Die Zunge (eBook)

Ein Portrait

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-29771-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Zunge - Florian Werner
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'Wir haben alle eine - merken es aber erst, wenn wir uns am liebsten draufbeißen würden.' (Mithu Sanyal) Florian Werner ergründet in seinem Portrait 'Die Zunge' bekannte und unbekannte Facetten dieses Körperteils.
Sprechen, Schmecken, Lecken, Küssen, Zeigen: Die menschliche Zunge ist der soziale Muskel schlechthin. Wer aber respektiert werden will, sollte sie im Zaum halten. Fast könnte man meinen, dass wir diesem Organ, das so zentral ist für unsere Weltbeziehung, misstrauen. Als wäre die Zunge ein Wesen mit eigenem Willen - unberechenbar wie die Schlange, die eine gespaltene Zunge hat.
'Die Zunge' beschreibt dieses Organ erstmals in seiner ganzen Komplexität: als Sprachinstrument und Geschmacksorgan, als erogene Zone und obszönes Zeichen, als Gegenstand von Literatur, Musik, Kunst, Film und Werbung. Florian Werner setzt diesem unterschätzten Körperteil endlich das Denkmal, das er verdient.

Florian Werner, 1971 geboren, ist promovierter Literaturwissenschaftler und Autor. Er schreibt erzählende Sachbücher und Prosa, lehrt an der Hochschule der Künste in Bern und arbeitet für den Hörfunk. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Bei Hanser Berlin erschien zuletzt 'Die Raststätte. Eine Liebeserklärung' (2021). Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

staunen


Have you a tongue in your head? he said.

Samuel Beckett, Molloy

Ein versehentlicher Biss auf die Spitze, ein Pulen an einer losen Plombe, ein gedankenverlorenes Herumspielen am Schneidezahn, ein zufriedenes Schnalzen am Gaumen: Ja, da ist sie noch! Die Zunge. Fast hätte man vergessen, dass es sie gibt.

Bedenkt man, welch eminent wichtige Rolle die Zunge in unserem Leben spielt, ist nachgerade unbegreiflich, wie wenig Aufmerksamkeit wir ihr normalerweise schenken — ja, wie stark sie sich unserer bewussten sinnlichen Wahrnehmung entzieht. Im Alltag spüren wir sie zumeist nur dann, wenn sie verletzt ist, beziehungsweise dort, wo sie an ihre Grenzen stößt: an die Zähne, die Lippen, die Backentaschen oder den Gaumen. Obwohl sie nur wenige Zentimeter von unserer Nasenspitze entfernt ist, können wir sie nicht riechen. Sie dient uns zwar als Geschmacksorgan, wir können mit ihrer Hilfe das Aroma unseres Daumens, unserer Achselhöhle oder, wenn wir gelenkig genug sind, auch unseres großen Zehs erkunden — aber wie sie selbst schmeckt, entzieht sich unserer Wahrnehmung. Und wenn wir sie ganz weit herausstrecken und über die Nase nach unten schielen, können wir allenfalls einen schemenhaft-verzerrten Blick auf ihre Spitze erhaschen.

Zugegeben, wir können unsere Zunge im Spiegel betrachten — aber auch dann sehen wir allenfalls einen Ausschnitt, die Oberseite, den Zungenrücken, eine schlüpfrige Bahn, die in unabsehbare Körpertiefen zu führen scheint — wo sie endet (oder besser: beginnt), sehen wir nicht. Lässt man den Blick zu lange auf seiner Zunge verweilen, könnte man sich im eigenen Leib verlieren. Der Rachen wird zum Abgrund, die Zunge zum Zeichen der Fremdheit.

Ähnliches gilt, ja, womöglich mehr noch, für die Organe unserer Mitmenschen: Wie sieht eigentlich die Zunge der Eltern, des Ehepartners, der Geliebten, des besten Freundes oder der eigenen Kinder aus? Die Form und Farbe der Augen wird den meisten Menschen bekannt sein, ebenso der Schwung der Nase, die Wölbung der Lippen und des Kinns, die Anordnung der Zähne, die Haarfarbe, bei intimen Bekannten außerdem besondere Kennzeichen wie Operationsnarben, Muttermale, Falten, Orangenhaut, Alterswarzen. Aber eine exakte Beschreibung der Zunge dürfte vielen schwerfallen. Ausgerechnet dieses so zentrale Sozialorgan, jener Körperteil, mit dem man spricht, sich streitet, wieder versöhnt und gegebenenfalls beim Zungenkuss vereinigt, bleibt seltsam abstrakt, anonym: eine verborgene Scharnierstelle im Schatten des Mundes.

»Have you a tongue in your head?« Es handelt sich bei dem eingangs zitierten Satz von Samuel Beckett um eine rhetorische Frage: Die Wendung bedeutet so viel wie Bist du stumm?, Hat es dir die Sprache verschlagen? oder Hast du deine Zunge verschluckt? Man könnte die Metapher aber auch beim Wort nehmen: Hast du eine Zunge im Kopf? In diesem Sinne spricht aus dem Satz eine enorme Unsicherheit, eine tiefgreifende Skepsis gegenüber diesem so rätselhaften wie faszinierenden Organ: Was verbirgt sich wirklich hinter unseren Lippen — und mehr noch hinter jenen unserer Mitmenschen?

Ab durch die Mitte


Das Offensichtlichste zuerst: Wir haben nur eine Zunge. Im Gegensatz zu den meisten anderen Organen und Extremitäten unseres bilateral aufgebauten Körpers (Augen, Ohren, Brüste, Ovarien beziehungsweise Hoden, Arme und Beine, Nieren, Lungenflügel) ist sie ein Unikat. Diese Eigenschaft teilt die Zunge mit anderen symbolträchtigen Organen wie dem Nabel, dem Penis, der Vulva, dem Anus — unterscheidet sich von diesen aber darin, dass sie den Körper jederzeit verlassen und wieder in ihn zurückkehren kann. Ein absolutes Alleinstellungsmerkmal: Die Zunge ist innen und außen, im und am Körper zugleich.

Da sie sich als Einzelkämpferin in einem spiegelsymmetrischen System befindet, liegt die Zunge (auch darin Nase, Nabel, Anus etc. gleich) exakt auf der Medianlinie des Körpers, jener Achse also, die unseren Leib in eine linke und rechte Hälfte teilt. Die Zunge hebt diese Trennung zwar auf, trägt deren Spuren aber noch deutlich sichtbar auf ihrem Rücken, sie zerfällt nämlich ihrerseits in zwei spiegelsymmetrische Hälften, in deren Mitte sich eine senkrechte Vertiefung, die sogenannte mittlere Zungenfurche, befindet. Schon kleine Kinder fügen, wenn sie ein freches Gesicht zeichnen, der herausgestreckten Zunge dieses anatomische Kennzeichen hinzu: ein waagerechter Querstrich, darunter ein Halbkreis, zum Schluss eine Linie, die diesen von oben nach unten durchschneidet — das ist die wohl gängigste ikonische Darstellung einer herausgestreckten Zunge.

Zoomt man etwas näher heran, ergibt sich ein weitaus komplexeres Bild. So zerfällt die Zunge nicht nur in eine linke und eine rechte Hälfte, sondern lässt sich auch der Länge nach in zwei Bereiche gliedern; auch diese sind von einer anatomischen Furche, dem sogenannten Sulcus terminalis, getrennt. Etwa ein Drittel der Zunge liegt hinter dieser Furche und wird, weil das Organ hier entspringt, als Zungenwurzel (Radix linguae) bezeichnet. Die anderen zwei Drittel — jener Teil, der auch von Nichtmedizinern gemeinhin als Zunge verstanden und umgangssprachlich so genannt wird — befinden sich vorne in der Mundhöhle. Es handelt sich hierbei um den Zungenkörper (Corpus linguae), der volumenmäßig den Löwenanteil des Organs ausmacht, sowie um den frei beweglichen und flexiblen Teil, wo die Seiten der Zunge mehr oder weniger pointiert zusammenlaufen. Auch bei Menschen, die sich nicht spitzzüngig auszudrücken pflegen, bezeichnet man diesen Bereich als Apex linguae, zu deutsch: als Zungenspitze.

Muskelprotz


»Meine Zunge ist ein Muskel«, pflegte der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf zu sagen und meinte damit seine leidenschaftliche Verachtung für allen kulinarischen Firlefanz. Tatsächlich handelt es sich bei der Zunge nicht bloß um einen Muskel, sondern um ein ganzes Muskelpaket, ein Gewebe von Binnenmuskeln, die sowohl in sagittaler als auch in transversaler sowie in vertikaler Richtung verlaufen. Vereinfacht gesagt: Vier Muskeln durchziehen die Zunge von hinten nach vorne, ein Muskel verläuft in Links-rechts-Richtung und ein weiterer von oben nach unten.

Dank dieser muskulären Dreidimensionalität ist die Zunge das beweglichste Organ des menschlichen Körpers (wenn auch nicht, wie bisweilen behauptet wird, das stärkste). Der Begründer der Gastrosophie, der französische Feinschmecker Jean Anthelme Brillat-Savarin, identifizierte bereits vor 200 Jahren drei verschiedene Bewegungen, zu denen ausschließlich die menschliche Zunge in der Lage sei, und die er als Spication, Rotation und Verrition (vom lateinischen Wort verrere, ›kehren, fegen‹) bezeichnete:

Bei der ersten Bewegung drängt sich die Zunge wie ein Aehrenkolben (spica) durch die geschlossenen Lippen; bei der zweiten bewegt sich die Zunge radförmig (rota) in dem Raume zwischen den Wangen und dem Gaumen, bei der dritten krümmt sich die Zunge nach oben und unten und kehrt die Theile zusammen, welche in dem halbkreisförmigen Canale zwischen den Lippen und dem Zahnfleische bleiben.

Eine Sehnenplatte überträgt die von dieser Binnenmuskulatur bewirkten Bewegungen auf die Schleimhaut des Zungenrückens — hier befinden sich, auch bei den größten Kostverächtern, die sogenannten Papillen: warzenförmige Ausstülpungen der Haut, die teilweise mit bloßem Auge erkennbar und für die sinnliche Wahrnehmung zuständig sind. Sie geben der Zungenoberfläche ihr typisches, zwischen Krötenhaut und nass gewordenem Schmirgelpapier changierendes Aussehen.

Ein weiterer Zoom vom Makro- ins Mikroskopische, vom Sichtbaren ins Unsichtbare: Die Papillen enthalten winzige Geschmacksknospen, die ihrerseits die eigentlichen Geschmackssinneszellen enthalten. Diese können insgesamt fünf (neueren Schätzungen zufolge sogar sechs oder sieben) verschiedene Qualitäten unterscheiden. Neben den allgemein...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte Frivol • Gespräch • Kommunikation • Körperteil • Kulturgeschichte • küsen • Lecken • Mund • Muskel • Mutterzunge • Organ • Piercing • Schmecken • Sinnesorgan • Sprache • Zeichen • Zunge • Zungenkuss
ISBN-10 3-446-29771-5 / 3446297715
ISBN-13 978-3-446-29771-5 / 9783446297715
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