Mendelssohns Gärten (eBook)

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2023 | 1. Auflage
303 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-77629-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mendelssohns Gärten -  Thomas Lackmann
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Während des Siebenjährigen Krieges lädt der Seidenkaufmann und Philosoph Moses Mendelssohn (1729-1786) seinen reisenden Freund Lessing ins Grüne ein: »Ich habe einen überaus schönen Garten, darin Sie logiren können. Er ist von Herrn Nicolai seinem nicht weit abgelegen; und Sie können alle Bequemlichkeiten darin haben, die Sie nur wünschen [...]. Wie angenehm könnten wir die Abende zubringen, wenn Sie sich hierzu verstehen wollten!«

Mendelssohn, von seinen Verehrern als »Jude von Berlin« gerühmt, führt trotz seiner schwachen Kondition ein aufreibendes Doppelleben zwischen Fabrikkontor und Studierstube. Thomas Lackmann zeigt ihn als Intellektuellen und Geschäftsmann, der sich zur Erholung und für die Diskussion seiner Projekte gern in Arbeits-Lauben und auf den Sommersitzen reicher Mentoren holt, was zum Leben nötig ist.

Thomas Lackmann, geboren 1954, ist katholischer Theologe, Historiker, Journalist und Ausstellungsmacher. Zuletzt erschien von ihm die Familienbiografie <em>Das Gl&uuml;ck der Mendelssohns</em>. Thomas Lackmann lebt in Berlin.

Der Bücherwurm träumt von frischer Luft


Erster Spazierflug: vom literarischen Tibertal durch die Baumannshöhle an der Brüderstraße zu einem Panorama in Pommern und den berühmtesten Bäumen Berlins

Das Glück des philosophischen Landhausbewohners entsteht aus dem Zusammenspiel von Gefühl und Empfindung. Er sieht den weißglänzenden Gipfel des steilen Berges vis-à-vis die Ebene überragen, Bäume unter dicker Schneelast und erstarrte Flüsse. Den Frühling hat er vorauseilend wohl schon im Sinn, wenn er seinen jungen Freund ermuntert »Zerlaß die Kälte!«: als seien Eistemperaturen aufzuschmelzen wie ein gefrorener Butterblock, angeheizt von der Vorfreude auf kommende Freiluftvergnügen. Der Landhausbewohner schafft Brennholz für den Herd herbei und ausreichend guten Wein in dicken Flaschen. Zypressen und die alten Buchen drüben, da ist er zuversichtlich, werden nicht mehr wild umherschwanken, sobald erst das Meeresbrausen hinterm Horizont sich legt und die Turbulenz der Winde verstummt …

Eigentlich ist dieser Landhausbewohner ein Stadtmensch. Er hockt weit entfernt von allen Landschaftsgärten und von der Natur, die er sich poetisch ausmalt, am Schreibtisch, mit Blick auf eine dreistöckige Nachbarfassade in seinem beengten dreistöckigen Wohnhaus. An einer der baumlosen schmalen Straßen im Zentrum des alten Berlin, nahe dem Neuen Markt und der Kirche St.Marien. Moses Mendelssohn, ursprünglich genannt Mausche Dessau, ist aus der gleichnamigen kleinen Anhaltinischen Residenz vor 21 Jahren ins etwas größere Berlin eingewandert. Den modernen bürgerlichen Namen Mendelssohn, abgeleitet von seinem Vater Mendel, hat der Jude erst vor zwei Jahren für die Korrespondenz mit christlichen Briefpartnern angenommen – und zum Einsatz bei künftigen Publikationen.

Beim Verfassen seiner Laudatio auf das gute Landleben ist er 35 Jahre alt und schreibt an den neun Jahre jüngeren Freund Thomas Abbt, mit dem er sich für ein aufklärerisches Literaturmagazin engagiert. Der Text über das zufriedene Leben bei Wind und Wetter entspringt aber nicht seiner eigenen Phantasie. Im begleitenden Briefwechsel mit seinem gelehrten Kollegen ist er gerade dabei, als Literaturkritiker und Ästhetik-Theoretiker über die Lyrik der Berliner Dichterin Anna Louisa Karsch zu fachsimpeln. Den Versen dieser Literatin gewinnt sein Freund Abbt einiges ab, während Mendelssohn ihr Handwerk, die beliebige Aneinanderreihung poetischer Bilder, scharf kritisiert. Um ein ideales Gegenbeispiel zu liefern, bei dem die dargestellten Motive elegant verbunden sind und eine eben entstandene Empfindung nicht gleich durch weitere Reizbotschaften überlagert wird, übersetzt er lateinische Verse des Schriftstellers Horaz in deutsche Prosa. »Sobald der Odendichter von einer Sensation lebhaft gerührt wird«, kommentiert er den Arbeitsprozeß des Römers und seine eigene Faszination, »so kehrt er in sich, siehet und höret nichts mehr, empfindet nur, denkt nur, bis das volle Herz in Worte ausbricht. Er spricht, aber noch mit abwesenden Sinnen, wie ein vernünftiger Träumer.«[1] 

Der imaginierte Naturbeobachter und Lyrikfan Mendelssohn preist die Verse des Horaz über das Leben am Mons Soracte im Tibertal, bekannt unter dem Titel »An Thaliarchus: Vertreibe den Winter!«, als ein »herrliches Gewächs«. Als Genießer und Analytiker betont er, daß Fühlung = Sensation und Empfindung = Sentiment nicht dasselbe sind: »Jedermann weiß, wie unterschieden es z.B. ist, einen Kuß zu fühlen, oder empfinden. Die schöne Natur sehen, hören, fühlen, oder empfinden.« Mehr als der Genuß des Gartens selbst mit all seinen Elementen scheint ihn dabei zu interessieren, wie genau dieser Genuß funktioniert! Dafür faßt er die schnörkelfreie Bündigkeit des antiken Gedichts samt einiger alltagsweiser Carpe-diem-Überlegungen in den letzten Strophen mit eigenem Stakkato zusammen: »Das Wetter ist unfreundlich, mein Freund! Mache dir zu Hause ein Vergnügen. Geneuß der gegenwärtigen Zeit, und denke nicht immer an das Künftige. Du bist ja noch jung! Musen, Tänze, Leibesübung und Scherze sind für junge Leute die artigste Beschäftigung.« Moses, der Nachdichter, ist seit zwei Jahren verheiratet. Hat allerdings in seiner eigenen Verdeutschung dann für das, was er »artigste Beschäftigung« nennt, die sinnliche Formulierung gefunden: »am Abend leises Flüstern zur abgeredeten Stunde«. Bei diesen Worten stellen wir uns vor, wie späte Sonnenwärme zur lauen Dämmerung den Nachtfrost verdrängt.

Der »Jude von Berlin« bevorzugt den Schreibtisch


Moses, der eingebildete Landhausbewohner, ist zum Zeitpunkt dieser literarischen Phantasie, im Sommer 1764, schon über Berlin hinaus bekannt. Drei Jahre zuvor war er, als sein Buch »Briefe über die Empfindungen« in Paris von sich reden machte, von einem Mitglied der Académie française bereits als der »juif à berlin« vorgestellt worden. Ein ehrend gemeinter Titel, der aber abwertend verstanden werden kann; mit dem als Autorenname man später die französische Ausgabe seines Bestsellers »Phädon« bewerben wird.

Dieses Buch »Phädon« mit dem Untertitel »Gespräche über die Unsterblichkeit der Seele« wird – vielfach aufgelegt und übersetzt – dem Berliner schließlich internationales Publikumsecho und Anerkennung in europäischen Gelehrtenkreisen verschaffen. Als »der Jude von Berlin« scheint Mendelssohn bald schon für die christliche Mehrheitsgesellschaft das Vorzeigemodell seiner unterdrückten Minorität zu verkörpern, charakterlich erhaben über die verachteten Durchschnittsexemplare seiner weithin als unzivilisiert abgestempelten Glaubensgenossen. Dafür, daß deren bürgerliche Anpassung tatsächlich denkbar und ihre Gleichberechtigung zu vertreten wäre, liefert dieser »Ausnahmejude« persönlich den Beweis. Während er, der ausgebildete Talmudexperte, zur Garantie seines Berliner Bleiberechts und für den Lebensunterhalt seiner Familie im Kontor eines jüdischen Seidenfabrikanten dem buchhalterischen Brotberuf nachgehen muß, gehört seine Leidenschaft zunächst und vor allem der Literaturkritik, der Beschäftigung mit den schönen Künsten, der philosophischen Spekulation über existentielle Grundfragen. Als Protagonist der jüdischen Aufklärung, genannt Haskala, als Emanzipationspionier und zukunftsträchtige Licht- und Integrationsgestalt eines »Moses der deutschen Juden« wird er sich dann aber in seinem sechsten Lebensjahrzehnt profilieren: besonders durch politische Publikationen und durch monumentale Übersetzungsprojekte aus dem Hebräischen.

Als Intellektueller und als edler Charakter, als brillanter Stilist und einfühlsamer Moderator ist Mendelssohn bei Zeitgenossen und Nachgeborenen, die seine Schriften und seine Porträts kennen, berühmt. Daß er schöne, ausdrucksstarke Augen hat, bestreitet niemand. Doch darüber hinaus wird seine Körperlichkeit als unansehnlich geschildert. Schönheit und Kraft finden seine Verehrer nur in der Seele dieses »Menschenfreundes«. Auf einer naturalistischen Zeichnung von Daniel Chodowiecki, der ihn öfter als jeder andere Maler porträtiert hat, wirkt dieser verkrümmte Gnom eher wie der Glöckner von Notre-Dame als wie ein Apoll. Assoziationen, die an Einklang mit der Natur, an Gesundheit, organische Vollkommenheit und äußere, sinnliche Schönheit denken lassen, weckt seine äußere Erscheinung nie. In seinem Kopf, in seinen Büchern kommen solche Themen und Begriffe häufig vor. Verkörpern kann er sie nicht. Zum Image des verkopften Naturmuffels paßt dann wohl auch sein in frühen Jahren schon ausgeschütteter Spott über zeitgenössische Phantasien vom Paradies Arkadien, gedruckt in der moralischen Wochenschrift »Chamäleon«.

Die Rose des Malers bewundern wir mehr


»Man hat die Kunst erfunden, das einfältige Schäferleben mit den angenehmsten Farben zu schildern. Was ist lieblicher, als die Natur, und was ist einnehmender als ihre Schönheit? Man läßt den Schäfer in einem immerwährenden Frühlinge zwischen Rosen und wohlriechenden Gesträuchen hinter seiner Herde hergehen. Bald setzt er sich in den Schatten einer Eiche, und stimmt ein unschuldiges Lied an, indem seine Schafe um...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte 18. Jahrhundert • aktuelles Buch • Berlin • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Garten • Gotthold Ephraim Lessing • Judentum • Jüdisches Leben • Moses Mendelssohn • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch
ISBN-10 3-633-77629-X / 363377629X
ISBN-13 978-3-633-77629-0 / 9783633776290
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