Auf dem Weg zum ökologischen Denken. Drei Texte (eBook)

[Was bedeutet das alles?]
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2023 | 1. Auflage
96 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962175-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Auf dem Weg zum ökologischen Denken. Drei Texte -  Alexander Von Humboldt
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Das ökologische Denken Humboldts wird in drei Textauszügen vor Augen geführt: anhand einer frühen Reise des jungen Humboldt, seiner großen Reise in die amerikanischen Tropen und schließlich seiner Russisch-Sibirischen Forschungsreise. Für Humboldt begreift das System Erde den Menschen als Teil der Natur, wobei in diesem System Erde alles in Bewegung ist: die Kontinente, die Pflanzen, die Tiere, die Menschen. Die Vorstellung von einem sich ständig verändernden Planeten als Heimstätte des Menschen öffnet auf diese Weise den Blick für einen Lebensbegriff, in dem das Leben des Menschen nur einen Teilbereich des gesamten Lebens ausmacht.

Ottmar Ette, geb. 1956, Professor für Romanische Literaturwissenschaft und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam, Leiter des Forschungsprojektes zu Humboldts Amerikanischen Reisetagebücher, seit 2015 Leiter des Projekts 'Alexander von Humboldt auf Reisen - Wissenschaft aus der Bewegung' sowie Begründer und Mitherausgeber von 'HiN - Alexander von Humboldt im Netz' sowie der Humboldt-Plattform avhumboldt.de.

Ottmar Ette, geb. 1956, Professor für Romanische Literaturwissenschaft und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam, Leiter des Forschungsprojektes zu Humboldts Amerikanischen Reisetagebücher, seit 2015 Leiter des Projekts "Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung" sowie Begründer und Mitherausgeber von "HiN – Alexander von Humboldt im Netz" sowie der Humboldt-Plattform avhumboldt.de.

Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents. Der See von Valencia
Zentral-Asien. Untersuchungen über die Gebirgsketten und die vergleichende Klimatologie
Geschichte der Pflanzen (der Vierwaldstätter See). Naturgemälde

Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Größen und Längen

Nachwort: Eine Ökologie des Zusammenlebens

Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents.


Der See von Valencia


Die Täler von Aragua1, deren reichen Anbau und bewundernswerte Fruchtbarkeit wir soeben geschildert, stellen sich als ein Becken dar, das zwischen Granit- und Kalkgebirgen von ungleicher Höhe liegt. Im Norden trennt die Sierra Mariara sie von der Meeresküste, gegen Süden dient ihnen die Bergkette des Guacimo und Yusma als Schutzwehr gegen die glühende Luft der Steppe. Hügelzüge, hoch genug, um den Lauf der Gewässer zu bestimmen, schließen das Becken gegen Ost und West wie Querdämme. Diese Hügel liegen zwischen dem Tuy und La Victoria, auf dem Wege von Valencia nach Nirgua und in den Bergen von Torito. Aufgrund dieser eigentümlichen Gestaltung des Bodens bilden die Gewässer der Täler von Aragua ein System für sich2 und laufen einem von allen Seiten geschlossenen Becken zu; sie ergießen sich nicht in den Ozean, sondern vereinigen sich zu einem Binnensee, unterliegen hier dem mächtigen Zuge der Verdunstung und verlieren sich gleichsam in der Luft. Von diesen Flüssen und Seen hängt die Fruchtbarkeit des Bodens und der Ertrag des Landbaus in diesen Tälern ab3. Schon der Augenschein und eine halbhundertjährige Erfahrung zeigen, dass der Wasserstand nicht gleichbleibend ist, sondern vielmehr das Gleichgewicht zwischen der Summe der Verdunstung und der des Zuflusses gestört ist. Da der See 1000 Fuß4 über den benachbarten Steppen von Calabozo und 1332 Fuß über dem Meere liegt, so vermutete man, das Wasser habe einen unterirdischen Abfluss oder versickere. Da nun Inseln sich aus dem Wasser erheben und der Wasserspiegel fortwährend sinkt, so meinte man, der See könnte völlig austrocknen. Das Zusammentreffen so auffallender Naturverhältnisse musste mich auf diese Täler aufmerksam machen5, in denen die wilde Schönheit der Natur6 und der liebliche Eindruck fleißigen Anbaus und der Künste einer erwachenden Zivilisation sich vereinigen.

Der See von Valencia, von den Indianern Tacarogia7 genannt, ist größer als der Neuenburger See in der Schweiz8; im Umriss aber hat er Ähnlichkeit mit dem Genfer See, der auch fast ebenso hoch über dem Meere liegt. Da in den Tälern von Aragua der Boden nach Süd und West abfällt, so liegt der Teil des Beckens, der unter Wasser geblieben ist, nahe der südlichen Bergkette von Güigüe, Yusma und dem Guacimo, die den hohen Savannen von Ocumare zuläuft. Die einander gegenüberliegenden Ufer des Sees stechen auffallend voneinander ab. Das südliche ist Wüste, kahl, fast unbewohnt, und eine hohe Gebirgswand gibt ihm ein finsteres, einförmiges Aussehen; das nördliche dagegen ist eine liebliche Landschaft mit reichen Zuckerrohr-, Kaffee- und Baumwollpflanzungen. Mit Cestrum, Azedarac und anderen immerblühenden Sträuchern eingefasste Wege laufen über die Ebene und verbinden die zerstreuten Höfe. Jedes Haus ist von Bäumen umgeben. Die Ceiba mit großen gelben* und die Erithryna mit purpurfarbenen Blüten, deren Äste sich verflechten, geben der Landschaft einen eigentümlichen Charakter. Die Mannigfaltigkeit und der Glanz der vegetabilischen9 Farben sticht wirkungsvoll vom durchgängigen Blau des wolkenlosen Himmels ab. In der trockenen Jahreszeit, wenn ein wallender Dunst über dem glühenden Boden schwebt, wird das Grün und die Fruchtbarkeit durch künstliche Bewässerung unterhalten. Hin und wieder kommt der Granit auf den Feldern zu Tage; ungeheure Felsmassen steigen mitten im Tale steil empor. An ihren nackten, zerklüfteten Wänden wachsen einige Saftpflanzen und bereiten den Mutterboden für kommende Jahrhunderte. Häufig ist oben auf diesen einzeln stehenden Hügeln ein Feigenbaum oder eine Clusia mit fleischigen Blättern aus den Felsritzen emporgewachsen und beherrscht die Landschaft. Mit ihren dürren, abgestorbenen Ästen sehen sie aus wie Signalstangen10 an einer steilen Küste. An der Gestaltung dieser Höhen errät man, was sie früher waren: Als noch das ganze Tal unter Wasser stand und die Wellen den Fuß der Gipfel von Mariara, die Teufelsmauer (el Rincón del Diablo) und die Küstenbergkette bespülten, waren diese Felshügel Untiefen oder Eilande.

Diese Züge eines reichen Gemäldes, dieser Kontrast zwischen den beiden Ufern des Sees von Valencia erinnerten mich oft an das Seegestade des Waadtlands, »wo der überall angebaute, überall fruchtbare Boden dem Ackerbauer, dem Hirten, dem Winzer ihre Mühen sicher lohnt«, während das savoyische Ufer gegenüber ein gebirgiges, halb wüstes Land ist. In jenen fernen Himmelsstrichen, mitten unter den Gebilden einer exotischen Natur, gedachte ich gerne der hinreißenden Beschreibungen, zu denen der Genfer See und die Felsen von Meillerie einen großen Schriftsteller inspiriert haben. Wenn ich jetzt mitten im zivilisierten Europa die Natur in der Neuen Welt zu schildern versuche, glaube ich nicht, durch den Vergleich unserer heimischen mit den tropischen Landschaften meinen Bildern mehr Schärfe und dem Leser deutlichere Vorstellungen zu geben. Man kann es nicht oft genug sagen: Unter jedem Himmelsstriche besitzt die Natur, sei sie wild oder vom Menschen gezähmt, lieblich oder großartig, ihren eigenen Charakter. Die Eindrücke, die sie in uns erzeugt, sind unendlich mannigfaltig wie die Empfindungen, welche die Werke des Geistes je nach dem Zeitalter, das sie hervorgebracht, und nach den mancherlei Sprachen, von denen sie einen Teil ihres Reizes borgen, in uns hervorrufen. Nur Größe und äußere Formverhältnisse können eigentlich miteinander verglichen werden; man kann den riesigen Gipfel des Montblanc und das Himalayagebirge, die Wasserfälle der Pyrenäen und die der Kordilleren nebeneinanderstellen; aber durch solche vergleichende Schilderungen, so sehr sie wissenschaftlich von Nutzen sein mögen, erfährt man wenig vom Naturcharakter der gemäßigten und der heißen Zonen11. Am Gestade eines Sees, in einem großen Walde, am Fuß dieser von ewigem Eis bedeckten Berggipfel ist es nicht die materielle Größe, die uns mit dem heimlichen Gefühle der Bewunderung erfüllt. Was zu unserer Seele spricht, was so tiefe und mannigfache Empfindungen in uns wachruft, entzieht sich unseren Messungen, wie auch den Formen der Sprache. Wenn man Naturschönheiten recht lebhaft empfindet, so mag man Landschaften von verschiedenem Charakter gar nicht vergleichen; man würde fürchten, sich selbst im Genuss zu stören.

Die Ufer des Sees von Valencia sind aber nicht allein wegen ihrer malerischen Reize im Lande berühmt; das Becken bietet verschiedene Erscheinungen, deren Aufklärung für die Naturforschung und für den Wohlstand der Bevölkerung von gleich großem Interesse ist. Aus welchen Ursachen sinkt der Seespiegel?12 Sinkt er gegenwärtig rascher als vor Jahrhunderten? Lässt sich annehmen, dass das Gleichgewicht zwischen Zufluss und Abfluss sich über kurz oder lang wiederherstellt, oder ist zu befürchten, dass der See ganz verschwindet?

Nach den astronomischen Beobachtungen in La Victoria, Hacienda de Cura, Nueva Valencia und Güigüe ist der See gegenwärtig von Cagua bis Guayos 10 Meilen oder 28 800 Toisen lang. Seine Breite ist sehr ungleich; nach den Breiten an der Einmündung des Rio Cura und beim Dorfe Güigüe zu urteilen, beträgt sie nirgends über 2–3 Meilen oder 6500 Toisen, meist nur 4–5000. Die Maße, die sich aus meinen Beobachtungen ergeben13, sind weit geringer als die bisherigen Annahmen der Eingeborenen.* Man könnte meinen, um den Grad der Wasserabnahme genau kennenzulernen, brauche man nur die gegenwärtige Größe des Sees mit der zu vergleichen, welche alte Chronisten, z. B. Oviedo in seiner ums Jahr 1723 veröffentlichten Geschichte der Provinz Venezuela, angeben. Dieser Geschichtsschreiber lässt in seinem pompösen Stil »dieses Binnenmeer, diesen monstruoso cuerpo de la laguna de Valencia«, 14 Meilen lang und 6 breit sein; er berichtet, in geringer Entfernung vom Ufer finde das Senkblei keinen Grund mehr, und große schwimmende Inseln bedeckten die Seefläche, die fortwährend von den Winden aufgerührt werden.* Unmöglich kann man auf Schätzungen vertrauen, die auf keinerlei Messung beruhen und dazu in leguas14 ausgedrückt sind, auf die man in den Kolonien 3000, 5000 und 6550 Varas15 rechnet. Nur das verdient im Buch eines Mannes, der so oft durch die Täler von Aragua gekommen sein muss, Beachtung, dass er behauptet, die Stadt Nueva Valencia de el Rey sei im Jahre 1555 eine halbe Meile vom See entfernt erbaut worden, und dass sich die Länge des Sees zur Breite verhalte wie 7 zu 3. Gegenwärtig liegt zwischen dem See und der Stadt ein ebener Landstrich von mehr als 2700 Toisen, den Oviedo sicher zu anderthalb Meilen angeschlagen hätte, und die Länge des Seebeckens verhält sich zur Breite wie 10 zu 2,3 oder wie 7 zu 1,6. Schon das Aussehen des Bodens zwischen Valencia und Güigüe, die Hügel, die in der Ebene östlich vom Caño de Cambury steil aufsteigen und teilweise (el Islote und la Isla de la Negra oder Caratapona) sogar noch jetzt Inseln heißen, beweisen zur Genüge, dass seit Oviedos Zeit das Wasser bedeutend zurückgewichen ist. Was die Veränderung des Seeumrisses betrifft, so scheint es mir nicht sehr wahrscheinlich,...

Erscheint lt. Verlag 8.9.2023
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek – [Was bedeutet das alles?]
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
Schlagworte Äquinox • Botanik • Buch Aufgabe des Geschichtsschreibers • Buch Formationsphase der Geisteswissenschaften • Buch Geisteswissenschaft • Buch Geschichtsdenken • Buch Geschichtsphilosophie • Buch Geschichtswissenschaft • Buch Hermeneutik • Buch historische Sinnbildung • Buch Historismus • Buch Humanismus • Buch Idealismus • Buch Sattelzeit • Forschungsreisen • Gebirgsketten • Geschichte der Pflanzen • Geschichtsbuch Aufgabe des Geschichtsschreibers • Geschichtsbuch Formationsphase der Geisteswissenschaften • Geschichtsbuch Geisteswissenschaft • Geschichtsbuch Geschichtsdenken • Geschichtsbuch Geschichtsphilosophie • Geschichtsbuch Geschichtswissenschaft • Geschichtsbuch Hermeneutik • Geschichtsbuch historische Sinnbildung • Geschichtsbuch Historismus • Geschichtsbuch Humanismus • Geschichtsbuch Idealismus • Geschichtsbuch Sattelzeit • Humboldts Reisen • Klimatologie • Kolonialherrschaft • Kolonialzeit • Kolonien • Literatur Aufklärung • Literatur Epoche Aufklärung • Naturgemälde • Reise in die Äquinoktial-Gegenden • Sachbuch Aufgabe des Geschichtsschreibers • Sachbuch Formationsphase der Geisteswissenschaften • Sachbuch Geisteswissenschaft • Sachbuch Geschichtsdenken • Sachbuch Geschichtsphilosophie • Sachbuch Geschichtswissenschaft • Sachbuch Hermeneutik • Sachbuch historische Sinnbildung • Sachbuch Historismus • Sachbuch Humanismus • Sachbuch Idealismus • Sachbuch Sattelzeit • Schriften zur Geschichtstheorie • See von Valencia • Wilhelm von Humboldt Aufgabe des Geschichtsschreibers • Wilhelm von Humboldt Aufklärung • Wilhelm von Humboldt Bildungsideal • Wilhelm von Humboldt Buch • Wilhelm von Humboldt Dokument • Wilhelm von Humboldt Essays • Wilhelm von Humboldt Formationsphase der Geisteswissenschaften • Wilhelm von Humboldt Geisteswissenschaft • Wilhelm von Humboldt Geschichtsbild • Wilhelm von Humboldt Geschichtsdenken • Wilhelm von Humboldt Geschichtsphilosophie • Wilhelm von Humboldt Geschichtstheorie • Wilhelm von Humboldt Geschichtswissenschaft • Wilhelm von Humboldt Hermeneutik • Wilhelm von Humboldt historische Sinnbildung • Wilhelm von Humboldt Historismus • Wilhelm von Humboldt Humanismus • Wilhelm von Humboldt Idealismus • Wilhelm von Humboldt Neuhumanismus • Wilhelm von Humboldt Originaltext • Wilhelm von Humboldt Prinzip • Wilhelm von Humboldt Sattelzeit • Wilhelm von Humboldt Text • Wilhelm von Humboldt Textausgabe • Wilhelm von Humboldt Texte • Zentralasien
ISBN-10 3-15-962175-8 / 3159621758
ISBN-13 978-3-15-962175-3 / 9783159621753
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