Männer, Frauen und die Liebe (eBook)
240 Seiten
Scorpio Verlag
978-3-95803-593-5 (ISBN)
Dr. Wilfried Nelles, Jg. 1948, ist Psychologe und Sozialwissenschaftler und leitet gemeinsam mit seinem Sohn Malte Nelles das »Nelles-Institut für Phänomenologische Psychologie und Lebensintegration« in Nettersheim, Eifel, und Berlin. Nelles ist Autor vieler Bücher, die in zehn Sprachen übersetzt wurden.
Dr. Wilfried Nelles, Jg. 1948, ist Psychologe und Sozialwissenschaftler und leitet gemeinsam mit seinem Sohn Malte Nelles das »Nelles-Institut für Phänomenologische Psychologie und Lebensintegration« in Nettersheim, Eifel, und Berlin. Nelles ist Autor vieler Bücher, die in zehn Sprachen übersetzt wurden.
Freie Liebe
Nach dieser Einordnung zu den zeitgenössischen Trends und Debatten komme ich nun zum eigentlichen Thema dieses Buches, zur Liebe zwischen Mann und Frau und zur Liebe ganz allgemein. Ich beginne persönlich.
Augen-Blicke
Ich war Anfang zwanzig, Student im dritten Semester und wie üblich am Wochenende zu Hause im Elternhaus. Seit einigen Wochen traf ich mich mit einem Mädchen – mal gingen wir ins Kino, mal auf eine Fete. Sie war wohl in mich verliebt, ich hingegen fand sie zwar ganz nett, wollte aber eigentlich nur etwas weibliche Gesellschaft. An diesem Samstag waren wir auf einer Schülerfete meines ehemaligen Gymnasiums. Ich weiß nicht mehr, wieso ich überhaupt dorthin gegangen bin – ich hatte nämlich beim Abitur geschworen, dieses Gebäude nie mehr zu betreten. Aber an jenem Abend bin ich – wahrscheinlich, weil meine Begleiterin es wollte – auf diesen Schülerball gegangen (er fand allerdings nicht im Schulgebäude statt, so dass ich es so gerade noch mit meinem Vorsatz vereinbaren konnte). Ich glaube, ich habe mich ziemlich gelangweilt. Es gibt allerdings einen Moment, an den ich mich immer noch erinnere: Ich tanzte mit meiner Partnerin und schaute plötzlich einem Mädchen in die Augen, das einige Meter entfernt mit ihrem Freund tanzte. Es waren nur wenige Sekunden, aber ich hatte das Gefühl, dass es entscheidende Sekunden waren.
Ich hatte dieses Mädchen schon einmal von weitem gesehen und von ihr gehört. Sie hatte noch eine ältere Schwester, die beiden gingen auf das benachbarte Mädchengymnasium, sahen fast wie Zwillinge aus und waren ausnehmend hübsch, so dass jeder Schüler sie kannte, aber an diesem Abend hatte ich sie (und sie mich) zum ersten Mal angeschaut. Danach habe ich meine Begleiterin nach Hause gebracht und mich nicht mehr mit ihr getroffen. Ich wusste jetzt, wen ich wirklich treffen wollte.
Zwei Wochen später war es so weit. Es gab eine Tanzveranstaltung in ihrem Wohnort, die ich – es war zugleich eine politische Veranstaltung – organisiert hatte. Diesmal war ich ohne Begleiterin. Wie ich es erwartet hatte, sah ich sie und ihre Schwester in den Saal reinkommen. Ich wartete noch eine viertel oder eine halbe Stunde, dann machte ich mich auf den Weg, um sie zum Tanzen aufzufordern. Als ich an ihrem Tisch stand, saß da nur eine der beiden, und ich wusste plötzlich nicht mehr, ob es die Richtige war. Obwohl, wie ich bald erfahren sollte, in ihrem Wesen grundverschieden, waren die beiden äußerlich damals für mich kaum zu unterscheiden. Man musste ihnen schon in die Augen schauen. Nun gut, da ich zielstrebig auf sie zugesteuert war, konnte ich jetzt keinen Rückzieher machen. Also habe ich sie angesprochen und gefragt, ob sie mit mir tanzen möchte. Sie stimmte zwar zu, aber nach der Art, wie sie dies tat, konnte sie eigentlich nicht die Richtige sein – oder sollte ich mich vor zwei Wochen bei unserem Augen-Blick so getäuscht haben?
Ein wenig verunsichert begann ich, mit ihr zu tanzen. Da sah ich die andere nach ein paar Minuten zu ihrem Platz zurück kommen. Sie schaute herüber, und ich wusste: Ich habe mich nicht getäuscht, sie ist die Richtige. Als ich nach dem Tanz die beiden austauschte, schwand auch noch der letzte Rest eines Zweifels. Sie war die Richtige, und etwas in mir hat dies vom ersten Augen-Blick an gewusst.
Die Liebe ist frei – und zwingt uns
Dieser Moment hat mein Leben verändert, von einem Augenblick zum nächsten war alles anders, und niemand hat dies gemacht. Es ist jetzt über fünfzig Jahre her, das junge Mädchen – sie war gerade 17 geworden – ist eine alte Frau, ich bin ein alter Mann, und wir sind – Wunder über Wunder – immer noch ein Paar. Was passiert da eigentlich? Wer oder was führt da Regie?
Ich höre oder lese gelegentlich Sätze wie »Das entsprach nicht meinem Lebensplan«, und manche meinen, man müsste solche Pläne machen und empfehlen so etwas jungen Menschen. Mir ist das völlig fremd, ich habe keinen und hatte nie einen Lebensplan und bin froh darüber. Selbstverständlich haben wir Ideen, Vorstellungen, Wünsche, Träume und machen uns Gedanken, wie wir sie realisieren können. Das ist normal, vor allem für junge Menschen, und manchmal braucht man auch ein Ziel, um nicht einfach nur rumzuhängen. Als Jugendlicher wusste ich zum Beispiel, dass ich Abitur machen wollte, das war damals wichtig für mich. Mehr wusste ich aber nicht, mein beruflicher Weg danach hat sich mehr oder weniger von selbst ergeben. Andere mögen klarere Ziele haben und vielleicht auch brauchen, das ist individuell ganz unterschiedlich. Ein Lebensplan ist jedoch etwas anderes, und noch etwas anderes ist die Idee, wie das Leben sein soll. Dann meinen wir insgeheim, das Leben müsste diesem Plan oder dieser Idee folgen. Das ist der Anfang von einem sehr verkrampften und stressigen Leben, denn jetzt wird potentiell alles schlecht oder gefährlich, was nicht nach Plan läuft. Wünsche und Ideen sind das eine, was das Leben für uns bereithält, ist das andere. Es richtet sich bestimmt nicht nach unserem Plan.
Das Leben ist kein Haus, das wir planen und konstruieren können, und ebenso wenig ist eine Beziehung eine Konstruktion. Eine Beziehung entsteht und wächst, sie folgt einer inneren, uns verborgenen Logik. Der kann man sich anvertrauen, aber man kann sie nicht machen und auch nie im Vorhinein kennen. Leben ist Wachstum, und Wachstum geschieht aus sich heraus, von innen her. Nur darin ist Lebendigkeit. Alles von Menschen Geschaffene – und damit auch alles Geplante – lebt nicht. Es ist ein Produkt, man kann es benutzen, aber es hat kein Eigenleben. Es ist tot. Wenn wir das Leben, eine Beziehung oder gar die Liebe als eine Konstruktion betrachten, als etwas, das wir machen müssen, sind sie von vorneherein tot.
Die wichtigsten Dinge im Leben geschehen nicht nach Plan. Oft genug werfen sie sogar alle Pläne über den Haufen. Sie passieren, sie geschehen! Das erfahren wir nirgendwo deutlicher als in Liebesbeziehungen. Sie verdienen diesen Namen nur, wenn sie offen bleiben und sich nicht der Unberechenbarkeit des Lebens verschließen. Denn Unberechenbarkeit und Offenheit ist die Natur der Liebe. Sie kommt immer überraschend und ungeplant, und sie ist immer ein Geschehen und nichts, was wir machen.
Wenn einem die Liebe geschieht, wenn sie einem begegnet, kommt sie aus dem Unbekannten, zu ihrer Zeit, zu ihren Bedingungen. Nicht dass es immer die Liebe auf den ersten Blick sein muss, es kann auch der zweite oder dritte sein, es kann auch mit einer Frau oder einem Mann passieren, die oder den man seit Jahren kennt – plötzlich schaut man sich an, und etwas ist anders, etwas ist passiert oder passiert in diesem Moment, was all die Jahre nicht passiert ist und was man nie erwartet hätte. Tatsache ist: Die Liebe kommt, wann sie will, mit wem und durch wen sie will und wie sie will. Wir sind ihr ausgeliefert. So war es von Anfang an, und so wird es immer bleiben.
Das wollen wir aber nicht. Wir wollen nicht ausgeliefert sein. Was uns fehlt, was wir uns wünschen, wollen wir bekommen, uns vielleicht auch erarbeiten oder erkämpfen; und was wir einmal haben, wollen wir festhalten, unbedingt behalten. Damit beginnt der Kampf, und es könnte schon der Anfang vom Ende sein. Denn was wir festhalten können, ist nur die Hülle.
Die Liebe selbst ist freier als ein Vogel. Die Faust, die sie halten will, erdrückt sie, wenn sie ihr nicht im letzten Moment entwischt. Aber die Sehnsucht nach genau diesem Partner, das Bedürfnis nach Verbindung und Bindung, die Lust der Verschmelzung, der Wunsch nach Dauer und Ewigkeit ist auch Teil der Liebe, kommt uns mit ihr zugeflogen. Gestern noch wolltest du nichts als frei, ungebunden und unabhängig sein, und heute pfeifst du darauf, wenn du nur mit dem oder der Geliebten zusammen sein kannst. Also beginnen wir eine Beziehung. Manchmal wird daraus eine Ehe, dann ist die Liebe sozusagen amtlich. Ein Versprechen mit bindender Wirkung, sowohl äußerlich als auch innerlich.
Manche meinen, mit einer festen Beziehung oder einer Ehe hätten sie den Partner und hätten sie auch die Liebe, vielleicht sogar ein Anrecht darauf. Nichts ist falscher, und nichts ist zerstörerischer für die Liebe. Sie ist und bleibt immer frei, wie amtlich wir auch gebunden sein mögen. Sie ist frei, weil sie uns nie gehört hat. Das führt wiederum andere zu dem Glauben, man könnte mit ihr nach Belieben umgehen und nach Belieben über sie verfügen. Das ist genauso falsch wie die Idee, sie oder den Partner besitzen zu können – wer so denkt oder handelt, wird die Liebe nie wirklich erfahren.
Die Liebe ist frei, ja, aber sie ist nicht frei wie eine Ware, die wir kaufen, eine Zeit lang besitzen und konsumieren und dann wieder verkaufen können, sondern sie ist frei, weil sie nie jemandem gehört hat und nie jemandem gehören wird. Sie ist eine Kraft, die für sich existiert, eine Kraft, die sehr wohl uns ergreifen kann, die aber niemals wir ergreifen und haben können. Wir können in ihr sein – dann ist sie auch in uns –, aber wir können sie...
Erscheint lt. Verlag | 26.10.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Bewusstsein • Bindung • Diversität • Elternschaft • Frau • Gender • Heterosexualität • Liebe • Liebesbeziehung • Mann • Männlichkeit • Paarbeziehung • Persönlichkeitsentwicklung • Phänomenologie • Reifung • Selbstverwirklichung • Sexualität • Symbiose • Trans • Wachstum • Weiblichkeit |
ISBN-10 | 3-95803-593-0 / 3958035930 |
ISBN-13 | 978-3-95803-593-5 / 9783958035935 |
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