Politisches Scheitern (eBook)

Ein ambivalentes Phänomen im Europa der Vormoderne (11.-18. Jahrhundert)
eBook Download: EPUB
2023
235 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-108720-7 (ISBN)

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Politisches Scheitern -
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Das politische Scheitern im Europa der Vormoderne ist bis heute von der Geschichtswissenschaft mit wenigen Ausnahmen nicht als eigenes Themenfeld beforscht worden. Ausgehend von einem integrativen Politikbegriff im Sinne der Neuen Politikgeschichte widmet sich der Band solchen historischen Akteuren und Gruppen, Bestrebungen und Entwicklungen, deren originäres wie zugeschriebenes Scheitern eine essentielle Bedeutung für kollektive Ordnungssysteme entfaltete.

Der Untersuchung im Rahmen des Sammelbandes liegen drei elementare Fragen zugrunde: Was wird als Scheitern betrachtet? Wer betrachtet Scheitern? Wie verändern sich diese Konstellationen im Verlaufe der Zeit? Zur Beantwortung der Fragestellungen mobilisieren die versammelten Fallstudien, die vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert reichten, Konzepte und Methoden aus der Politik-, Kommunikations- und Medienwissenschaft.

Gemeinsam ist allen Beiträgen das Aufdecken synchroner wie diachroner Perspektivität. Anstatt verabsolutierende Bewertungskriterien zur Analyse des politischen Scheiterns zu postulieren, wird dieses relational erforscht, d.h. im Rahmen einer permanent praktizierten Akkommodation zwischen verschiedenen Perspektivebenen, deren Identifizierung und Synopsis zum historischen Erkennen von Scheitern in seiner Ambivalenz befähigt.



Marie-Astrid Hugel und Roberto Berardinelli, EHESS Paris / Universität Heidelberg; Pauline Spychala, UPEC Paris / Universität Münster.

Einleitung


Marie-Astrid Hugel
Roberto Berardinelli
Pauline Spychala

1 Scheitern – ein komplexer Begriff


In der großen Encyclopédie der französischen Aufklärer Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d'Alembert findet sich kein Lemma „échec“ im Sinne von „Niederlage“, wohl aber ein Eintrag zum Schachspiel (Échecs), in dem erwähnt wird, dass der Verlust der Figur des Königs die Niederlage besiegle, was man mit der Formel „échec & mat“ (im Deutschen „schachmatt“) bezeichne.1 Untersucht man die Etymologie der deutschen Entsprechung ‚scheitern‘, gelangt man in die seemännische Sprachwelt: Scheitern bezeichnet in diesem Zusammenhang das Zerschellen eines Schiffes in Holzstücke, die Holzscheite.2 Wendet man Scheitern im übertragenen Sinne auf menschliches Handeln an, so ist damit im Deutschen – ebenso wie im Englischen mit den Termini fail/failure – zumeist Misserfolg, Versagen oder Niederlage gemeint. Ausgedrückt wird damit ein „Mangel an persönlicher Kompetenz und Ausdauer beziehungsweise […] ein Fehlverhalten“.3 Die Bedeutungsgehalte des Begriffes Misserfolg lassen sich in der Moderne häufig mit dem individuellen professionell-beruflichen und ökonomischen Scheitern verbinden.4

Für die Wahrnehmung von Scheitern als fehlerhaftem Verhalten und Inkompetenz lässt sich hier bereits konstatieren, dass es einer Form von kommunikativer Interaktion zwischen demjenigen, der scheitert und den beobachtenden Akteuren bedarf. Im Zuge dieses im weiteren Sinne kommunikativen Prozesses wäre es jedoch zu kurzgegriffen, von Scheitern lediglich als bloßem Feststellen menschlicher Makel durch andere zu sprechen. Es lässt sich vielmehr darüber hinaus aufgrund der komplexen Wahrnehmungs- und Deutungsfähigkeiten des Menschen als ein äußerst vielseitiges, ambivalentes Phänomen beschreiben. Scheitern kann geradezu moralisch-kulturell überhöht und in verschiedene Richtungen gedeutet werden. Einerseits können Außenstehende scheiternde Personen mit stark negativen Reaktionen wie Hohn, Spott und Verurteilung belegen. Handeln und Identität der Gescheiterten werden einer moralisierenden Bewertung unterzogen, an deren Ende oftmals ein Urteil gefällt wird – auf diese Weise wird Scheitern im eigentlichen Sinne erst kommunikativ produziert und menschlich erfahrbar. Andererseits ist auch Identifikation mit Gescheiterten durch Mitgefühl, Aufmunterung bis hin zu Solidarisierung beobachtbar. Menschliches Scheitern meint also mehr als individuellen Misserfolg in Form eines Fehlers, einer Niederlage oder Versagens. Stattdessen verweist Scheitern auf ein breites Spektrum zwischenmenschlicher Kommunikativität und Emotionalität.

In der Einleitung einer 2015 publizierten Aufsatzsammlung kommen Stefan Brakensiek und Claudia Claridge zu dem Schluss: „Scheitern kann nur, wer Pläne hat“.5 Man hat es demnach beim Scheitern mit verschiedenen Perspektiven zu tun: der Umsetzungsprozess, der Versuch, ein Ziel zu erreichen, wird durch ein Ereignis unterbrochen, wobei Letzteres das Scheitern im eigentlichen Sinne markiert – das jedoch wiederum logisch mit dem Vorgeschehen verbunden ist. Scheitern ohne vorheriges (tatsächliches oder unterstelltes) intentionales Handeln gibt es nicht. Wer Scheitern erkennen und verstehen will, muss sich also notwendigerweise zunächst mit dem antezedierenden Handlungsprozess beschäftigen.

So hat es wenig Erkenntnismehrwert, die Bedeutung gescheiterter Reform- und Protestbewegungen oder Verschwörungen und Umsturzpläne allein anhand ihres negativen Endresultats zu untersuchen.6 Die Träger solcher Bewegungen vermochten zwar nicht, ihre Ziele final durchzusetzen. Sie hinterließen aber dennoch einen nachweisbaren Fußabdruck in der Geschichte. Es gelang ihnen mitunter, die Entwicklung der letztlich triumphierenden politischen Seite entscheidend zu beeinflussen. So wurde das selbstbewusste, auf Demonstration von innen- wie außenpolitischer Stärke fußende Herrschaftsverständnis König Ludwigs XIV.7 maßgeblich durch die Krisenerfahrungen der jungen bourbonischen Dynastie im Zusammenhang mit den zahllosen innerfranzösischen Konflikten des 16. und 17. Jahrhunderts mitgeprägt. Die Prachtentfaltung der königlichen Schlösser und Gärten, der Ausbau des Beamtenapparates, die folgenreiche Katholisierungspolitik und die zahlreichen Kriege des Sonnenkönigs bleiben unverständlich, ohne die vorherige existenzielle Herausforderung der französischen Monarchie durch Hugenotten und Frondeure einzubeziehen.8 Die Regierungspolitik Ludwigs XIV. in den genannten Bereichen ließe sich somit durchaus als Kompensationshandlungen in Reaktion auf die langjährige innere Fragilität der Herrschaft der allerchristlichsten Monarchen deuten.

Das Scheitern von Bewegungen und Gruppierungen wie der Fronde oder der nach Eigenständigkeit und Sicherheit strebenden Hugenotten9 zeichnete sich durch eine äußerst dynamische Vorgeschichte aus, die verschiedene politische Alternativen zu politischer Zentralisierung und monarchischer Selbstherrschaft bereit hielt.10 Mit anderen Worten ausgedrückt: das politische Symbol und Ideal einer unbeschränkten Herrschaft, wie es in verschiedensten Ausdrucksformen unter Ludwig XIV. zelebriert wurde, kann nicht aus sich selbst heraus verstanden werden; es stellt kein Telos dar, auf das die historische Entwicklung im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts naturgesetzlich zulaufen musste.11 Der Dynamik und Vorgeschichte gescheiterter Initiativen wird nur derjenige gerecht, der es vermag, der Versuchung der Teleologie konsequent zu widerstehen. Die französische Historikerin Fabienne Bock hat diesbezüglich vor der Gefahr eines Geschichtsdeterminismus gewarnt, der die Vergangenheit des ‚Möglichen‘ auszublenden und die Forschung auf das Schreiben von Erfolgsgeschichte zu reduzieren droht.12 Wer also die Perspektive auf die zeitlich vorgelagerten Handlungsprozesse verschiebt, dem eröffnet sich Scheitern weniger negativ-final sondern vielmehr dynamisch-ergebnisoffen mit erheblichen Auswirkungen auf das historische Zeit- und Folgegeschehen.

Doch was kennzeichnet schließlich jenes Momentum des Scheiterns? Wie kann man es als Historiker erkennen und fassen? Es erscheint wenig überzeugend, Scheitern als ein sich selbst genügendes, autonomes Faktum zu beschreiben, das objektiv feststellbar ist. Die Wahrnehmung von Scheitern als vollbrachte, fehlgeschlagene Handlung bedarf der nachträglich bewertenden Reaktion durch die soziale Umgebung.13 Durch diesen performativen Akt zwischen dem sozialen Innen und dem sozialen Außen wird kommunikativ ausgehandelt, wer oder was gescheitert ist.14 Demnach muss Scheitern in einem Kommunikationsraum aktiv zugeschrieben, folglich sozial konstruiert werden. Die soziale Konstruktion von Scheitern ist als konstituierender Akt in den historischen Quellen nachweisbar. Man denke hierbei mit Blick auf die Vormoderne etwa an die gewaltsame Niederschlagung zahlloser Aufstände, Erhebungen und Bewegungen, die auf eine weitreichende Veränderung sozialer und politischer Strukturen abzielten und im Nachgang durch die berichtenden Quellenautoren verurteilt wurden – ihr Scheitern somit für die Mit- und Nachwelt als Narration kreiert wurde.

Die Bauernerhebungen im Frankreich des Jahres 1358, auch als Jacquerie bezeichnet, verwüsteten weite Landstriche in der Île-de-France, der Champagne, Picardie und in Teilen der Normandie. Vor dem Hintergrund großen Leids durch Pest, den Hundertjährigen Krieg, Plünderungen und hoher Abgaben an den Adel lehnte sich die Landbevölkerung gegen die als ungerecht empfundene Grundherrschaft auf und legte zahlreiche Herrensitze in Schutt und Asche. Als radikal und ungewöhnlich in ihren Dimensionen können ebenfalls die Erhebungen im Königreich England des Jahres 1381 angesehen werden, die sogenannte Peasants' Revolt.15 Aufstände mit hoher sozialer und politischer Tragweite ereigneten sich auch in der Mitte Europas. Besonders tiefgreifende, vor allem blutige Folgen zeitigte der Deutsche Bauernkrieg von 1524/25, der über den Bauernstand auf das städtische Milieu übergriff und von Peter Blickle treffend als „Revolution des gemeinen Mannes“ bezeichnet worden ist.16 Die Hervorhebung der Aufstände als gescheitert fand ihren deutlichen Widerhall in den berichtenden Chroniken, deren Autoren die Aufständischen und ihre Ziele mehrheitlich ablehnten. Die Hochstilisierung ihres Scheiterns lässt sich dabei als nachhaltige Bekräftigung der gottgegebenen Feudalordnung lesen. So interpretierte etwa der englische Chronist der Abtei St. Albans, Thomas Walsingham, das Ende der Peasants' Revolt als Eingreifen Gottes, der das Königreich England vor der Zerstörung gerettet habe.17

Eine ähnlich anmutende christlich-eschatologische Zuschreibung von Scheitern findet sich in einigen Medaillenprägungen wieder, die anlässlich des Untergangs der spanischen Armada...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2023
Reihe/Serie Colloquia Augustana
ISSN
Zusatzinfo 12 b/w ill.
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Mittelalter
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Confessionalism • Entstehung • Geschichtstheorie • Konfessionalismus • media history • Mediengeschichte • Staat • State • Theory of history
ISBN-10 3-11-108720-4 / 3111087204
ISBN-13 978-3-11-108720-7 / 9783111087207
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