Fortschritt und Regression (eBook)
200 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75734-5 (ISBN)
Fortschritt ist sozialer Wandel hin zu einer Situation, in der die Verhältnisse nicht nur anders, sondern besser werden - etwa dadurch, dass die Sklaverei abgeschafft wird und die Vergewaltigung in der Ehe als Verbrechen gilt. Viele würden dem zustimmen und doch hat die Vorstellung eines generellen gesellschaftlichen Fortschritts ihren Glanz verloren. Sie ruft sogar Skepsis hervor. Hingegen wächst die Neigung, etwa die Zunahme autoritärer Ressentiments und rechtspopulistischer Bewegungen als eine Art von Regression zu bewerten.
Rahel Jaeggi verteidigt in ihrem Buch das Begriffspaar Fortschritt und Regression als unverzichtbares sozialphilosophisches Werkzeug für die Diagnose und Kritik unserer Zeit. Als fortschrittlich oder regressiv versteht sie nicht nur das Resultat, sondern auch die Gestalt der gesellschaftlichen Transformationsprozesse selbst. Indem sie nach den Dynamiken sozialen Wandels fragt sowie nach den Erfahrungsblockaden, die regressiven Tendenzen Vorschub leisten, entwickelt sie einen Begriff des Fortschritts, der strikt materialistisch und radikal plural, also durch und durch zeitgemäß ist.
<p>Rahel Jaeggi, geboren 1966, ist Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet dort seit 2018 das <em>Centre for Social Critique</em>.</p>
7Vorwort
Ich weiß, dass ich ungefähr Mitte der sechziger Jahre, vielleicht sogar vierundsechzig schon, vielleicht fünfundsechzig, und ganz sicher aber sechsundsechzig, dass ich in diesen Jahren gemerkt habe, dass die Sommer von Jahr zu Jahr länger, und nicht nur länger, sondern auch besser werden. Und dass ich eigentlich den Eindruck hatte, die Welt wird von Jahr zu Jahr besser – und dass man das im Sommer aber am deutlichsten merkt […].
Peter Kurzeck[1]
Hat der Fortschritt Jahreszeiten?
Dietmar Dath[2]
Dieses Buch beschäftigt sich mit einem Thema, das die zeitgenössische Diskussion philosophisch wie politisch umtreibt, auch wenn das nicht immer offen zutage liegt: mit dem sozialen Fortschritt und seinem Gegenpol, der Regression. Dabei ist die Situation, so viel lässt sich sagen, unübersichtlich.
Auch wenn Fortschritte hier und dort zu verzeichnen sind: Von der Einschätzung, dass die Menschheit sich »im Wechsel von Ruhe und Bewegung, von Gutem und Bösem, zwar langsam, aber stetig auf eine größere Vollkommenheit«[3] zubewege, wie es Jacques Turgot in einem der Gründungstexte der modernen Fortschrittsidee formuliert hat, sind die meisten Menschen heutzutage weit entfernt. 8Das gilt nicht etwa nur für diejenigen Orte der Weltgeschichte, die in Krieg, Gewalt und Chaos, in offener Ausbeutung und Unterdrückung versinken und die von den Segnungen des Fortschritts immer schon nur die dunkle Seite erfahren haben. Der Ukraine-Krieg und die anhaltenden Kriege in Libyen, Syrien und an vielen anderen Orten der Welt, die Lage der Frauen in Afghanistan und im Iran, aber auch das weltweite Wiedererstarken nationalistischer und autoritärer Bewegungen lassen die Befürchtung aufkommen, dass bereits erreichte Fortschritte zunichtegemacht werden könnten. Und die in den letzten Jahren im Mittelmeer ertrunkenen Geflüchteten sind zum Sinnbild dafür geworden, dass an den Grenzen Europas – ebendesjenigen Europas, das andernorts im Namen von Freiheit und Demokratie mit militärischem Einsatz verteidigt werden soll – selbst Mindeststandards der Humanität unterlaufen werden.[4] Wenn gleichzeitig brennende Wälder und schmelzende Gletscher die Klimakatastrophe auch in den privilegierten Teilen der Welt immer fassbarer werden lassen, sät das Zweifel an den Errungenschaften der sich als »fortschrittlich« verstehenden Lebens- und Wirtschaftsweise der westlichen Welt. Selbst im »Herzen der Bestie« scheint so die Fortschrittshoffnung aufgebraucht. Dass eine deutsche Regierung unter dem Titel »Fortschrittskoalition« antritt, klingt angesichts der Vielzahl der sich miteinander verflechtenden ungelösten Krisen wie das Pfeifen im Walde, mehr nach einer Beschwörungsformel als nach einem Programm.
Umstritten ist aber nicht nur die Sache, also die Frage, ob es so etwas wie Fortschritt historisch gegeben hat oder in Zukunft geben wird; umstritten ist schon der Begriff des Fortschritts selbst. Während manche Theoretiker:innen unverblümt einen stetigen kumulativen Fortschrittsprozess in vielen Bereichen des menschlichen Le9bens konstatieren,[5] halten andere schon den Begriff des Fortschritts für überholt und gefährlich oder sogar, wie Ashis Nandy es drastisch fasst, für »eine[n] der schmutzigsten Begriffe unseres Wortschatzes«.[6] Und während einige ihrer Hoffnung auf Emanzipation mindestens implizit eine Fortschrittsgeschichte unterlegen, konstatieren andere, dass wir uns von solchen »antiquierten Entwicklungsbegriffen«[7] gerade unter dem Gesichtspunkt der Bekämpfung sozialer und kolonialer Herrschaft frei machen müssen. James Tully bringt es auf den Punkt: »Die Sprache von Fortschritt und Entwicklung ist für zwei Drittel der Weltbevölkerung die Sprache von Unterdrückung und Herrschaft.«[8]
Während der Fortschritt heute also notorisch umstritten ist, hat der Begriff der Regression an historischem Momentum gewonnen. Regression, so scheint es, ist überall.[9] Als Regression und Rückfall hinter erreichte Errungenschaften der liberalen Demokratie gelten Regierungsstile, wie sie Donald Trump, Jair Bolsonaro, Viktor Orbán oder Recep Tayyip Erdoğan pflegen. Als Regression kann man das hasserfüllt rechtspopulistische Ressentiment gegen die Plurali10sierung und Diversifizierung von Identitäten und Lebensweisen auffassen.[10] Dass in den USA Bücher aus Schulbibliotheken aussortiert werden, weil sie gender- und race-bezogene Themen ansprechen,[11] zeigt, wie fragil die Erfolge der antirassistischen und antisexistischen Bewegungen sind. Und auch der Abbau des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates und die damit verbundene Prekarisierung der Lebensverhältnisse können als Symptom einer »regressiven Moderne« verstanden werden.[12]
Wenn aber Fortschritt die Kehrseite der Regression, Regression die Kehrseite des Fortschrittes ist, dann betritt der Fortschrittsbegriff damit sozusagen durch die Hintertür wieder die Szene. Wenn wir die um sich greifenden Angriffe auf als fremd markierte Existenzen und Lebensweisen aller Art als Regression verstehen, so legt das nahe, die Ausweitung von Menschen- und Bürgerrechten auf Gruppen, die zuvor durch eine dominante »Leitkultur« exkludiert waren, als sozialen Fortschritt zu verstehen; wenn der Abbau des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates als Regression aufgefasst wird, dann wohl deshalb, weil der in der europäischen Nachkriegsgeschichte ermöglichte Ausbau des Sozialstaats bei allen mit ihm verbundenen Problemen sozialen Fortschritt versprochen hat; und wenn autoritär-populistische Regierungsstile als Regression interpretiert werden, 11so trauert man, bei aller Kritik an deren real existierender Gestalt, damit wohl oder übel den welthistorischen Fortschritten hinsichtlich der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und liberaler Demokratie nach.
Die allzu einvernehmliche Fortschrittskritik könnte also von dem gezeichnet sein, was Sartre »mauvaise foi«[13] genannt hat: Unaufrichtigkeit. Man leistet sich radikale Fortschrittsskepsis, verlässt sich aber insgeheim und uneingestanden auf den Fortschritt. Erkennbar wird das in dem Moment, in dem die Gewissheit zerbricht. Das Resultat ist nicht selten eine fragwürdige Kombination aus theoretischem Relativismus und politischem Moralismus.
Wir sollten also über Fortschritt reden. Und über Regression. Inwiefern ist es angemessen, die hier skizzierten Zeiterscheinungen als eine politisch und sozial regressive Tendenz zu bezeichnen – und nicht nur als Zusammenbruch unserer Hoffnungen? Welchen Nutzen haben die Kategorien »Fortschritt« und »Regression« für das kritische Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungen – und gehen mit ihrer Verwendung nicht auch Risiken einher?
Fortschritt ist, so sagt man oft, ein Wandel zum Besseren; entsprechend wäre Regression ein Wandel zum Schlechteren. Das stimmt zwar irgendwie, aber irgendwie auch nicht. Entscheidend ist, und für diese These werde ich in diesem Buch argumentieren, dass es sich beim Fortschritt um eine Form des Wandels handelt, genauer: um eine bestimmte Weise, auf Krisen zu reagieren und Probleme zu bewältigen. Fortschritt ist, auf eine kurze Formel gebracht, ein sich anreichernder, Regression ein systematisch blockierter Problemlösungs- und Erfahrungsprozess.
Fortschritt, so wie ich ihn im Laufe dieser Untersuchung fassen werde, ist dann gerade nicht eine Chiffre für die sich auf die Schulter klopfende, »an sich selbst triumphierende«[14] whig history westlich-12imperialistischer Gesellschaften,[15] und Regression nicht das paternalistische Verdikt über die vermeintlich hinter der westlichen Moderne Zurückgebliebenen. Vielmehr ist das Begriffspaar »Fortschritt und Regression« vor allem auch das begriffliche Medium der Kritik und Selbstkritik ebendieser sich fortschrittlich wähnenden Gesellschaften.
Der Verweis auf die als Fortschritt zu verstehenden Errungenschaften verabsolutiert dann auch nicht den Status quo, der Verweis auf soziale Regressionsprozesse sehnt sich nicht nach der guten alten Zeit. Im...
Erscheint lt. Verlag | 11.12.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | aktuelles Buch • autoritär • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Philosophischer Buchpreis 2024 • Populismus • Sozialphilosophie |
ISBN-10 | 3-518-75734-2 / 3518757342 |
ISBN-13 | 978-3-518-75734-5 / 9783518757345 |
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Größe: 1,4 MB
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