Umkämpfte Wissenschaften - zwischen Idealisierung und Verachtung (eBook)

[Was bedeutet das alles?]
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2023 | 1. Auflage
80 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962192-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Umkämpfte Wissenschaften - zwischen Idealisierung und Verachtung -  Frieder Vogelmann
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Über die Wissenschaften wird derzeit gestritten: über ihre Ergebnisse, ihre Methoden und ihre Praktiken. Das ist ihrer gesellschaftlichen Bedeutung angemessen, führt aber zu einem gefährlich verkürzten Verständnis, als gäbe es nur 'die eine Wissenschaft'. Gegen die Leugnung »der Wissenschaft« errichten ihre Verteidiger*innen ihrerseits ein Ideal, das Wissenschaft gegen Kritik immunisiert, ihre Vielfalt verdeckt und Wissenschaftsleugner*innen in die Hände spielt, da ihm keine Forschungspraxis entspricht. Gegen dieses schädliche Ideal plädiert Frieder Vogelmann für ein realistisches Verständnis wissenschaftlicher Praktiken.

Frieder Vogelmann, geb. 1981, Professor für Epistemology & Theory of Science am University College Freiburg und der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Frieder Vogelmann, geb. 1981, Professor für Epistemology & Theory of Science am University College Freiburg und der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

2.1 Der nostalgische Positivismus: It’s the Science, Stupid!


Gegen ›gefühlte Wahrheiten‹, ›alternative Fakten‹ und sozialkonstruktivistische Wissenschaftskritik muss die wissenschaftliche Methode offensiv verteidigt werden, mitsamt der mit ihr errungenen ›harten Tatsachen‹ – so der Tenor zahlreicher Schriften, die in den letzten Jahren gegen den vermeintlichen Bedeutungsverlust von Wahrheit in einem ›postfaktischen Zeitalter‹ verfasst wurden. In ihnen ergibt sich der nostalgische Positivismus aus vier miteinander verbundenen Behauptungen:

  1. Wahrheit wird ohne Diskussion als realistische Korrespondenzbeziehung zwischen Aussagen und einer von menschlichen Wünschen und Überzeugungen unabhängigen Wirklichkeit bestimmt.

  2. ›Die Wissenschaft‹ wird als einheitliche Veranstaltung beschrieben (und deshalb im Singular gehalten), die sich dank ihrer Methode eindeutig gegen Pseudowissenschaften und nichtwissenschaftliches Wissen abgrenzen lässt.

  3. Diese Methode garantiert zudem, dass ›die Wissenschaft‹ unbeeinflusst von politischen Konflikten, sozialen Normen oder ethischen Erwägungen bleibt; dies erlaubt es der Wissenschaft, politisch neutral und sich selbst korrigierend für ständigen Fortschritt im Wissen zu sorgen.

  4. Der Verlust dieser drei Gewissheiten im ›postfaktischen Zeitalter‹ öffnet Wissenschaftsleugner*innen Tür und Tor. Es gilt daher, diesen Gewissheiten wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.

Ein anschauliches Beispiel für diesen nostalgischen Positivismus liefert der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Lee McIntyre in seinem Buch Post-Truth. Zwar spricht er sich und seine Leser*innen explizit als diejenigen an, die sich »ernsthaft um Wahrheit kümmern«22, doch diskutiert er kaum, um was ›wir‹ uns eigentlich kümmern sollten. Als Minimalanforderung, die jeder Wahrheitsbegriff erfüllen müsse, zitiert er Aristoteles’ klassische Definition von Wahrheit: »Denn zu behaupten, das Seiende existiere nicht oder das Nicht-Seiende existiere, ist falsch. Dagegen zu behaupten, dass das Seiende existiert und das Nicht-Seiende nicht existiert, ist wahr.«23 Obwohl McIntyre einräumt, dass die Interpretation dieser Wahrheitsdefinition umstritten ist, vereindeutigt er sie sofort zu einer realistischen Korrespondenztheorie der Wahrheit (etwas ist dann wahr, wenn es mit den Tatsachen einer von menschlichen Vorstellungen unabhängigen Welt übereinstimmt) und geht im Folgenden über alle möglichen Einwände aus der angesprochenen Diskussion hinweg, als ob sie seine weiteren Ausführungen nicht beträfen. Doch das tun sie.

Die philosophische Diskussion über Wahrheit ist verwickelt. Es reicht jedoch aus, zwei Überlegungen herausgreifen, um zu erkennen, wie fahrlässig McIntyre mit dem Begriff ›Wahrheit‹ umgeht und dass seine Position auf dieser Fahrlässigkeit beruht. Zunächst sollte man sich anhand von zwei Fragen vergegenwärtigen, wie unterschiedlich Wahrheit verstanden werden kann: Ist Wahrheit eine Beziehung bzw. eine Relation? Und falls ja: Zwischen welchen Gegenständen (im weitesten Sinne) besteht die Relation?

Versteht man Wahrheit als realistische Korrespondenz zwischen Aussagen und Welt, beantwortet man beide Fragen in einem Zug. Wahrheit wird dann als Korrespondenzbeziehung verstanden, die zwischen Aussagen und der Welt besteht, über die etwas ausgesagt wird. Der Zusatz ›realistisch‹ gibt an, dass sie zwischen Dingen aus verschiedenen Seinsbereichen (Sätzen und Elementen der nicht-sprachlichen Wirklichkeit) besteht. Wer stattdessen Wahrheit kohärenztheoretisch fasst, versteht Wahrheit zwar ebenfalls als Beziehung, aber als eine Kohärenzrelation zwischen ontologisch gleichartigen Elementen – entweder klassisch zwischen verschiedenen Aussagen oder materialistisch gewendet zwischen den Elementen sozialer Praktiken.

Sogenannte deflationistische Wahrheitstheorien verstehen Wahrheit gar nicht erst als Relation, sondern nur als Eigenschaft von Sätzen. So fasst die frühe Form der Redundanztheorie den Ausdruck »… ist wahr« als bloßes rhetorisches Mittel auf, das zur Betonung eingesetzt wird oder Wiederholungen vermeidet. Wie der Mathematiker und Philosoph Frank Ramsey ausführt, ist es unnötig, statt »Caesar wurde ermordet« zu sagen: »Es ist wahr, dass Caesar ermordet wurde.«24 Allenfalls wird damit die Tatsache betont, ihr aber nichts Neues hinzugefügt. In anderen Fällen erspart uns »… ist wahr« Arbeit: Anstatt noch einmal zu erzählen, was Emma bereits erzählt hat, können wir sagen: »Was Emma Goldman sagt, ist wahr.« Oder sogar: »Alles, was die Anarchistin sagt, ist wahr«.

Wolfgang Künne warnt angesichts dieser Unterscheidungen davor, in dem »Slogan, dass was jemand denkt oder sagt genau dann wahr ist, wenn es mit der Realität überstimmt«25, bereits eine Vorstellung von Wahrheit als Korrespondenz zu sehen. Alles hänge davon ab, wie wir ›übereinstimmen mit‹ interpretieren. Handelt es sich um eine echte zweistellige Relation, d. h. eine Beziehung zwischen zwei unabhängigen Entitäten? Oder sieht es nur grammatisch so aus, als ob eine solche Beziehung besteht? Künne verdeutlicht das an zwei Beispielsätzen: Aus »Ben fiel in Vergessenheit« würde niemand schließen, dass es etwas gibt, in das Ben hineinfiel – wohl aber aus »Ben fiel in den Swimmingpool«. Im zweiten Fall bezeichnet ›fiel in‹ eine echte zweistellige Relation, nicht aber im ersten Fall. Müssen wir nun Aristoteles’ Definition, dass Wahrheit die Übereinstimmung von Worten oder Gedanken mit der Wirklichkeit ist, so deuten, dass die Übereinstimmung eine echte zweistellige Relation ist, oder sieht sie nur grammatisch so aus?

Für McIntyre wäre diese subtile Unterscheidung deshalb wichtig, weil er die Neuartigkeit des ›postfaktischen Zeitalters‹ darin sieht, dass die ›postfaktische‹ Ignoranz von Wahrheiten zu einem Realitätsverlust führt, zur »Infragestellung nicht nur der Idee, Wissen über die Wirklichkeit haben zu können, sondern der Existenz dieser Wirklichkeit selbst«26. Das ist unmittelbar einleuchtend – wenn man einen realistischen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff zugrunde legt. Wenn Wahrheit eine echte zweistellige Relation zwischen Aussagen und Wirklichkeit ist, dann verlieren wir mit der Wahrheit auch diese Wirklichkeit. Doch gilt das nicht, wenn wir Wahrheit deflationistisch interpretieren, wie etwa Ramsey als rhetorisches Mittel. Genauso wenig gilt McIntyres Schluss, wenn wir Wahrheit als Kohärenz zwischen Aussagen verstehen. Verloren geht stattdessen eine bequeme Abkürzung oder eine Form der Beurteilung unserer Aussagen. Gleichwohl können alle diese Wahrheitstheorien die aristotelische Minimalanforderung erfüllen, entsprechend der wahr ist, was mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

Problematisch ist nicht, dass McIntyre eine realistische Korrespondenztheorie der Wahrheit vertritt, sondern dass er sie nicht gegenüber Alternativen begründet, die seine Schlussfolgerungen nicht mittragen.

Stattdessen baut McIntyre auf seinem nie explizierten realistisch-korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff die Vorstellung einer einheitlichen Wissenschaft auf, die er zudem auf politisch neutrale, wertfreie empirische Forschung reduziert. Wissenschaftliche Praktiken seien wertneutral, solange alle Beteiligten ihren strengen Standards gerecht würden, zu denen insbesondere die Wiederholbarkeit experimenteller Ergebnisse und peer review-Prozesse (in denen wissenschaftliche Studien vor ihrer Veröffentlichung durch andere Wissenschaftler*innen begutachtet werden) gehören. Rhetorisch fragt McIntyre, wie angesichts des hohen Niveaus wissenschaftlicher Selbstüberprüfung Nicht-Wissenschaftler*innen überhaupt auf die Idee kämen, die Resultate der Wissenschaft in Zweifel zu ziehen. Letztlich, so legt er damit nahe, falle Wissenschaftskritik von außen mit Wissenschaftsleugnung in eins.

Damit fehlt von den vier Behauptungen, aus denen der nostalgische Positivismus besteht, nur noch die letzte. Nachdem McIntyre Wahrheit ohne Begründung als realistische Korrespondenz definiert und Wissenschaft als einheitliches Unternehmen der Wahrheitssuche bestimmt hat, das wertneutral vorgeht, muss er nur noch die Frage beantworten, warum diese Einsichten verlorengegangen sind. Die Antwort ist schnell gefunden: Schuld ist ›die Postmoderne‹. Nachdem er diese auf die beiden Thesen reduziert hat, es gäbe keine objektive Wahrheit und jeder Wahrheitsanspruch drücke bloß die »politische Ideologie der Person« aus, »die ihn erhebt«27, erlaubt er »postmodernistische Kritik« dort, wo sie keinen Schaden anrichten kann:

Wären die Postmodernisten damit zufrieden gewesen, literarische Texte oder meinetwegen die symbolische Dimension unseres kulturellen Verhaltens zu interpretieren, wäre das in Ordnung gewesen. Doch sie blieben nicht dabei. Als nächstes griffen sie die Naturwissenschaften an.28

McIntyre gesteht großzügig zu, dass Begriffe wie ›Wahrheit‹ oder ›Objektivität‹ kritisch diskutiert werden dürften, zieht jedoch eine rote Linie, sobald diese Kritik Folgen nach sich ziehen könnte. In diesem Falle sei die Kritik Steigbügelhalterin des postfaktischen Zeitalters.

Der Vorwurf, ›die Postmoderne‹ habe die Wahrheit abgeschafft, ist...

Erscheint lt. Verlag 27.10.2023
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek – [Was bedeutet das alles?]
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
Schlagworte Abgrenzungsproblem • Epistemologie • Erkenntnistheorie • Forschungspraxis • Impfgegner • Impfgegnerschaft • Klimawandel • Klimawandelleugnung • Methoden • philosophie wissenschaft • Positivismus • Praktiken • Sozialkonstruktivismus • Theorie Wissenschaft • Vielfalt • Wahrheit • Wie funktioniert Wissenschaft • Wissen • Wissenschaft ideal • Wissenschaft Realität • Wissenschaftskritik • Wissenschaftsleugnung • Wissenschaftstheorie • Wissenschaftsverweigerer • Wissenschaft Verachtung
ISBN-10 3-15-962192-8 / 3159621928
ISBN-13 978-3-15-962192-0 / 9783159621920
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