Demokratiedämmerung (eBook)
328 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77712-1 (ISBN)
»In der Theorie vielleicht eine gute Idee, versagt nur leider in der Praxis!« Was früher vom Kommunismus gesagt wurde, gilt heute für die Demokratie - sie wirkt zunehmend unglaubwürdig. Veith Selk zeigt in seinem scharf analysierenden Buch, warum sowohl die demokratische Politik als auch die sie begleitenden Demokratietheorien an der Wirklichkeit scheitern. Zwei Thesen werden dabei verfolgt: Der Niedergang der Demokratie ist keiner Regression geschuldet, sondern das Ergebnis der gesellschaftlichen Fortentwicklung. Das damit eingeläutete Ende der Demokratie führt auch zum Verfall der Demokratietheorie, die als akademische Disziplin anachronistisch wird.
Veith Selk ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt.
31I. Die Devolution der Demokratie
Die Devolution der Demokratie ist das Ergebnis von vier empirisch zusammenhängenden, aber analytisch zu unterscheidenden Prozessen: Erstens einer intensivierten Politisierung, die aufgrund des Fehlens mit ihr einhergehender sozial breiter Inklusion in die Willensbildung sowie des Übergreifens der Politisierung auf die Demokratie selbst Legitimationsprobleme erzeugt; zweitens der Zunahme von Differenzierung und Komplexität, die das politische Leben in demokratischen Regimen opak werden lässt, den demokratischen Gemeinsinn zersetzt und die bürgerschaftliche Wir-Identität auflöst; drittens der wachsenden Kognitionsasymmetrie innerhalb der Bürgerschaft, die zu Unterschieden hinsichtlich politischer Informiertheit und relevanter Wissensbestände führt, die mit dem demokratischen Gemeinsinn inkompatibel sind; und viertens schließlich der Vertiefung soziopolitischer Ungleichheit im Kontext des Endes des demokratischen Kapitalismus als einer zentralen politökonomischen Befriedungsinstitution, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Stabilität und Attraktivität demokratischer Regime geführt hatte.[1]
1.1 Legitimationsprobleme durch Politisierung
Gegenwärtig können nahezu alle Themen und Sachbereiche als politisches Problem behandelt werden. Politik dringt bis in die letzten Winkel des Privaten vor. Der feministische Slogan »Das Pri32vate ist politisch!« ist nun keine normative Forderung mehr, sondern eine empirische Beschreibung. Auf den ersten Blick ist die Politisierung in demokratischen Regimen damit vor allem auf die in den 1960er Jahren einsetzende »partizipatorische Revolution«[2] zurückzuführen. Diese brachte eine politische Mobilisierung großer Teile der Bevölkerung mit sich, erweiterte deren Ansprüche auf Teilhabe und resultierte in der Einbindung zahlreicher Akteure in die politische Willensbildung und Entscheidungsfindung – und sei es nur auf einer symbolischen Ebene. Die partizipatorische Revolution ist ein wesentlicher Grund dafür, dass das Regieren mittlerweile in hohem Maße ein Regieren im Kontext netzwerkförmiger und auch partizipativer Governance-Arrangements ist. Hierdurch ist das Repräsentationssystem partizipativ erweitert worden, vor allem aber wurden auf diesem Wege zahlreiche Themen auf die politische Agenda gesetzt, die vormals als unpolitisch galten. Die Zunahme von Partizipation hat sich als ein Treiber der Politisierung erwiesen. Sie hat allerdings nicht, wie von ihren Vorkämpfern erhofft, zur Demokratisierung geführt. In der Beteiligungsforschung gilt es mittlerweile als gesichert, dass Partizipation im Großen und Ganzen sozial selektiv ist. Sie begünstigt sozioökonomisch wie bildungsmäßig Bessergestellte.[3] Die entstandene partizipative Governance ist nicht mit einer partizipativen Demokratie zu verwechseln.
Politisierung im hier gemeinten Sinne ist allerdings kein auf die jüngere Vergangenheit und die Ausweitung von Partizipation in Form von partizipativen Governance-Arrangements beschränktes Phänomen. Der Prozess einer umfassenden Politisierung hat tiefer reichende Wurzeln. In diesem weiten Sinne verstanden ist sie ein Phänomen der modernen historischen Entwicklung. Dieser Umstand wird insbesondere von denjenigen Autoren verkannt, die an die von Hannah Arendt[4] und anderen Neoaristotelikern, aber auch von radikaldemokratischen Theoretikern sowie im politischen Diskurs über Postpolitik und Privatisierung formulierte These anknüpfen, wir hätten es mit einem »Ende« oder der »Selbstaufgabe« der Politik zu tun. In der Moderne, so Arendts einflussreiche These, sei 33die Politik eine Ausnahmeerscheinung. Dieses Urteil fußt auf ihrer eigentümlichen Deutung der Politik in der athenischen und römischen Antike und ihrem implizit normativen Politikbegriff. Legt man hingegen ein realistisches Verständnis von Politik zugrunde, in dessen Zentrum Herrschaft und das kollektiv verbindliche Entscheiden über die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und die Geltung von Normen und Werten stehen, sieht man, dass die Moderne nicht zu einem Rückzug der Politik geführt hat, sondern vielmehr zu ihrer Universalisierung und Ausbreitung. Als Prozess der Modernisierung verstanden, führt sie zur Politisierung, also der Ausweitung von Politik auf immer mehr gesellschaftliche Sachverhalte. Michael Th. Greven hat diese historische Erfahrung mit dem Konzept der politischen Gesellschaft[5] auf den Begriff gebracht. In der politischen Gesellschaft ist nicht alles zur gleichen Zeit politisch, aber alles kann politisiert werden.
Der Begriff der politischen Gesellschaft ist dadurch begründet, dass es keine soziale Sphäre und keinen Sachverhalt mehr gibt, die vor Politisierung prinzipiell geschützt sind. Politik kann infolge der Entstehung umfassender Regierungs- und Verwaltungsapparate und der politischen Inklusion der gesamten Bevölkerung, als Subjekte wie als Objekte von Politik, nun alle gesellschaftlichen Handlungsfelder durchdringen. Diese umfassende Politisierungsmöglichkeit ist jedoch weder mit einer umfassenden rationalen Steuerungskapazität noch mit einem voluntaristischen Zentralismus gleichzusetzen, demzufolge eine monolithische Regierung nach Gutdünken alle gesellschaftlichen Sachbereiche zentral steuern könnte. Politisierung ergibt sich vielmehr emergent aus dem naturwüchsigen Zusammenspiel heterogener politischer Kräfte; sie folgt keinem übergreifenden Plan oder einer zentralen Koordination, sondern ist das Resultat eines unkoordinierten Zusammenwirkens.
Dies lässt sich in Anknüpfung an John Dewey als Resultat der Ausweitung sozialen Handelns rekonstruieren. Mit Dewey kann Politisierung als das Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung erklärt werden, die zu einer wachsenden Zahl von Interaktionen mit Folgen für nicht direkt beteiligte dritte Parteien führt. Interaktionen zwischen Menschen haben zunehmend Drittwirkungen 34oder werden als solche wahrgenommen, und dies bewirkt einen zunehmenden Bedarf an öffentlicher, das heißt politischer Kontrolle sozialen Handelns.[6] Diese von Dewey frühzeitig beobachtete Tendenz moderner Vergesellschaftung ist ein maßgeblicher Grund für die Entstehung der politischen Gesellschaft. Hinzu kommt das wachsende Kontingenz- und Könnensbewusstsein, das von Greven besonders betont worden ist. Die Evolution der modernen Gesellschaft lässt den Bestand an fraglos gültigen Traditionen und Institutionen, und damit den Bestand an traditionaler Legitimität als Stabilisierungsquelle, stetig schrumpfen.[7] Sie erweitert den Raum des Möglichen. Damit stellt Politisierung einerseits einen Möglichkeitsbegriff dar, der die politische Gestalt- und Veränderbarkeit reflektiert. Andererseits handelt es sich bei ihm um einen Notwendigkeitsbegriff, da die Zunahme sozialer Interaktion mit Drittfolgen eine erhöhte Nachfrage nach kollektiv verbindlicher Regulierung mit sich bringt. Als ein zeitdiagnostischer Begriff verweist Politisierung schließlich auf den von Greven herausgearbeiteten Umstand, dass in der politischen Gesellschaft in mehr und mehr sozialen Kontexten politisch gehandelt werden kann, und zur gleichen Zeit über mehr und mehr soziale Kontexte politisch entschieden werden muss.
Die Politisierungsforschung unterstützt das historisch-theoretische Argument Deweys und Grevens auf der empirischen und konzeptuellen Ebene.[8] Sie zeigt, dass auf unterschiedlichsten Feldern ein Politisierungsprozess zu beobachten ist, in dessen Verlauf sich der Bereich des öffentlichen Interesses, politischer Kontroversen, politisch betroffener Akteure und allgemeinverbindlich regulierter Sachverhalte erweitert. Am augenfälligsten trat dies mit Blick auf den Brexit und die Politisierung der EU-Governance und der Verfasstheit der Europäischen polity insgesamt in Erscheinung. Es betrifft darüber hinaus aber auch zahllose weitere Themengebiete und Sachverhalte wie etwa die Mobilität, das Wohnen, die Grenzen der Meinungsfreiheit, die digitale...
Erscheint lt. Verlag | 29.10.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Demokratie • Fortschritt • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Politikwissenschaft • Regression • STW 2417 • STW2417 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2417 |
ISBN-10 | 3-518-77712-2 / 3518777122 |
ISBN-13 | 978-3-518-77712-1 / 9783518777121 |
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