Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen

(Autor)

Buch | Hardcover
575 Seiten
2005 | 1. Aufl. 2005
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-94104-3 (ISBN)

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Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen - Gerhardt Nissen
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»... Gerhard Nissen hat mit diesem Buch eine bewundernswerte Integrationsleistung vollbracht, die uneingeschränkte Anerkennung verdient.«
Helmut Remschmidt (Deutsches Ärzteblatt, 9.9.2005)


Dies ist weltweit die erste chronologische Darstellung psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen von der Antike bis in die Gegenwart. Zugleich ist es eine Kulturgeschichte, in der sich die Ängste und Hoffnungen der Gesellschaften in den verschiedenen Epochen widerspiegeln.

Die Erkenntnis, daß sich neben den körperlichen auch die seelischen Erkrankungen durch Heilkunst beeinflussen lassen, ist schon früh vorhanden. Erste Versuche einer Klassifikation psychischer Störungen stammen aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. Gerhardt Nissen untersucht, wie die Gesellschaften vom Altertum bis heute mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen umgegangen sind. Waren die Götter, Dämonen oder Hexen verantwortlich? Oder die Erbsünde? Oder spielten Degeneration oder Onanie eine entscheidende Rolle?

Wir erfahren von den Aussetzungen geistig behinderter Neugeborener im Altertum, von der Tötung mit geistlichem Beistand, von sogenannten Wechselbälgen, die aus der Vereinigung mit dem Teufel entstanden sein sollen, von der Einrichtung der ersten Findel-, Waisen- und Rettungshäuser, von den Anfängen einer eigentlichen Psychopathologie und Psychotherapie für Kinder und Jugendliche im 19. Jahrhundert, von der Euthanasie und den neuesten Entwicklungen der Nachkriegszeit. Es kommen frühe Berichterstatter, später Therapeuten, Ärzte und andere heilende Helfer wie Philosophen, Psychologen, Pädagogen zu Wort, und durch ihre Berichte erfahren wir von den betroffenen Kindern und Jugendlichen selbst.

Gerhardt Nissen, Dr. med., Professor und emeritierter Direktor der ersten bayerischen Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Würzburg. Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, für Psychiatrie und Neurologie, für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse.Mitbegründer der »Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde« und Gründer des Psychotherapeutischen Kollegs in Würzburg.

Vorwort
Einleitung

1. Psyche, Ärzte und Medizin im Altertum
1.1 Einführung
1.2 Naturrecht und Kindesaussetzungen
1.3 Sitz der Seele

2. Dämonenglaube, Exorzismus, Kinderkreuzzüge
5.-15. Jahrhundert
2.1 Einführung
2.2 Dämonenglaube und Exorzismus
2.3 Kinder und Jugendliche als Hexen
2.4 Kinderkreuzzüge und Tanzwut
2.5 Ärzte als Aufklärer

3. Ärzte und Pädagogen als Helfer und Heiler
16.-18. Jahrhundert
3.1 Einführung
3.2 Ärzte als Diagnostiker und Systematiker
3.3 Pädagogen als Theoretiker und Praktiker
3.4 Reformpädagogik als Prävention und Therapie
3.5 Primär hochbegabte Wunderkinder und "Wunderkinder" durch Lerntorturen

4. Psychisch gestörte Kinder in Findel-, Waisen- und Rettungshäusern
16.-19. Jahrhundert
4.1 Einführung
4.2 Säuglinge und Kleinkinder in Findelhäusern
4.3 Kinder und Jugendliche in Waisenhäusern
4.4 Verwahrloste Kinder und Jugendliche in Heimen
4.5 Rettungshäuser für sozialisationsgestörte Kinder und Jugendliche

5. Geistig behinderte Kinder in besonderen Einrichtungen
16.-19. Jahrhundert
5.1 Einführung
5.2 Geistig behinderte Kinder in Asylen und Spitälern
5.3 Das geistig behinderte Wildkind "Victor von Aveyron"
5.4 Geistig behinderte Kinder in physiologisch-therapeutischen Anstalten
5.4.1 Das "Heim für minderbegabte Kinder" in Berlin von Carl Wilhelm Saegert
5.4.2 Der Abendberg,"Heilanstalt für Cretinen und blödsinnige Kinder" in Interlaken
5.4.3 Samuel Gridley Howe errichtete in den USA eine Versuchsschule für schwachbegabte
5.4.4 Die "Anstalt für Schwach- und Blödsinnige" in Leipzig von Karl Ferdinand Kern
5.5 Geistig behinderte Kinder in Erziehungs- und Pflegeanstalten in Deutschland

6. Asyle und Spitäler für seelisch gestörte Kinder und Jugendliche in Europa
Mittelalter - 19. Jahrhundert
6.1 Einführung
6.2 Kinder und Jugendliche in Hôtels,Hospices und Kliniken in Frankreich
6.3 Kinder und Jugendliche in Asylums, Lunacies und Kliniken in Großbritannien
6.4 Kinder und Jugendliche in Heil- und Pflegeanstalten und Kliniken in deutschsprachigen Ländern
6.4.1 Irrenanstalten in Deutschland
6.4.2 Statistische Erhebungen in Heil- und Pflegeanstalten deutschsprachiger Länder
6.4.3 Kinder in Heil- und Pflegeanstalten für Erwachsene
6.4.4 Statistiken über die Belegung der Heil- und Pflegeanstalten mit Kindern
6.4.5 Psychisch kranke Kinder in der Familie
6.4.6 Mißstände in der psychiatrischen Krankenversorgung

7. Psychisch kranke Kinder und Jugendliche im 19. Jahrhundert in Deutschland
19. Jahrhundert
7.1 Einführung
7.2 Die besondere Situation in Deutschland
7.3 Entwicklungspsychiatrische Tendenzen
7.4 Ätiopathogenetische Paradigmenwechsel

8. Der Streit der romantischen und somatischen Psychiater
19. Jahrhundert
8.1 Einführung
8.2 Die romantischen Ärzte
8.3 Die Ärzte der somatischen Schule

9. Entwicklungspsychiatrische Kasuistiken
19. Jahrhundert
9.1 Vom Einzelfall zur Diagnose
9.2 Kasuistiken psychisch kranker Kinder und Jugendlicher
9.2.1 Pränatale Existenz, Neugeborene und Säuglinge
9.2.2 Kleinkind- und Vorschulalter
9.2.3 Schulalter
9.2.4 Pubertät
9.2.5 Jugendalter

10. Psychiater, Pädiater, Pädagogen und Psychologen als Wegbereiter
19. Jahrhundert
10.1 Einführung
10.2 Psychiater
10.2.1 Anfänge einer Psychopathologie
10.2.2 Ansätze zu

3. Ärzte und Pädagogen als Helfer und Heiler
16.-18. Jahrhundert

3.1 Einführung

Im Spätmittelalter und in der beginnenden Neuzeit wurde das weithin brachliegende Feld der Versorgung und Behandlung psychisch gestörter Kinder gleichzeitig weiterhin von Ärzten, mit zunehmender Häufigkeit aber auch von Nichtärzten bestellt. Es handelte sich dabei einerseits um Philosophen und Pädagogen, die durch praktische Erfahrungen theoretische Erkenntnisse für eine "heilende Erziehung" gewonnen hatten, und andererseits um Heilpädagogen, die Internate für gesunde und gestörte Kinder gründeten und mit theoretischen Schriften an die Öffentlichkeit traten. Zu den pädagogischen Autodidakten und Philosophen gehörten Montaigne, Comenius, Rousseau, Kant, Pestalozzi, Fröbel. Dabei ist es aus entwicklungs- wie aus tiefenpsychologischer Sicht sicher nicht ohne Bedeutung, daß das persönliche Schicksal von Comenius, Rousseau, Pestalozzi und Fröbel durch frühe Verluste ihrer Mütter oder Väter geprägt war: Comenius verlor als Kind beide Eltern, Rousseau und Fröbel als Kinder ihre Mütter und Pestalozzi seinen Vater bald nach seiner Geburt. Bemerkenswert erscheint auch, daß entwicklungspsychologisch orientierte Ärzte vorher oder nachher häufig eine zusätzliche philosophische Ausbildung absolviert hatten, während viele heilpädagogische Nichtärzte sich während ihrer beruflichen Tätigkeit ein ergänzendes medizinisches Wissen erwarben. Beide Berufsgruppen sind aus heutiger Sicht sowohl Pioniere einer sich danach allmählich etablierenden Kinder- und Jugendlichenpsychologie als auch der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.

Der französische Arzt Nicholas Andry (1658-1742), Begründer der "Orthopädie", forderte Korrekturen nicht nur für körperliche, sondern auch für seelische Haltungsschäden.

Im wesentlichen sind für diese Zeit drei Schwerpunkte zu erörtern, die für die psychisch gestörten Kinder und Jugendlichen von Bedeutung sind: 1. das Fortbestehen des Hexenund Dämonenglaubens mit einem Höhepunkt der Hinrichtungen im 17. Jahrhundert und die gleichzeitig zunehmenden Zweifel an der Existenz böser Geister, 2. frühe entwicklungspsychologische Konzepte, pragmatisch entwickelt von pädagogisch arbeitenden Ärzten, Erziehern und Therapeuten, die sich teilweise auf antike Texte stützten, und 3. die Einrichtung von heilpädagogischen Heimen und philanthropischen Internaten.

3.2 Ärzte als Diagnostiker und Systematiker

John Locke forderte als Entwicklungspsychologe kindgerechte Erziehungsmethoden
Ein neuer Abschnitt nicht nur für die Medizin, sondern speziell für die Psychologie und Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters begann mit John Locke (1632-1704), auf den sich später immer wieder führende Pädagogen und Heilpädagogen beriefen. Locke hatte Medizin und Chemie studiert, bevor er sich der Philosophie zuwandte. Zwischen 1667 und 1675 lebte er als Arzt und Erzieher in der Familie seines Freundes, dem einflußreichen Lord Shaftesbury. Vorübergehend war er als Diplomat in Brandenburg tätig, später hielt er sich längere Zeit in Frankreich und in Holland auf.

Locke war Begründer des philosophischen Empirismus ("Nicht ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war"). Er kann mit seinen Büchern "An essay concerning human understanding" (1690) und "Some thoughts concerning education" (1683) auch als Begründer der modernen Entwicklungspsychologie, die wiederum für die Entwicklungspsychopathologie von großer Bedeutung war, angesehen werden. Er forderte eine "kindgerechte Erziehung" und Förderung bestehender erblicher Anlagen. Die moralische Erziehung solle sich nicht nach Regeln und Strafen, sondern nach dem Beispiel der Eltern richten. Die Grundlage der seelischen Entwicklung sah er (er greift damit einen Gedanken Platons auf) in einer tabula rasa, einer fiktiven Wachstafel, auf die sich

Erscheint lt. Verlag 5.4.2005
Zusatzinfo mit 56 Abbildungen und Register
Sprache deutsch
Maße 178 x 245 mm
Gewicht 1100 g
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Geisteswissenschaften Psychologie Persönlichkeitsstörungen
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychosomatik
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Jugendpsychotherapie • Kinderpsychiatrie / Jugendpsychiatrie • Kinderpsychotherapie • Psychische Störung • Psychopathologie • Psychotherapie
ISBN-10 3-608-94104-5 / 3608941045
ISBN-13 978-3-608-94104-3 / 9783608941043
Zustand Neuware
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