handreichung für Kolleg:innen, die als Kopiervorlage in der Anlage zu finden sind.

Unsere Hinweise bezogen sich auf die weiter oben geschilderten Prinzipien Stevan Hobfolls‘ und auf eine erste Orientierung im Kontakt mit Menschen nach einer Katastrophe. Bedeutsam waren hier für uns die Zuwendung und das in Kontakt zu gehen und genau das anzuwenden, was wir schon können, womit wir uns in der Regel sicher fühlen.

Vor Ort war es natürlich anders als in der Praxis: Arbeit an ungewohnten und auch ungewöhnlichen Orten und in einem eher unüblichen Zeitrahmen – dieser reichte von Kurzinterventionen innerhalb weniger Minuten bis hin zu geplanten Terminen von 30-60 Minuten. Wir ermutigten unsere Kolleg:innen, offen für die Bedürfnisse der Menschen vor Ort zu sein und auf Ihre psychotraumatologischen Kernkompetenzen zu vertrauen.

Die Gespräche wurden evaluiert und eine Kurzdokumentation des Einsatzes erwartet. Hierzu genügten uns Notizen auf einen Schreibblock, welche unter den üblichen Datenschutzbestimmungen aufbewahrt werden sollten.

Evaluation war notwendig, da wir nachweisen wollten, ob und in welchem Ausmaß unsere Arbeit effektiv war und ob ggf. Verbesserungen gewünscht wurden.

Wichtig war uns auch der klare Hinweis auf das, was wir nicht tun wollten: So vermittelten wir keine Ferienfreizeiten, Stadtranderholungen usw. da wir nicht einschätzen konnten, wer hinter solchen Angeboten stand.

Auch wenn die Flutkatastrophe eine große Hilfsbereitschaft unter der Bevölkerung auslöste, gab es auch unseriöse oder auch schädliche Hilfsangebote!

Wir nahmen nur Kolleg:innen in unser Netzwerk auf, von deren beruflichen Fachlichkeit wir uns – soweit es uns möglich war – überzeugt hatten.

Ebenso machten wir keine Werbung für kostenpflichtige Angebote von Kolleg:innen für Weiterbildung, Supervision o.ä. Wir verstanden uns als Netzwerk zur Unterstützung der betroffenen Menschen durch unsere Fachkompetenz. Wir betonten unsere Religionsfreiheit und Unabhängigkeit, folgten unseren rechtlichen und ethischen Vorgaben und Grundsätzen als psycho-traumatologisch ausgebildeten KJP, PP, ärztliche Psychotherapeuten.

Hygientipps zur Vermeidung von Infektionen (Stand: August 2021)

Mit der Gründung des Netzwerkes Soforthilfe Psyche waren wir uns auch von Anfang unserer Verantwortung unserer Kolleg:innen bewusst. Zum persönlichen Schutz bei der Arbeit in einem Katastrophengebiet entwarf ich (DL) einen Leitfaden zur Infektionsprophylaxe. Im Kontakt mit vielen Menschen und Katastrophengebieten treten häufig Infektionskrankheiten auf wie z.B. Erkältung, massive Magen-Darm-Infekte, ggf. Cholera usw. auf.

Wir baten die Kolleg:innen – auch wenn sie im „Unterstützungs-Modus” waren – auf ihre psychische und körperliche Gesundheit zu achten.

Zur Unterstützung der körperlichen Gesundheit gaben wir Informationen und Anregungen (siehe Kopiervorlage in der Anlage).

Supervisionsangebot

Supervision ist ein fester Bestandteil qualifizierter psychotherapeutischer Arbeit, unterstützt Kolleg:innen bei der Selbstreflexion und aktiviert Kompetenzen für die herausfordernde Arbeit. Wir baten die Kolleg:innen sich bei Bedarf an ihre bekannte Supervisor:innen wenden.

Falls diese keine Kapazitäten hatten, konnten wir auf eine Gruppe von erfahrene Supervisor:innen zugreifen, welche kostenlose Supervision für unser Netzwerk anboten.

Aus unseren beruflichen Tätigkeiten waren wir gut bekannt mit anderen Supervisor:innen im Traumabereich. Einige hatten sich mit dem Angebot der Supervision von sich aus gemeldet, andere fragten wir an, so dass wir schließlich einen Pool von bis zu zwölf Kolleg:innen hatten, die zur Verfügung standen.

Fortbildungsangebote

Fürsorge für die Kolleg:innen bedeutete für uns auch, kurzfristig qualifizierte und kostenlose Fortbildungen zu verschiedenen Themen aus dem Bereich der Psychotraumatologie anzubieten, mit denen die Kolleg:innen gerade konfrontiert waren. So waren es zu Beginn Fortbildungen zu Akuttrauma, nach den folgenden Wochen und Monaten dann zu posttraumatischen Traumafolgestörungen.

Viele Kolleg:innen fragten sich, was fachlich in einer solchen Akutsituation genau zu tun sei. Als Traumaspezialist:innen hatten sie in ihren Ausbildungen die gängigen Interventionsmöglichkeiten und Strategien kennen gelernt. Im alltäglichen Praxisablauf haben viele Klient:innen jedoch i.d.R. frühere oder länger zurückliegende Traumatisierungen erlebt. Einzelne kommen nach Unfällen oder Belastungen durch medizinisch notwendige Behandlungen.

Im „normalem“ beruflichen Alltag war jedoch niemand zuvor in dieser Schwere und Häufigkeit mit einer solchen Problemsituation konfrontiert gewesen.

Die Kolleg:innen hatten also großes Interesse und Bedarf nach einer spezifischen, auf die jetzige Situation zugeschnittenen Fortbildung. Fünf solcher Fortbildungen fanden statt, eine davon für Fachleute, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiteten, eine markierte später den Übergang von der Akutversorgung zum Umgang mit der beginnenden Chronifizierung im weiteren Verlauf.

Wir konnten Kolleg:innen gewinnen, die diese Fortbildungen kostenlos durchführten. Später konnten wir sie aus Spendengeldern bezuschussen. Sie waren für die Teilnehmenden des Netzwerks Soforthilfe Psyche kostenfrei.

Zum Thema Akuttraumatisierung und Posttraumatischer Belastungsstörung fanden Fortbildungen mit Dr. Michael Hase und Peter Liebermann statt.

Für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen konnten wir mit Ana Gomez, einer Psychotherapeutin, Autorin und Dozentin aus Phoenix/Arizona (USA), im Januar 2022 ein Webinar zum Thema „Verständnis von und Umgang mit Posttraumatischer Aggression bei Kindern“ anbieten.

Außerhäusige Praxistätigkeit Rheinland-Pfalz

Die Kolleg:innen, die sich zur Mitarbeit in unserem Netzwerk gemeldet hatten, arbeiteten in den ersten Wochen ehrenamtlich. D. h. sie verließen ihre Praxen und Arbeitsstätten, fuhren mit eigenen PKWs zu ihren Sprechstunden in die von der Flut betroffenen Regionen. Nach ca. 4 Wochen kontaktierte wir die Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz (KV RLP) mit der Frage, ob die Kolleg:innen für ihre Tätigkeit Unterstützung z.B. einen Fahrtkostenzuschuss o.ä. erhalten könnten. Diese Anfrage geschah aus dem Wissen heraus, dass eine hochqualifizierte, zeitaufwendige Arbeit sich nur bedingt mit der jeweils „normalen Tätigkeit zum Broterwerb“ vereinbaren ließ. Von Seiten der KV RLP wurde innerhalb kürzester Zeit angeboten, dass Kolleg:innen einen Antrag auf eine befristete außerhäusige Praxistätigkeit stellen konnten. Voraussetzung war, dass die jeweiligen Kolleg:innen eine Niederlassung im Bereich der KV RLP hatten. Zu Beantragung sollte man angeben, an welchem Ort und unter welcher Adresse gearbeitet wurde. Dies war z.T. schwierig, da die Infrastruktur in vielen Regionen so stark zerstört war, dass kreativ alternative „Praxisorte“ gefunden werden musste: das Gemeindehaus einer Kirche, die Parkbank bei einem Versorgerzelt, ein Zirkuszelt, an einem Bahnhof um nur einige Beispiele zu nennen. Diese unbürokratische und sofortige Unterstützung der KV RLP erstaunte, freute und erleichterte uns sehr und sie war für viele Kolleg:innen eine große Hilfe und Unterstützung!

Aufwandsentschädigung

Die Akutinterventionen und Therapien in den Praxen wurden im Rahmen der üblichen Praxistätigkeit von den Krankenkassen finanziert, sofern die Kolleg:innen eine Kassenzulassung hatten. Privatpraxen waren auch aktiv und konnten Selbstzahler oder Privatversicherte versorgen. Auch Interventionen in Beratungsstellen waren im dortigen Vorgehen finanziert.

Anders sah es mit den Tätigkeiten vor Ort aus. Teilweise übernahm die KV Rheinland-Pfalz die Kosten, indem sie erlaubte, angesichts der Not und des Bedarfs, improvisierte Therapieräume als Praxisaußenstellen zu nutzen.

Viele Kolleg:innen vor Ort und wir selber in der Organisation hatten aber ungefähr zwei Monate lang kostenlos gearbeitet. Nun ließ es die Spendenlage zu, über eine Aufwandsentschädigung nachzudenken.

Wir kamen schließlich zu einer Regelung, mit der wir selbst eine Aufwandsentschädigung erhielten und die Kolleg:innen vor Ort ihre Arbeit beim Netzwerk im Rahmen der üblichen Kassensätze und begrenzt auf drei Therapieeinheiten abrechnen konnten. Ferner war es uns möglich, die Kosten von Therapien gesetzlich Versicherter, die wegen der hohen Nachfrage nur...