Ist Gott ein Symbol? -  Dieter Schnocks

Ist Gott ein Symbol? (eBook)

Mit C. G. Jung Spiritualität tiefenpsychologisch verstehen
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
128 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-026050-4 (ISBN)
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Die massenhafte Abkehr von den institutionellen Kirchen zeigt: Religion hat für zunehmend mehr Menschen ausgedient. Doch gleichzeitig beginnt für viele eine Suche nach spirituellen Erfahrungen, die zu den religiösen Vorstellungen anderer Kulturen oder esoterischen Strömungen führen kann. C. G. Jung nähert sich dem Thema Religion mit seiner Tiefenpsychologie und entwickelt einen verstehenden Zugang. Die Vorstellungen, Bilder und religiösen Rituale der verschiedenen Religionen und des einzelnen Menschen werden mit dem Zugang seiner Symbolpsychologie verstanden. Bekanntlich ist die Symbolsprache die Sprache unserer Seele. Sie selbsterfahrend zu verstehen ist der psychologische Weg zu den göttlichen Quellen im eigenen Selbst.

Dieter Schnocks ist Dipl.-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis, Dozent und Lehranalytiker. Er war langjähriger Vorsitzender der C. G. Jung-Gesellschaft Köln und des C. G. Jung-Instituts Stuttgart.

Dieter Schnocks ist Dipl.-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis, Dozent und Lehranalytiker. Er war langjähriger Vorsitzender der C. G. Jung-Gesellschaft Köln und des C. G. Jung-Instituts Stuttgart.

1 Religionsverständnis in der Analytischen Psychologie


1.1 Was bedeutet Religion/Spiritualität in der Analytischen Psychologie


Nähern wir uns im ersten Schritt den Begriffen an, die die Dinge bezeichnen, über die wir in diesem Buch sprechen möchten: Religion und Spiritualität. Dies scheinen zunächst allgemeinverständliche Begriffe zu sein. Um aber ihre Bedeutung in der Analytischen Psychologie besser zu verstehen, werden wir uns auf Spurensuche nach ihrer Bedeutungsherkunft begeben und schließlich C. G. Jungs Verständnis von diesen Begrifflichkeiten beleuchten.

Die Analytische Psychologie C. G. Jungs betrachtet Religion, über die christlichen Konfessionen hinaus, als Einstellung der Psyche gegenüber dem Göttlichen und Heiligen, dem Numinosen, als persönliche Erfahrung des Überpersönlichen. Sie ist, so etwas wie eine der allgemeinsten Äußerungen der menschlichen Seele.

Definition: Religion

Religion ist ein bereits in der Spätantike unterschiedlich definierter Begriff. Es geht (etymologisch abgeleitet von religio) um die Wiederverbindung des Menschen mit Gott.

Die alten Römer sehen Religion als die sorgfältige Verehrung des Göttlichen.

C. G Jung sieht eine religiöse Funktion im Unbewussten des Menschen. Religion ist für ihn »eine besondere Einstellung des menschlichen Geistes...« Der Mensch erkennt »...Faktoren, die er in seiner Welt als mächtig, gefährlich oder hilfreich genug erfahren hat, um ihnen sorgfältige Berücksichtigung angedeihen zu lassen, oder als groß, schön und sinnvoll genug, um sie andächtig anzubeten und zu lieben.« (GW 11, § 8)

Für Jung bedeutet Religion

»Religion ist eine Beziehung zu dem höchsten oder stärksten Wert, sei er nun positiv oder negativ. Die Beziehung ist sowohl eine freiwillige, als auch eine unfreiwillige, das heißt, man kann von einem Wert, also einem energiegeladenen psychischen Faktor auch unbewusst besessen sein, oder man kann ihn bewusst annehmen. Diejenige psychologische Tatsache, welche die größte Macht in einem Menschen besitzt, wirkt als Gott, weil er immer der überwältigende psychische Faktor ist, der Gott genannt wird.« (GW 11, § 137)

Da das religiöse Erleben nun einmal urmenschlich ist, geht Jung davon aus, dass das Thema Religion jeden Menschen »freiwillig« oder »unfreiwillig« betrifft.

»Religion aber bedeutet Abhängigkeit von und Unterwerfung an irrationale Gegebenheiten, welche sich nicht direkt auf soziale und physische Bedingungen beziehen, sondern vielmehr auf die psychische Einstellung des Individuums.« (GW 10, § 505)

Hier wird die energetische Sichtweise der psychischen Vorgänge beim Themenkreis Religion deutlich: Jeder Mensch ist normalerweise im Laufe des Lebens mit spirituellen Fragen konfrontiert und der Begegnung mit diesen religiösen Themen ist kaum auszuweichen. Dies ist in gewisser Weise eine Art energetischer Auslieferung an die andrängenden Fragen (▸ Kap. 2.3).

Die Frage nach übergreifenden Werten, nach Lebenssinn und einer eigenen Haltung zur Spiritualität ist von immenser Wichtigkeit. Ob bewusst oder unbewusst (was natürlich auch »abgewehrt« heißen kann) stellt sich das Thema Spiritualität zur inneren Diskussion. Insbesondere bei uns heutigen Menschen der westlichen Welt, die es zunehmend nicht mehr gewohnt sind, ihre religiösen Erfahrungen in den Riten der Kirchen zu machen.

Die Vorstellung, dass es unbewusste Beeinflussungen meines Lebens gibt, ist, bewusst gesehen, eine grundlegende Einstellungsfrage, die entscheidend für den Umgang mit dem Thema Spiritualität ist. Gehe ich davon aus, dass irrationale Gegebenheiten und Impulse in mein Leben hineinspielen, werde ich mich den Themen der Religion leicht öffnen und vertieft den Fragestellungen nachgehen können. Kann ich bewusst der irrationalen Dimension nichts abgewinnen, werde ich den energischen Impulsen des Spirituellen abwehrend gegenüberstehen und die Thematik eventuell nur über Umwege behandeln können.

Jungs Ansicht nach entgeht niemand der religiösen Thematik. Besonders die zentrale Frage nach Gott ist eine energetisch hochaufgeladene Tatsache, die viele Menschen umtreibt. Spätestens im Alter oder beim Näherkommen von Sterben und Tod drängen sich die Fragen zur Spiritualität auf.

Zentral sind insbesondere die beiden Grundfragen:

  • 1.

    Gibt es eine große Macht, die ich Gott nennen kann? (▸ Kap. 4 zum Gottesbegriff der Analytischen Psychologie)

  • 2.

    Gibt es für mich eine irgendwie geartete Existenz nach dem Tode? (▸ Kap. 3.1.2 das Beispiel der Wiedergeburt)

Wenden wir den Blick nun auf den Begriff Spiritualität. Heutzutage bezeichnet er ganz allgemein jede Form menschlicher Betätigung mit der Transzendenz. Im Unterschied zum Begriff Religion, der heute eher als Überbegriff für die Konfessionen verwendet wird. Beispielsweise die christliche, die jüdische, die islamische oder die östliche Religion.

Geht man aber mit diesem heutigen Sprachverständnis an die Schriften und Aussagen C. G. Jungs heran, kann es leicht zu Sinnverschiebungen und auch Missverständnissen kommen. Denn Jung benutzte den Begriff Spiritualität in unserem Sinne nicht. Er sprach ausschließlich von Religion und religiös.

Definition: Spiritualität

Unter Spiritualität (lat. spiritus, bewegte Luft, Atem, Lufthauch, Geist, Leben Seele) wird zuerst im weitesten Sinne die geistige Orientierung des Menschen verstanden. Theologen definieren Spiritualität mit »Sich der Tiefe öffnen«; »Verwirklichung des Glaubens unter den konkreten Lebensbedingungen«.

Im theologischen Verständnis wird Spiritualität mit dem biblischen Begriff Pneuma verbunden. Karl Rahner spricht von Spiritualität als »Leben aus dem Geist« (Müller & Müller, 2003, S. 392).

Dorst sieht Spiritualität mit vielen Sinninhalten verbunden: »Spiritualität meint alle Formen von Religiosität, unabhängig von Konfessionen und Kirchen, und gilt heute als der übergeordnete Begriff, der eine Vielfalt von religiösen Phänomenen umfasst.« (Dorst, 2013, S. 9)

Auch wenn Jung den Begriff selbst nicht verwendet, lässt sich doch sagen, dass seine Auseinandersetzung mit dem Religiösen im heutigen Sinne die Thematik des Spirituellen umkreisen. In C. G. Jungs Lebenswerk und seiner Tiefenpsychologie ist die konstruktive Auseinandersetzung mit der spirituellen Dimension sehr zentral und auch ein wichtiger Bestandteil seiner therapeutischen Vorstellungen (vgl. Hark in Müller & Müller, 2003, S. 393). Jungs Konzeption des Selbst und der damit verbundene Individuationsprozess sind ein Modell für ein Leben, das spirituell gelebt wird (vgl. Kast, 2014, S. 96).

Machen wir an dieser Stelle noch einen Exkurs zwei weiteren Begriffen, die in der Analytischen Psychologie eng mit Religion und Spiritualität verbunden sind: Psyche und Seele. Wie schon im vorher Gesagten anklingt, sind Religion und Spiritualität hier nicht ohne diese erlebenden Einheiten denkbar. Aber auch bei diesen Begriffen lohnt es sich genauer hinzusehen, wie sie von C. G. Jung verwendet werden.

Heutige Definition der Psyche

Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet die Psyche (altgr. für Seele) alle innerseelischen Eigenschaften eines Menschen. Dazu gehören nicht nur Charaktereigenschaften, sondern auch alle inneren Vorgänge, wie das Denken, Empfinden oder die Fantasiebegabung. Es gibt die Vorstellung, dass die Psyche aus dem Gleichgewicht geraten kann, wir also innerlich, psychisch, krank werden können.

Bei C. G. Jung ist sie die Gesamtheit aller bewussten und unbewussten psychischen Vorgänge, was weitgehend mit der modernen Definition von Psyche zusammenhängt (Müller & Müller, 2003, S. 375).

Definition des Seelenbegriffs

Unter einer Seele (griech. psyche / lat. anima, jeweils Hauch, Atem) wurde in den Vorstellungen verschiedener Kulturen eine feinstoffliche Substanz verstanden, die vorübergehend einen Leib beseelt. Wenn die Seele den Körper verlässt, ist er tot. In manchen Vorstellungen stirbt die Seele auch selbst oder geht in andere Welten ein.

C. G. Jungs Seelenbegriff ist auf diesem Hintergrund zu verstehen. Mit Seele bezeichnet er – in Abgrenzung zum Begriff Psyche – einen »abgegrenzten Funktionskomplex«, der sich den psychischen Innenvorgängen zuwendet und sie spiegelt (GW 6, § 877 f.). Zudem stellt Jung die Seele der nach außen gerichteten Persona gegenüber (Müller & Müller, 2003, S. 375).

Diese Definition Jungs ist in der Analytischen Psychologie allerdings heute wenig gebräuchlich. Meist wird Seele im gleichen Sinne wie Psyche gebraucht (Müller & Müller, 2003, S. 333).

Immer wieder sprechen Jungianer von der Analytischen Psychologie als einer seelenvollen Psychologie oder einer...

Erscheint lt. Verlag 8.11.2023
Zusatzinfo 24 Abb.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Psychoanalyse / Tiefenpsychologie
Schlagworte Religion • Symbolpsychologie • Tiefenpsychologie
ISBN-10 3-17-026050-2 / 3170260502
ISBN-13 978-3-17-026050-4 / 9783170260504
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