Famine, Affluence, and Morality / Hunger, Wohlstand und Moral. Englisch/Deutsch. [Great Papers Philosophie] (eBook)
100 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962210-1 (ISBN)
Peter Singer, geb. 1946, einer der sowohl streitbarsten als auch einflussreichsten zeitgenössischen Philosophen. Die Herausgeber: Jonas Pfister, geb. 1977, Assistenzprofessor am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck, veröffentlichte bei Reclam u. a. 'Philosophie. Ein Lehrbuch' (UB 18767), 'Werkzeuge des Philosophierens' (UB 19138) und 'Kritisches Denken' (UB 14033). Tobias Zürcher, geb. 1981, arbeitet als Lehrer für Philosophie am Gymnasium und Fachmittelschule Thun, veröffentlichte bei Reclam zusammen mit Jonas Pfister 'Gedankenexperimente in der Philosophie' (UB 15090).
Peter Singer, geb. 1946, einer der sowohl streitbarsten als auch einflussreichsten zeitgenössischen Philosophen. Die Herausgeber: Jonas Pfister, geb. 1977, Assistenzprofessor am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck, veröffentlichte bei Reclam u. a. "Philosophie. Ein Lehrbuch" (UB 18767), "Werkzeuge des Philosophierens" (UB 19138) und "Kritisches Denken" (UB 14033). Tobias Zürcher, geb. 1981, arbeitet als Lehrer für Philosophie am Gymnasium und Fachmittelschule Thun, veröffentlichte bei Reclam zusammen mit Jonas Pfister "Gedankenexperimente in der Philosophie" (UB 15090).
Famine, Affluence, and Morality / Hunger, Wohlstand und Moral
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Literaturhinweise
Nachwort
Zum Autor
Hunger, Wohlstand und Moral
[229] Während ich dies, im November 1971, schreibe, sterben in Ostbengalen Menschen aus Mangel an Nahrung, Unterkunft und medizinischer Versorgung. Das Leid und der Tod, die sich jetzt dort ereignen, sind nicht unvermeidlich; nicht unvermeidlich in jedem fatalistischen Sinne des Wortes. Ständige Armut, ein Wirbelsturm und ein Bürgerkrieg haben mindestens neun Millionen Menschen zu mittellosen Flüchtlingen gemacht; dennoch liegt es nicht außerhalb der Möglichkeiten der reicheren Nationen, genügend Unterstützung zu geben, um jedes weitere Leid auf ein sehr geringes Maß zu reduzieren. Die Entscheidungen und Handlungen von Menschen können diese Art von Leid verhindern. Leider haben die Menschen die notwendigen Entscheidungen nicht getroffen. Auf individueller Ebene haben die Menschen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht in einer auch nur irgendwie nennenswerten Weise auf die Situation reagiert. Allgemein gesprochen, haben die Menschen keine großen Summen an Hilfsfonds gespendet; sie haben nicht an ihre parlamentarischen Vertreter geschrieben und eine Aufstockung der staatlichen Hilfe gefordert; sie haben nicht auf der Straße demonstriert, symbolisch gefastet oder etwas anderes getan, um den Flüchtlingen die Mittel zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zur Verfügung zu stellen. Auf Regierungsebene hat keine Regierung die Art von massiver Hilfe geleistet, die es den Flüchtlingen ermöglichen würde, länger als ein paar Tage zu überleben. Großbritannien zum Beispiel hat etwas mehr als die meisten Länder gegeben. Bis heute hat es 14 750 000 £ bereitgestellt. Zum Vergleich: Großbritanniens Anteil an den nicht rückzahlbaren Entwicklungskosten des anglofranzösischen Concorde-Projekts beläuft sich bereits auf über 275 000 000 £ und wird nach derzeitigen Schätzungen 440 000 000 £ erreichen. Daraus ergibt sich, dass der britischen Regierung ein Überschalltransportmittel mehr als dreißigmal so [230] viel wert ist wie das Leben von neun Millionen Flüchtlingen.
Australien ist ein weiteres Land, das auf Pro-Kopf-Basis in der Tabelle »Hilfe für Bengalen« weit oben steht. Die Hilfe Australiens beläuft sich jedoch auf weniger als ein Zwölftel der Kosten für das neue Opernhaus in Sydney. Der Gesamtbetrag, der aus allen Quellen bereitgestellt wird, beläuft sich derzeit auf etwa 65 000 000 £. Die geschätzten Kosten für den Unterhalt der Flüchtlinge für ein Jahr belaufen sich auf 464 000 000 £. Die meisten Flüchtlinge befinden sich nun schon seit mehr als sechs Monaten in den Lagern. Die Weltbank hat erklärt, dass Indien bis Ende des Jahres mindestens 300 000 000 £ an Hilfe aus anderen Ländern benötigt. Es scheint offensichtlich, dass Hilfe in diesem Umfang nicht zu erwarten ist. Indien wird gezwungen sein, entweder die Flüchtlinge verhungern zu lassen oder Mittel aus seinem eigenen Entwicklungsprogramm abzuziehen, was bedeuten würde, dass in Zukunft noch mehr Menschen in Indien verhungern werden.6
Dies sind die wesentlichen Fakten der gegenwärtigen Situation in Bengalen. Soweit es uns hier betrifft, ist diese Situation, außer in ihrem Ausmaß, nichts Besonderes. Die Notlage in Bengalen ist nur die jüngste und akuteste in einer Reihe von großen Notlagen in verschiedenen Teilen der Welt, die sowohl natürliche als auch vom Menschen herbeigeführte Ursachen haben. In vielen Teilen der Welt sterben Menschen ebenso unabhängig von einer besonderen Notlage an Unterernährung und Nahrungsmangel. Ich nehme Bengalen nur deshalb als Beispiel, weil es ein aktuelles Problem darstellt und weil die Größe des Problems dafür gesorgt hat, dass es in der Öffentlichkeit angemessen wahrgenommen wird. Weder Einzelpersonen noch Regierungen können behaupten, sie wüssten nicht, was dort vor sich geht.
Was sind die moralischen Implikationen einer derartigen Situation? Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass die Art und Weise, wie Menschen in relativ wohlhabenden Ländern auf eine Situation wie die in Bengalen reagieren, nicht zu rechtfertigen ist; vielmehr muss die gesamte Art und Weise, wie wir moralische Fragen betrachten – unser moralisches Begriffsschema –, und damit auch die Lebensweise geändert werden, die in unserer Gesellschaft als selbstverständlich angesehen wird.
Wenn ich für diese Schlussfolgerung plädiere, werde ich natürlich nicht behaupten, moralisch neutral zu sein. Ich werde jedoch versuchen, meine moralische Position [231] so zu vertreten, dass jeder, der bestimmte Annahmen akzeptiert, die ich explizit darlegen werde, hoffentlich auch meine Schlussfolgerung akzeptieren wird.
Ich gehe von der Annahme aus, dass Leiden und Tod durch Mangel an Nahrung, Unterkunft und medizinischer Versorgung schlecht sind. Meiner Meinung nach sind die meisten Menschen sich darüber einig, auch wenn man auf unterschiedlichen Wegen zur gleichen Ansicht gelangen kann. Ich werde nicht für diese Ansicht argumentieren. Die Menschen können alle möglichen exzentrischen Positionen vertreten, und aus einigen von ihnen würde vielleicht nicht folgen, dass der Tod durch Verhungern an sich schlecht ist. Es ist schwierig, vielleicht sogar unmöglich, solche Positionen zu widerlegen, und so werde ich der Kürze halber diese Annahme als akzeptiert betrachten. Diejenigen, die anderer Meinung sind, brauchen nicht weiterzulesen.
Mein nächster Punkt lautet wie folgt: Wenn es in unserer Macht steht, etwas Schlimmes zu verhindern, ohne dabei irgendetwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, sollten wir dies aus moralischer Sicht auch tun. Mit »ohne etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern« meine ich, ohne etwas vergleichbar Schlechtes geschehen zu lassen oder etwas zu tun, das an sich falsch, oder etwas moralisch Gutes nicht zu fördern, das in seiner Bedeutung mit dem Schlechten, das wir verhindern können, vergleichbar ist. Dieser Grundsatz scheint fast so unumstritten zu sein wie der letzte. Er verlangt von uns nur, das Schlechte zu verhindern, und nicht, das Gute zu fördern, und das auch nur dann, wenn wir es tun können, ohne etwas zu opfern, das vom moralischen Standpunkt aus gesehen vergleichbar wichtig ist. In Bezug auf die Anwendung meines Arguments auf den bengalischen Notstand könnte ich den Punkt sogar wie folgt einschränken: Wenn es in unserer Macht steht, etwas sehr Schlimmes zu verhindern, ohne dabei etwas moralisch Bedeutsames zu opfern, sollten wir es aus moralischer Sicht tun. Eine Anwendung dieses Grundsatzes wäre folgende: Wenn ich an einem flachen Teich vorbeigehe und sehe, dass ein Kind darin ertrinkt, sollte ich hineinwaten und das Kind herausziehen. Dabei würde meine Kleidung zwar mit Schlamm verdreckt, doch wäre das vergleichsweise unbedeutend, während der Tod des Kindes vermutlich eine sehr schlimme Sache wäre.
Der auf den ersten Blick unumstrittene Anschein des Grundsatzes, der soeben präsentiert wurde, ist trügerisch. Würde er, selbst in seiner eingeschränkten Form, befolgt, würde sich unser Leben, unsere Gesellschaft und unsere Welt grundlegend verändern. Denn das Prinzip nimmt erstens keine Rücksicht auf Nähe oder Distanz. Es macht keinen moralischen Unterschied, ob die Person, der ich helfen kann, das Kind eines Nachbarn [232] und zehn Meter von mir entfernt ist oder ein Bengali, dessen Namen ich nie erfahren werde, zehntausend Meilen entfernt. Zweitens macht das Prinzip keinen Unterschied zwischen Fällen, in denen ich die einzige Person bin, die etwas tun könnte, und Fällen, in denen ich nur einer unter Millionen in der gleichen Lage bin.
Meiner Meinung nach muss ich nicht viel dazu vorbringen, um die Weigerung zu verteidigen, Nähe und Distanz zu berücksichtigen. Die Tatsache, dass eine Person uns physisch nahe ist, so dass wir persönlichen Kontakt mit ihr haben, mag es wahrscheinlicher machen, dass wir ihr helfen werden, doch zeigt das nicht, dass wir ihr eher helfen sollten als einer anderen Person, die weiter entfernt ist. Wenn wir irgendeinen Grundsatz der Unparteilichkeit, Universalisierbarkeit, Gleichheit oder dergleichen akzeptieren, dann können wir niemanden diskriminieren, nur weil er weit weg von uns ist (oder wir weit weg von ihm). Zugegeben: Es ist zwar möglich, dass wir besser beurteilen können, was zu tun ist, um einer Person, die uns nahe ist, zu helfen, als einer, die uns fern ist, und dass wir vielleicht auch die Hilfe leisten können, die wir für notwendig erachten. Wenn dies der Fall wäre, dann wäre dies ein Grund, denjenigen, die uns nahe stehen, zuerst zu helfen. Das mag früher eine Rechtfertigung dafür gewesen sein, sich mehr um die Armen in der eigenen Stadt zu kümmern als um die Opfer einer Hungersnot in Indien. Leider hat sich die Situation für diejenigen, die ihre moralische Verantwortung gerne in Grenzen halten, durch die sofortige Nachrichtenübermittlung und den schnellen Transport geändert. Aus moralischer Sicht hat die Entwicklung der Welt zu einem »globalen Dorf« einen wichtigen, wenn auch noch nicht erkannten Unterschied in Bezug auf unsere moralische Situation gemacht. Fachkundige Beobachter und Supervisoren, die von Hungerhilfe-Organisationen ausgesandt werden oder ständig in den vom Hunger bedrohten Gebieten stationiert sind, können unsere Hilfe an einen Flüchtling in Bengalen fast genauso effektiv vermitteln, wie wir sie an jemanden in unserem eigenen Wohnblock verteilen könnten. Eine Diskriminierung aus geographischen Gründen scheint...
Erscheint lt. Verlag | 17.11.2023 |
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Reihe/Serie | Great Papers Philosophie | Great Papers Philosophie |
Übersetzer | Tobias Zürcher, Jonas Pfister |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Analyse • Bücher Philosophie • Deutsch • Deutsch Abitur Niedersachsen • Deutsch Abitur Nordrhein-Westfalen • Deutsch Abitur NRW • Deutschunterricht Georg Büchner Leonce und Lena • Drama Georg Büchner • effektiver Altruismus • Englisch • English • Erläuterung • Ethik • ethik texte • Ethik-Unterricht • Gedankenexperiment • gelb • gelbe bücher • great papers • Handlungsphilosophie • Kind im Teich • Klassenlektüre • Lektüre • Literatur Epoche Junges Deutschland • Literatur Epoche Vormärz • Moralphilosophie • Originalsprache • Philosophie • philosophie oberstufe • philosophie texte • Philosophie-Unterricht • philosophische Bücher • Praktische Philosophie • Reclam Hefte • Reclams Universal Bibliothek • Schullektüre • Schullektüre Georg Büchner Leonce und Lena • Sekundarstufe Georg Büchner Leonce und Lena • Textanalyse • Textausgabe Georg Büchner Leonce und Lena • Theater Georg Büchner • Übersetzung • Übersetzung Peter Singer • Zweisprachige Ausgabe |
ISBN-10 | 3-15-962210-X / 315962210X |
ISBN-13 | 978-3-15-962210-1 / 9783159622101 |
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