Erhard Weigels Philosophie (eBook)

Denken und Werk eines Lehrers von Leibniz und Pufendorf. Mit zwei Beiträgen von Wolfgang Detel
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2023 | 1. Auflage
319 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4457-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erhard Weigels Philosophie -  Rainer Specht
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Erhard Weigel (1625-1699), Mathematiker, Astronom, Physiker, Pädagoge, Philosoph und Erfinder, steht seit mehreren Jahren wieder zunehmend im Blickpunkt wissenschaftshistorischer Forschung. Der Lehrer von Leibniz, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an der Universität Jena lehrte, war eine zentrale Persönlichkeit der Wissenschaft der frühen Neuzeit. Weigels visionäres und manchmal urtümlich wirkendes Vorhaben, nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch das, was wir heute als Geisteswissenschaften bezeichnen, zu quantifizierender Forschung anzutreiben, seine pädagogischen Versuche, seine Bemühungen um die Verbesserung des allgemeinen, gewerblichen und technischen Bildungswesens im Reich und seine Anstrengungen zur Kalenderreform werden in dieser Einführung gut lesbar dargestellt. Die Heterogenität von Weigels Werk erschwert den Zugriff und hat eine umfangreiche Forschung bisher behindert; umso wichtiger ist diese erste Gesamtdarstellung. Rainer Specht und Wolfgang Detel gehen in zwölf übersichtlichen Abschnitten neben einer biographischen Skizze auf Weigels Pädagogik, seine Erkenntnistheorie, Mathematik und Wissenschaftstheorie ein sowie auf das Erbe Aristoteles' und Euklids, Weigels Werttheorie und seine Logik. Der Band schließt mit einer Darstellung von Weigels Enzyklopädie-Projekten und seinem Versuch, eine Gesamtwissenschaft in Gestalt einer »mathesis universalis« zu begründen.

Rainer Specht ist emeritierter Professor an der Universität Mannheim. In der Philosophischen Bibliothek gab er in zwei Bänden Francisco Suarez' »Über das Individuationsprinzip« heraus (PhB 294a und b).

2. Weigels Pädagogik


Wiedereinführung der Mathematik und der Realienfächer an den Schulen


Weigel war vermutlich kein mathematisches Genie. Er beherrschte anscheinend die Grundrechenarten, euklidische Geometrie, Potenz- und Proportionalrechnung, Trigonometrie, analytische Geometrie, Logarithmenrechnung und die mathematischen Verfahren der damaligen Astronomen. Dass Weigel von den mathematischen Umwälzungen, die sich zu seiner Zeit in Italien, den Niederlanden, Frankreich und England anbahnten, kaum etwas wusste, bemerkte Christian Huyghens wohl schon bei der einzigen Begegnung der beiden.1 Auf der anderen Seite darf man annehmen, dass Weigel ein begnadeter Mathematiklehrer war.2 Dafür spricht unter anderem die Entwicklung der Immatrikulationszahlen an der Universität Jena, die allerdings mehr als einen Grund hatte, zum Beispiel Jenas zentrale Lage, die niedrigen Lebenshaltungskosten und die modernen Trends der dortigen Theologie. Die Fachleute sind sich aber einig, dass einer der wichtigsten Anlässe für Jenas Aufstieg das von Weigel vertretene naturwissenschaftliche Denken war. Die Neuberufung erwies sich als Publikumsmagnet. Das Observatorium auf dem Dach des Kollegiengebäudes zog viele Studenten an. Weigels astronomische und physikalische Experimentalkurse, die später Sturm in Altdorf weiterführte, waren etwas Neues, Weigels Vortrag war lebhaft, fesselnd, verständlich und praxisnah und zog Kenner und Wissbegierige an. Es heißt in einem Zeugnis, das die Universitätsbibliothek Jena aufbewahrt: Kaum war von uns »das astrognostisch-heraldische Colleg angekündigt worden, als auch schon über 400 Studenten sofort zu unserem Hause strömten«,3 alle von einer ungewöhnlichen Wissbegierde erfüllt. Da für eine so große Anzahl nicht genug Platz »vorhanden war, musste man umgehend vor den Stadttoren im Freien eine Art von Hörsaal improvisieren«.4

Weigels Bauten und Erfindungen beeindruckten weit über Jena hinaus. Sein technisch hervorragend ausgestattetes Wohnhaus galt als mathematisch gestalteter Mikrokosmos; man bewunderte den Personenaufzug, den Ausschankautomaten und das aus verschließbaren Hähnen fließende Wasser. Vor allem aber beschäftigte sich Weigel mit Möglichkeiten der Einführung oder Verbesserung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts an Elementarschulen, Gymnasien und Hochschulen und setzte sich, um einen heutigen Ausdruck zu verwenden, bei Politikern als Lobbyist für Reformen des Erziehungswesens ein. Er steht in der Tradition einer zu Beginn des 17. Jahrhunderts einsetzenden Reformbewegung in der Pädagogik, die den Unterricht in Inhalt und Form verändern wollte: Aufwertung des Sachwissens gegenüber dem Wortwissen, Insistieren auf einer engen Verbindung von Theorie und Praxis in allen Lehrbereichen, Berücksichtigung der Muttersprache auch an sekundären und tertiären Anstalten, Ablehnung der exzessiven Schätzung des Lateinischen und lebendige Unterrichtsgestaltung an Stelle des Paukbetriebs.5

In den letzten 18 Jahren seines Lebens entfernte sich Weigel wegen anhaltender Zwistigkeiten immer mehr vom Universitätsbetrieb und konzentrierte sich auf pädagogische Tätigkeiten. Von 42 bekannten Schriften aus dieser Zeit beschäftigen sich 30 mit der Reform von Schulen und Kalenderwesen; 23 davon sind Eingaben an den Landtag, den Reichstag und den Kaiser oder Anleitungen für Eltern und Lehrer seiner Versuchsschule.6 Er klagt in der Analysis aristotelica über »das elende Los unserer Jugend« und moniert, dass man in Deutschland Kinder unter zwanzig Jahren mit Grammatikübungen belastet, die sie mehr verwirren als fördern. Weil seine Eltern arm waren, musste er schon mit elf Jahren Nachhilfeunterricht erteilen, er kam also nicht nur durch Berichte anderer, sondern auch durch eigene Erfahrung zu der Überzeugung, dass hierzulande beim Unterricht von Knaben manches ganz verkehrt läuft.7 Daran gibt er aber weder den Lehrern noch den Obrigkeiten die Schuld, denn diese tun nur, was ihnen der Lehrplan (»das Schulregister«) vorschreibt. Weigel erklärt, dieses Register sei »nach altem Schrot und Korn gemünzt« und nur deshalb noch in Geltung, weil es schon so lange gilt. Die Gelehrten hätten es besser wissen können, denn sie wurden bestellt, um zu empfehlen, was dem Gemeinwesen Nutzen bringt, und um auf Fehlentwicklungen hinzuweisen; dabei seien sie auch keineswegs chancenlos. Er selber habe schon vor mehr als zwanzig Jahren die Mathematikprofessoren von Wittenberg und Leipzig um ein Treffen gebeten, um mit ihnen über die Verbesserung des Kalenders zu beraten. Auf eine Eingabe dieser Gruppe hin wurde für den Reichstag die Diskussion über die Kalenderreform auf die Tagesordnung gesetzt. Ferner habe Weigel beim Landtag in Dresden Vorschläge zur Wiedereinführung von Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik an den Schulen eingereicht; auch daraufhin sei einiges unternommen worden.8

Die Überzeugung, dass man an deutschen Schulen den Unterricht in Mathematik und in den Realienfächern wieder einführen muss, gehört zu den Impulsen für Weigels pädagogische Bemühungen. Von den Werken Gottes in der Schöpfung und von den körperlichen und geistigen Werken kluger Menschen, berichtet er, kommt in deutschen Schulen seit Jahrhunderten wenig oder gar nichts mehr vor, obwohl die klassischen Autoren in vielen erhaltenen Texten ausführlich darüber berichten. Diese hat man bei uns zwar gelesen, aber nicht im Blick auf ihren Inhalt;9 die Gelehrten beschäftigten sich lieber mit Streitigkeiten über die Bedeutung von Vokabeln als mit der Kunst von Handwerkern und Mechanikern oder mit der Natur. Wenn man sich hier vernünftiger verhalten hätte, herrschte heute in der Welt Friede und Eintracht, und die Gelehrten interessierten sich nicht für die Verehrung sterblicher Autoritäten, sondern für das Lob und die Erkenntnis Gottes;10 das Gemeinwesen aber wäre um Tausende von nützlichen Produkten reicher.11 Weigel nimmt an, dass die wachsende Macht Europas in anderen Erdteilen unmittelbar mit seiner Überlegenheit in mathematiknahen Künsten wie Mechanik, Technik und Militärwesen zusammenhängt. Das sei aber nicht für alle Zeit genug. In einem Land, auf dessen Boden die Nationen Europas noch vor wenigen Jahrzehnten ihre Auseinandersetzungen austrugen und das noch immer unter den Folgen leidet, ließe sich durch mechanische Erleichterungen der Arbeit und durch Verbesserungen in der Produktion eine Menge erreichen. Schon jetzt aber lebten in Europa die Menschen wie das Vieh, wenn die Wissenschaft nicht die sogenannten bürgerlichen Künste erfunden hätte, die letztlich alle auf Mathematik beruhen. Erst sie haben es möglich gemacht, Arbeit und Mühe mit mechanischen Mitteln zu erleichtern, geschützt zu wohnen und Feinde dauerhaft abzuwehren.12

Trotzdem dreht man in deutschen Schulen weiter die Wirklichkeit um und möchte möglichst allen Kindern Latein in die Köpfe hämmern; dabei vernachlässigt man die Natur, die Gott geschaffen hat, mit ihren Pflanzen, Tieren und Mineralien und sogar die Formung des Charakters der Schüler.13 Wer nicht Latein gelernt hat, ist ein Tropf, und wer nicht deklinieren kann, ein Idiot oder (noch schlimmer) ein Laie. Solche Qualifikationen durch Lehrer sind schon deshalb unangebracht, weil sie maßlosen Hochmut stiften.14 Auf diesen Missstand geht Weigel häufig ein, denn nicht nur als Erfinder, sondern auch als Architekt, als Verantwortlicher für große öffentliche Bauten und als Bauherr eines technisch anspruchsvollen Privathauses war er auf leistungsfähige Handwerker angewiesen. Er schätzte ihr Können15 und wusste, dass wir in vieler Hinsicht auf sie angewiesen sind. Zwar hielt er es wegen der Verständigung zwischen Menschen verschiedener Völker für gut, dass man überall in Europa Latein versteht, erklärte es aber für falsch, dass man es den Schülern mit Hilfe von Grammatiken einbläut, die eigentlich für Erwachsene geschriebenen wurden; das sei genau so klug, wie wenn man unmündige Kinder beim Lesenlernen nicht die Buchstaben, sondern die Regeln für ihre Artikulation (Zunge an Gaumen, Mund weit öffnen) nachsprechen ließe.16 Deswegen lerne man bei uns Latein, bis man am Ende zwanzig Jahre alt ist, obwohl man alle anderen Sprachen, falls man es richtig macht, schon nach zwei Jahren passabel sprechen könne.17

Nach dem langen Krieg mit Mühsal und Armut müsste man endlich wieder Mathematik und Realienfächer in die Schulen bringen. Die richtigen Mittel, um sie leicht und mit Lust zu lernen, haben schon die weisen Griechen und Römer, unsere Lehrer in den freien Künsten Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Harmonielehre, gesucht und gefunden.18 Weigel bezieht sich auf die sieben Künste (Artes), also auf Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie, die im Mittelalter als propädeutische Fächer an den Artes-Fakultäten gelehrt...

Erscheint lt. Verlag 13.11.2023
Reihe/Serie Blaue Reihe
Blaue Reihe
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Erkenntnistheorie • Frühe Neuzeit • G. W. • leibniz • Logik • Mathematik • Pädagogik • Wissenschaftsgeschichte • Wissenschaftstheorie
ISBN-10 3-7873-4457-8 / 3787344578
ISBN-13 978-3-7873-4457-4 / 9783787344574
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