Zeitverschluss | Frozen Time (eBook)

Das Museum als Panikraum | Museums as Panic Rooms
eBook Download: EPUB
2023
81 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-123513-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zeitverschluss | Frozen Time - Valentin Groebner
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Historische Gebäude, Kunstwerke und Sammlungen sind im 21. Jahrhundert nirgendwo mehr lästige Überreste von früher, wie in den Modernisierungsschüben des 19. Jahrhunderts oder noch in den 1950er und 1960er Jahren. Heute sind sie sorgfältig gehütete und mit hohem Aufwand in Schuss erhaltene Schätze: unersetzliche Materialisierungen kollektiver Selbstbilder, nationales Erbe und kostbare Ressourcen touristischer Vermarktung zugleich. Deshalb müssen sie um jeden Preis erhalten und, falls durch einen Unglücksfall beschädigt, um jeden Preis wiederhergestellt werden.

Zur üblichen Selbstbeschreibung des 21. Jahrhunderts als innovativ und zukunftsorientiert steht das in einem erklärungsbedürftigen Verhältnis. Diesen Paradoxa spürt Zeitverschluss nach, anhand einer Reihe von Ortsterminen in Vergangenheitsbesichtigungsinstitutionen, von Wien bis Weimar und Zürich. Historische Erinnerungsstätten und Museen können offensichtlich viele Formen annehmen, vom Tempel bis zum Supermarkt, vom Reliquienschrein bis zum Bunker. Sie sind Schutzräume, Zeitkapseln und Sanatorien, Kliniken zur Behandlung von Phantomschmerzen. Wovor versprechen sie ihren Besuchern Schutz?



Valentin Groebner

Alles futsch? Zur Einleitung


Bisher lebten und leben 108 Milliarden Menschen auf der Erde, so halbwegs verlässliche Schätzungen; ca. 7 Prozent dieser Anzahl leben gegenwärtig auf unserer Erdkugel, jedenfalls noch.1 Jeder dieser Menschen war ein Individuum, ein Wesen eigenen Rechts, eigener Phantasien, Hoffnungen, Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte. Jeder war eingebunden in die individuellen Vorstellungs- und Gefühlswelten anderer Menschen. Jeder einzelne Mensch war und ist ein Kosmos in sich und in seiner sozialen Welt.

Von wie vielen dieser gut 108 Milliarden Menschen – schade, dass wir es nicht genauer wissen – haben wir aber Kunde? Wie viele Namen kennen wir noch, oder gar: Wie viele Lebensläufe kennen wir, können wir kennen? Wie viel ist übrig geblieben von diesen Wunderwesen? Sie wissen es: nur von verschwindend wenigen, einem wahrlich mikroskopischen Permyriad-Satz (und sehr oft sicher nicht von denjenigen, die unser Angedenken besonders verdient hätten, den unendlich vielen stillen Heldinnen und Helden des Alltags). Was ist mit diesen verschwundenen Leben und diesen Lebensleistungen, ohne die niemand von uns heute und hier gesättigt, angemessen gekleidet und einigermaßen ausgeruht sitzen könnte? Sobald der letzte Mensch dahingegangen ist, der uns noch persönlich oder mindestens aus einer zweiten liebevollen Hand kannte – ‚floating gap‘ nannte das Jan Vansina2 – sind wir noch Fotodateien, Textdateien, Sammlungsstücke, amtliche Einträge – bis diese Fotos, Texte, Sammlungsstücke beiseite geräumt werden, weil Platz und Aufmerksamkeit geschaffen werden muss für Aktuelleres, Wichtigeres. Vor dem Fenster des Hauses kann sich jeder schon seinen Entsorgungscontainer vorstellen.

Auch nur von sehr wenigen der geneigten Leserinnen und Leser, wie ich Ihnen leider mitteilen muss, wird in späteren Zeiten noch Kunde sein. Entgegen weit verbreiteten Annahmen verfallen sogar zu ihrer Zeit durchaus bekannte Professorinnen oder Journalisten, Dichterinnen oder bildende Künstler und ihre Werke dem Vergessen, auch wenn Schriften oder andere Produkte in den Tiefen von Bibliotheken und Archiven und Museen noch vorhanden sein mögen. Sie werden zum Objekt historischer Detailforschung, insofern denn in einigen hundert Jahren überhaupt noch geforscht wird auf der Erde.

Die Lage erscheint für Kulturwissenschaftlerinnen und Historiker und für die Expertinnen in den kulturellen Gedächtnisinstitutionen besonders vertrackt, sind Sie doch die Sachwalter des kollektiven Erinnerns, die Torwächterinnen des Speichers und des Speicherabrufes, die Beobachter des ewigen Vergehens, des Filterns, Aus- und Umsortierens.

Es erscheint also etwas trostlos, das Futsch!, um das sich der nachfolgende Text dreht; es erscheint als ein Fluch der doch intelligenz- und phantasiebegabten menschlichen Existenz.

Das sind selbstverständlich keine neuen Einsichten, auch wenn man immer weniger darüber zu sprechen scheint, wenn es konkret wird: über das Sterben, den Tod, das Vergessen und Verschwinden, das Sinnlose und Eitle. Die Menschen haben sich in den vergangenen Jahren inflationär mit immer leistungsfähigeren Speichermedien umgeben, in einen Kokon der Aufbewahrung eingehäkelt. Alles wird aufgezeichnet, geknipst, alles wird bekannt gemacht, vielen scheint sehr Vieles wichtig. Wir leiden eher an einem Überangebot an Aufzeichnung und einem Mangel an Flüchtigkeit, so eine mögliche Wahrnehmung.

Die Religionen der Welt haben unterschiedliche Antworten auf das Problem des Verschwindens gegeben, wie wir allerdings nur für die Dauer einer relativ kurzen Zeitspanne kulturell dichter Überlieferung wissen; kurz erscheinen diese wenigen Tausend Jahre im Verhältnis zur Dauer der menschlichen Entwicklung insgesamt. Selbst von diesen vielen menschlichen Antworten auf das Verschwinden sind also sehr, sehr viele verschwunden. Die Antworten der Religionen bestanden in der Konstruktion von Horizonten der Ewigkeit, der nicht-verschwindenden Dauerhaftigkeit. Die Einbettung in einen göttlichen Heilsplan wirkte und wirkt auf die immer gefährdeten Wesen angesichts des Absolutismus' der Wirklichkeit (Hans Blumenberg)3 sinnstiftend und tröstlich.

Im Kulturraum des Dharma mit seiner Grundvorstellung des Samsara konnte man das Verschwinden und zum Verschwindenbringen selber als Element göttlicher Weltordnung begreifen, nicht nur als bedauerliche Unumgänglichkeit. In den Inkarnationen Shivas war es anbetungswürdig und in dem großen Fest des Maha-Shiva-Ratri wird es alljährlich von vielen Millionen Menschen gefeiert. In der chinesischen Kultur findet eine ähnliche Vorstellung in der Figur der Meng Po ihre Darstellung, ihren Ritus und ihre Anbetung: der Göttin des Vergessens.4

Und wir? Ein großer Teil der Menschen in Europa5 lebt heute ohne die Idee eines göttlichen Heilsplans, man darf das auch bei vielen unterstellen, die noch formal Mitglied einer christlichen Kirche sind – sind wir deshalb einer Sinnlosigkeit von Mühewaltung und Verschwinden preisgegeben? Wir haben immerhin einige Philosophen, die sich der großen Fragen der Orientierung in der Welt noch nicht begeben haben. So wie denjenigen namens Hans-Georg Gadamer, der uns viel über Wirkungsgeschichte, wie er es nannte, lehren konnte.6 ‚Wirkungsgeschichte‘ ist einerseits, wie viele wissen werden, buchstäblich die Erzählung darüber, wie sich etwas, manchmal scheinbar Unwichtiges, manchmal in seiner Wichtigkeitszuschreibung Schwankendes über die Zeit doch wirksam machen konnte. Und zugleich ist es aber auch dieses Wirksamwerden selbst. Denn diese Erzählung braucht ein Substrat, einen Gegenstand der Erzählung. Die Erzählung und ihr Gegenstand kommen im Falle von Weltwirkung in ein besonderes, ein fluides Verhältnis.

Mir geht es hier um das, was wir täglich versuchen, an Sinnvollem zu tun. Dem keine Wirksamkeit zu unterstellen, die über die alltägliche Situation hinausginge, müsste uns unendlich belasten. Das Schicksal des Sisyphos ist eher Menetekel als Trost. Nun, mit Gadamer ließe sich sagen, die Wirksamkeit unseres Handelns ist immerhin unsicher, es gibt die Chance der Relevanz, es ist auch eine Frage des Glücks wie auch einer ermöglichenden Geschicklichkeit. Unser Handeln unter 100 Milliarden mitlebenden oder gelebt habenden Mitmenschen mag uns klein und nichtig erscheinen, aber insofern es sinnvoll ist oder sich als sinnvoll herausstellt, kann es doch zu einer künstlichen Ewigkeit beitragen, die wir Kultur nennen. Diese Idee löst sich ab von Namen und Daten und rückt die Qualität alltäglichen situativen Handelns in den Mittelpunkt. Das erscheint mir eine vernünftige Idee zu sein, um das sonstige allgegenwärtige Verschwinden zu ertragen, das Expertinnen und Experten des Speicherns gegenüber Objekten historischer Berufspraxis nur filtern könnten, aber nicht aufhalten. Es gibt hier eine Chance zur sinnstiftenden Autonomie auch unter Milliarden Schicksalen.

Friedrich Schiller hat das in der euphorischen Stimmung des Jenaer Frühlings und seiner Zeitungen im Mai 1789 auch schon beschrieben oder besser: proklamiert, wenn auch unter deutlich optimistischeren Auspizien für das Individuum, als ich es vermag. Der euphorische Überschwang der armausbreitenden Fortschrittschancen-Beschwörung legte sich in den kommenden Jahren angesichts der Weltläufte zusehends, aber die Idee hatte doch grundsätzlich Bestand, wie mir auch im Anschluss an Gadamer scheint:

„Und welcher unter Ihnen, bei dem sich ein heller Geist mit einem empfindenden Herzen gattet, könnte dieser hohen Verpflichtung eingedenk sein, ohne daß sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann? Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unseren Mitteln einen Beitrag zu legen und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen.“7

Zum Autor


Der erste Autor unserer Reihe, Valentin Groebner, hat gewiss eine vergleichsweise sehr gute Chance, nicht nur ins kulturelle Gedächtnis einzuwandern, sondern dort auch sehr lange Zeit nicht ausmöbliert zu werden. Es ist schön und zur Reihe passend, dass Valentin Groebner ein Ur-Wiener ist, der 1962 in Wien geboren und in dieser Stadt erwachsen wurde, um dann während seines Studiums in die weite Welt zu ziehen. Seit langen Jahren ist er nun Geschichtsprofessor an der Universität Luzern. Dies ist eine vorläufige Endstation einer langen und glänzenden akademischen Karriere, die ihn nach Bielefeld, nach Florenz, nach Harvard und Paris geführt hatte. Neben seinen zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen hat er auch eine Reihe von Essays publiziert: Der kleine Grenzverkehr zwischen Geschichte und Gegenwart interessiert ihn besonders – und wie dabei „die Öffentlichkeit“ auf unterschiedliche Weise hineinspielt.

Ich möchte meinen schuldigen Dank für die Unterstützung der Veranstaltung abstatten:

  • an den Deutschlandfunk Kultur

  • an den De Gruyter...

Erscheint lt. Verlag 7.8.2023
Reihe/Serie ISSN
Vienna Public History Lectures
Zusatzinfo 4 col. ill.
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Historical Culture • Museum • Museums • Public History • Tourism • twenty-first century
ISBN-10 3-11-123513-0 / 3111235130
ISBN-13 978-3-11-123513-4 / 9783111235134
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