Hüter des Freistaats (eBook)

Das Führungspersonal der Bayerischen Staatskanzlei zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegsdemokratie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
431 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-131792-2 (ISBN)

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Hüter des Freistaats - Rick Tazelaar
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Die Bayerische Staatskanzlei entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg erstaunlich rasch zur Schaltzentrale der Regierungspolitik und des bayerischen Föderalismus. Doch wie konnte sie diese Hüter-Rolle einnehmen? Welche politischen Ziele verfolgte sie gemeinsam mit den bayerischen Ministerpräsidenten und wie setzte sie diese um?

Rick Tazelaar untersucht in seiner Studie das Führungspersonal, die Organisationskultur sowie die Handlungsfelder der Bayerischen Staatskanzlei zwischen 1945 und 1962. Mithilfe erstmals zugänglicher Akten zeigt er, wie sehr diese Bereiche im Zeichen der Konsolidierung des bayerischen Staats standen.

So richtete die Staatskanzlei ihren Umgang mit NS-Belastung sowie ihre Personalauswahl nach ihren föderalistischen Zielen aus und etablierte eine dezidierte Geschichtspolitik, um den bayerischen Staat von der NS-Zeit abzugrenzen. Der autoritär-etatistische Führungsstil war dabei stark geprägt von den Erfahrungen in dem Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik.

Mit kritischem Blick auf die Hintergründe föderalistischer Politik historisiert die Studie ein zentrales Element der demokratischen Kultur der Bundesrepublik.



Rick Tazelaar, Universiteit Leiden, Niederlande.

Einleitung


Die bayerische Führungselite war sich nach dem Zweiten Weltkrieg darüber einig, dass die bayerische Staatlichkeit so schnell wie möglich wiederaufgebaut und konsolidiert werden sollte. Nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ und dem Einmarsch der amerikanischen Armee sollte der bayerische Staat nun die Entscheidungsmacht über seine politische Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Bereits am 11. Juni 1945 schrieb der ehemalige Generalsekretär der Bayerischen Volkspartei (BVP), Anton Pfeiffer, zur Zielsetzung der gerade von der amerikanischen Besatzungsmacht installierten bayerischen Regierung: „Auf alle Fälle muss die Arbeit auf der bayerischen Seite die Erringung eines Höchstmaßes von Zuständigkeit zum Ziele haben. […] Regierung – im Einvernehmen mit der Besatzungsmacht – muss das Ziel sein, nicht Selbstverwaltung in Ausführung empfangener Anordnungen.“1 Doch wie viel politische Zuständigkeit der bayerische Staat in der Nachkriegszeit erhalten sollte und in welchem Tempo, war in vielerlei Hinsicht unsicher und Teil eines dauerhaften Verhandlungsprozesses. Diese Fragen waren nicht nur von der Politik der amerikanischen Militärregierung und den weiteren alliierten Besatzungsmächten abhängig. Die „bayerische Frage“ – die Frage nach der zukünftigen Position Bayerns innerhalb eines deutschen Staats – hing zugleich von den politischen Vorstellungen und Interessen der deutschen Führungseliten in den anderen Ländern ab. Deswegen versuchten die bayerischen Politiker und Ministerialbeamten maximalen Einfluss auf die politischen Gestaltungsprozesse der Nachkriegszeit im Sinne ihrer föderalistischen Vorstellungen zu nehmen. Doch auch nach der Gründung der Bonner-Republik 1949 ließen sie keine Möglichkeit ungenutzt, diese durchzusetzen. An erster Stelle stand für sie stets der bayerische Staat.

Diese bayerische Kampfmentalität um die eigene Staatlichkeit kam in der Nachkriegszeit freilich nicht von ungefähr, sondern hatte bereits eine lange Vorgeschichte. „Die bayerische Frage ist keine historische Reminiszenz, keine bayerische Sentimentalität; sie ist die Existenzfrage Bayerns, vor 1000 Jahren in gleicher Weise wie heute“, betonte 1952 der Historiker und Pressereferent der Staatskanzlei, Ernst Deuerlein, in einem Radiobeitrag für den Bayerischen Rundfunk.2 Mit dem bayerischen Staat verband die bayerische Führungselite nach 1945 ein mehr als tausendjähriges Kampfnarrativ. Fluchtpunkt der bayerischen Geschichte war nach diesem Narrativ der moderne Staat, so wie er während der Ära Montgelas und der Regierungszeit von König Ludwig I am Anfang des 19. Jahrhunderts begründet worden war.3 Seit der Reichsgründung 1871 hatte das Königreich Bayern nach so viel politischer Selbstständigkeit wie möglich gestrebt und eine Sonderstellung im Kaiserreich beansprucht. Dieser Kampf um die eigene Staatlichkeit und Entscheidungshoheit wurde im Freistaat nach der Revolution von 1918/19 in der als zentralistisch wahrgenommen Weimarer Republik bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten verstärkt fortgesetzt. An dieser staatlichen Kampftradition galt es nun 1945, nach der als kurzen „Unterbrechung“ wahrgenommenen NS-Zeit, anzuknüpfen. Dabei war sich die erfahrene bayerische Führungselite darüber einig, dass sich die Versäumnisse von 1919 nicht wiederholen durften, um die bayerische Souveränität gegenüber dem Reich verfassungsrechtlich ausreichend stark abzusichern.

Schaltzentrale des bayerischen Föderalismus wurde nach 1945 die Bayerische Staatskanzlei. Sie wurde im Sommer 1945 als „Spitze des bayerischen Verwaltungs- und Regierungsapparats“ zur Unterstützung des Ministerpräsidenten und der Staatsregierung neu konzipiert.4 Die Nationalsozialisten hatten zwar bereits 1933 eine Staatskanzlei anstelle des Bayerischen Ministeriums des Äußern installiert. Dennoch büßten die Behörde und das Amt des Bayerischen Ministerpräsidenten durch die nationalsozialistische Zentralisierungspolitik bis zum Kriegsende erheblich an Bedeutung ein, sodass sie nach dem Krieg großenteils neu aufgebaut werden mussten. Von der Staatskanzlei aus wurden nach dem Krieg die Beziehungen mit den jeweiligen Vertretern der amerikanischen Militärregierung geführt. Daneben koordinierte sie während der Besatzungszeit den Kontakt Bayerns zu den Ländern in der amerikanischen Zone und in den anderen Besatzungszonen, ebenso wie die bayerischen Vertretungen in den jeweiligen länder- und zonenübergreifenden Gremien. Hier wurde bis 1949 die föderalistische Strategie für die bayerische Interessensdurchsetzung beim Aufbau des deutschen Staats und nach der Gründung der Bundesrepublik die Strategie Bayerns gegenüber dem Bund festgelegt.

Dabei blieb der Wiederaufbau der bayerischen Staatlichkeit keineswegs auf die Politik der Staatskanzlei nach außen begrenzt. Auch innerhalb Bayerns spielte die Staatskanzlei eine wichtige koordinierende Rolle. Von der Staatskanzlei aus wurden beispielsweise die Vorbereitungen für den Entwurf einer neuen Bayerischen Verfassung geplant und durchgeführt. Außerdem koordinierte sie die Zusammenarbeit zwischen dem Ministerpräsidenten, der Staatsregierung und den Ministerien sowie den Verkehr mit dem Bayerischen Landtag und dem Senat. Zugleich ließen die Ministerpräsidenten und das Führungspersonal der Staatskanzlei keine Möglichkeit ungenutzt, die staatliche Identität in Bayern wiederaufzubauen und historisch zu untermauern. Sie verstanden sich sowohl nach innen als auch nach außen als die Hüter des Freistaats und keine Behörde in Bayern oder Deutschland sollte an den Interessen der Bayerischen Staatskanzlei vorbei arbeiten.

Fragestellung


Dass die Staatskanzlei nach 1945 eine zentrale Rolle bei der Konsolidierung des bayerischen Staats spielte, steht außer Frage. Selbstverständlich war sie jedoch keineswegs. So musste die Behörde nach dem Krieg grundsätzlich neu aufgebaut werden und für sich eine Position innerhalb der parlamentarischen Demokratie vereinnahmen. Außerdem führte die umfassende Entnazifizierungspolitik der amerikanischen Militärregierung zu personalpolitischen Engpässen, und ein Teil des Führungspersonals stand der Demokratie als politisches Ordnungsmodel mindestens skeptisch gegenüber. Wie konnte sich die Bayerische Staatskanzlei in der Nachkriegszeit dennoch zur Schaltzentrale der bayerischen Regierungspolitik und des bayerischen Föderalismus entwickeln? Welche politischen Zielsetzungen verfolgten die Akteure dabei und wie setzten sie diese um? Zur Beantwortung dieser Fragen untersucht die vorliegende Studie exemplarisch drei eng miteinander verknüpften Bereiche: das Führungspersonal, die Organisationskultur sowie die Handlungsfelder der Bayerischen Staatskanzlei nach 1945. Dabei liegt der Fokus auf den Kontinuitäten aus der Zeit vor 1945 bis hinein in die Nachkriegszeit.

Die Studie nimmt dabei die Rolle der Staatskanzlei von 1945 bis 1962 unter den bayerischen Regierungen von Fritz Schäffer bis zur vierten und letzten Regierungsperiode von Hans Ehard in den Blick. Sie bietet darüber hinaus einen Ausblick in sowohl den Personalbestand als auch die Politik in der Nachfolgerära des Ministerpräsidenten Alfons Goppel. Diese Betrachtung ergibt sich aus zwei Gründen: Zunächst führte die Ernennung von Goppel 1962 zu einer neuen Phase in der Organisation und Funktion der Staatskanzlei seit dem Zweiten Weltkrieg. Die bis dahin relativ kleine Behörde, die im Rückblick klare Koordinierungsaufgaben und übergeordnete Schwerpunkte wie den Föderalismus hatte, transformierte sich dabei zu einer umfassenden Regierungszentrale, die im Rahmen der „Richtlinienkompetenz“ des Ministerpräsidenten die langfristige Planung Bayerns koordinierte. Die Rolle der Staatskanzlei als Schaltzentrale der Ministerialverwaltung bekam in diesem Prozess einen wesentlichen neuen Inhalt und führte zu einem erheblichen Zuwachs an Personal, Abteilungen und Referaten. Zweitens vollzog sich bis Mitte der 1960er Jahre auf der Führungsebene ein Personal- und somit Generationswechsel, wobei die für diese Studie relevanten Akteure schrittweise die Staatskanzlei verließen.

Führungspersonal


Trotz ihrer herausragenden Bedeutung und Funktion im Machtzentrum der bayerischen Politik liegt noch keine Studie zur Bayerischen Staatskanzlei vor, die sowohl die Entwicklung der Personalpolitik und des Personals als auch die Organisationskultur und Politik in der Nachkriegszeit bis Anfang der 1960er Jahre behandelt. Dennoch hat die vorliegende Studie keineswegs den Anspruch, eine Gesamtgeschichte der Bayerischen Staatskanzlei nach 1945 zu schreiben. Die koordinierende Rolle der Staatskanzlei macht es praktisch unmöglich, diese in ihrer Gesamtheit zu fassen. Zunächst stellt sich die Frage, welches Führungspersonal die Staatskanzlei nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufbaute. Die personellen Kontinuitäten in den Ministerialverwaltungen der NS-Zeit bis in die Zeit der Bundesrepublik und der Umgang mit NS-Vergangenheit gehören mittlerweile seit mehr als einem Jahrzehnt zu den am kontroversesten und meist diskutiertesten Themen der deutschen Geschichtswissenschaft. Die 2010 erschienene Studie „Das Amt und die Vergangenheit“ thematisierte die Rolle von deutschen Diplomaten im „Dritten Reich“ und deren Vergangenheitsbewältigung in der frühen Bundesrepublik.5 Obwohl diese Studie nicht die erste Arbeit zum Thema Kontinuitäten von deutschen Funktionseliten6 über die Zäsur von 1945 hinaus...

Erscheint lt. Verlag 6.11.2023
Zusatzinfo 8 b/w and 1 col. ill., 5 b/w graphics
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Denazification • Deutsche Nachkriegsgeschichte • Entnatzifizierung • German postwar history • National Socialism • Nationalsozialismus
ISBN-10 3-11-131792-7 / 3111317927
ISBN-13 978-3-11-131792-2 / 9783111317922
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