Make Metal Small Again -  Jörg Scheller,  Jochen Neuffer

Make Metal Small Again (eBook)

20 Jahre Malmzeit
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
193 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043437-0 (ISBN)
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Metalbands stehen auf gewaltigen Bühnen, vor Verstärkertürmen und Tausenden wilder Fans. Sie trinken kübelweise Bier, rauschen in Tourbussen durch die Nacht und besingen Sex, Drogen und den Tod. Ihr größtes Ziel: Wacken. Alle Metalbands? Nein! Eine kleine Metalband tingelt seit zwei Jahrzehnten über Dorffeste, Vereinsfeiern, Hochzeiten, Vernissagen und durch Geburtstagspartys. Sie hat keine Verstärker, keine Plattenfirma. Sie liefert annähernd CO2-neutralen Metal wie Pizza auf Bestellung und hätte einmal beinahe Angela Merkel beschallt. Sie singt nur übers Wetter und spielt im Sitzen, gediegen gekleidet und teetrinkend. Sie richtet sich gleichermaßen an Bildungsbürger, Mutbürger, Spießbürger. Ihr Name: Malmzeit. Ihr Genre: Kammermetal. Ihr Motto: Make Metal Small Again! Tauchen Sie ein in die völlig irre Bandbiographie der kleinsten Metalband der Welt, verfasst von den Musikern selbst. Ein Buch voller bizarrer Ereignisse, das komplett erfunden sein könnte, wäre nicht jedes Wort wahr!

Jörg Scheller lehrt und forscht an der Zürcher Hochschule der Künste. Jochen Neuffer ist Softwareingenieur in der Automobilindustrie. Er ist in einer Vielzahl musikalischer Projekte aktiv, u.a. spielt er Gitarre in der Alternative-Band Cristo Crouch und mit FruitOfTheLoop widmet er sich der Klangforschung.

Jörg Scheller lehrt und forscht an der Zürcher Hochschule der Künste. Jochen Neuffer ist Softwareingenieur in der Automobilindustrie. Er ist in einer Vielzahl musikalischer Projekte aktiv, u.a. spielt er Gitarre in der Alternative-Band Cristo Crouch und mit FruitOfTheLoop widmet er sich der Klangforschung.

2003 Metal im Sitzen


Schon am Anfang kam alles ganz anders, als es hätte kommen sollen. Im Jahr 2003 wurde in Stuttgart überraschend ein Konzert der sagenumwobenen Postrock-Band Ma Cherie for Painting angekündigt, obwohl sie eigentlich keine Live-Auftritte mehr absolvierte. Entsprechend groß waren das Interesse und die Vorfreude im Club „Merlin“. Doch die Typen auf der Bühne waren … irgendwie anders. Die Musik war … irgendwie anders. Nein, das waren doch nicht Ma Cherie for Painting! Die Band hatte sich einen Spaß erlaubt und kurzerhand die Musiker ausgewechselt. Niko Lazarakopoulos, Joachim Henn und Christian Steckroth verbrachten das eigene Konzert vermutlich fußballschauend zuhause.

Unter den frei improvisierenden Musikern auf der Bühne befand sich ein gewisser Earl Grey. Der damals 24-Jährige simulierte in Stuttgart ein Kunstgeschichtsstudium und war hauptsächlich in Tonstudios, in Musikclubs, im Fitnesscenter „Move Factory“ und in einem Asia-Imbiss in Bad Cannstatt, von dem noch die Rede sein wird, anzutreffen. Mit Ma Cherie for Paintings Schlagzeuger Niko Lazarakopoulos und einem blauen Flusskrebs lebte er, inmitten der Stuttgarter Reichen und Verschönerten, in einer etwas heruntergekommenen WG am Killesberg. Eine blinde, über 90-jährige Dame namens Emma Hosenthien vermietete diese aus humanitären Gründen an Studenten. Mitglieder der im Kollektiv Motorcity Sonic organisierten Stuttgarter Indie-Szene gingen dort ein und aus, darunter Floyd und Gage von Navel, Ralv Milberg und Jyrgen Ueberschär von longjumpmin, die Steinbach Twins von The Go-Luckys! und viele mehr.

Im „Merlin“-Publikum wiederum stand ein gewisser Sumatra Bop. Ein paar Jahre zuvor war er nach Stuttgart gezogen und wurde in der dortigen Subkultur neben seinen hauptberuflichen Ingenieurspflichten als Musiker aktiv. Wie Earl Grey hatte er seine Kindheit in der schwäbischen Provinz verbracht, mithin in einer Gegend geprägt von Maschinenbau und industrialisierter Landwirtschaft. In diesem Umfeld war es naheliegend, Metal-Bands zu gründen, was Earl im zarten Alter von 13 Jahren als Sänger und Sumatra mit 14 Jahren als Gitarrist denn auch taten. Während Earl erst im Keller der örtlichen Apotheke, dann im Keller des Musikvereins der Pietisten-Hochburg Korntal probte, musizierte Sumatra 50 Kilometer weiter östlich unter dem schlecht gedämmten Dach des bei Göppingen gelegenen elterlichen Bauernhofes. Es war ein idealer Raum, um an Samstagnachmittagen das gesamte Dorf an den Fortschritten teilhaben zu lassen. An Feedback mangelte es folglich nicht. Jahre später, es muss so Mitte der Neunziger gewesen sein, entschied sich Sumatra aus einer Laune heraus, bei einem Musikalienhändler im nahe gelegenen Donzdorf ein gebrauchtes Saxofon zu kaufen. Damals ahnte er noch nicht, dass das ortsansässige Kleinunternehmen Nuclear Blast dereinst zu einem der bedeutendsten Metallabels der Welt werden würde. Auch konnte Sumatra beim Kauf des Saxofons noch nicht wissen, dass er einmal im Donzdorfer Schloss mit Malmzeit gastieren würde. Doch dazu später.

Die autodidaktischen Versuche auf dem Saxofon ließen sich mit reichlich gutem Willen als eine Spielart von Free-Jazz bezeichnen. Dafür bestand in der Provinz jedoch keine Nachfrage – zu wenig Metal. In der Metropole Stuttgart jedoch erfreuten sich Sumatras holzbläserische Kapriziositäten einer gewissen Nachfrage unter experimentierfreudigen Musikern. So war Sumatra denn zeitweise als Gastbläser bei besagten Ma Cherie for Painting engagiert. Selbstredend wollte er sich den raren Auftritt seiner Teilzeitkollegen nicht entgehen lassen und begab sich an jenem denkwürdigen Abend erwartungsvoll ins „Merlin“. Sumatra und Earl waren sich bereits zuvor begegnet, als sich ersterer in der damaligen Band des letzteren, dem Gehobenen-Mittelstands-Experimental-Rock-mit-stark-technoidem-Einschlag-Trio longjumpmin, ebenfalls als Teilzeit-Saxophonist betätigte.

Nach dem Sans-Cherie-Konzert kamen wir, Sumatra Bop und Earl Grey, erstmals persönlich in ein vertieftes Gespräch. Bei einem Glas Apfelschorle an der Bar entspann sich eine Konversation, die sich ums Zähneputzen drehte. Gründe für die Themenwahl dürften wohl ewig ein Rätsel bleiben. Der damals 32-jährige, lebenserfahrenere Sumatra sprach sinngemäß zu Earl:

„Wer die Bürste von oben nach unten und unten nach oben bewegt, schrubbt alles in die Zahnfleischtaschen. Mit kreisenden Bewegungen lässt sich das vermeiden.“

Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt zum Austausch intimster Details, darunter die genau hier, an der Bar des „Merlin“ entdeckte gemeinsame Metal-Vergangenheit.

Wir gestanden einander, ein wenig verschämt, nicht schon von Kindestagen an in verkopften Postrock-Formationen gespielt zu haben. Vielmehr waren wir Mitglieder eher kunstferner Heavy-Metal-Bands gewesen – Sumatra an der Gitarre, Earl an der Kehle. Sumatra hatte mit Bands wie Chamoix, Spunk und On Mouse Over zahlreiche Konzerte absolviert, unter anderem im Vorprogramm von The Notwist. Earl war schon als 14-Jähriger mit Pigster auf der Bühne gestanden, etwa in Filderstadt als Vorband von Araya. Und weil am Anfang des neuen Jahrtausends allgemein eine gewisse Nostalgie in der Luft lag, und weil Metal bekanntlich forever ist, und weil es überhaupt ein merkwürdiger Abend war, beschlossen wir, dass man es doch noch einmal versuchen könnte. Das mit dem Metal. Aber auf eher leichtmetallische Weise. Am 31. Mai fand die erste kalendarisch verbürgte Jamsession in Bad Cannstatt statt. Malmzeit war geboren!

Kein Drummer, da waren wir uns schnell einig. Drummer machen Ärger. Sie benötigen Kombifahrzeuge, sind materialintensiv, verbrauchen viel Energie, sind selten taktvoll und überhaupt, diese ganze verschwitzte Körperlichkeit – das passte nicht in die anbrechende digitale Ära, in der doch alles klein, smart, flexibel und easy werden sollte! Also musste ein Drumcomputer her. Wir erstanden ein preiswertes Gerät des Herstellers Zoom im Stuttgarter Musikwarenladen „Sound of Music“, den ein knorriger älterer Herr führte. Hans R. Schweizer hatte sämtliche Rockgrößen des Multiversums persönlich kennengelernt und war für sein unnachahmliches Jugendslangimitat bekannt, mit dem er die Vertreter der schwäbischen Subkulturen zu begrüßen pflegte: „Heyyyyyy, ihr seid immer kniffe [sic!] drauf!“ Die Masche funktionierte kniffe. Jahrelang erwarben wir unser Equipment in Schweizers Geschäft, das damals an der Ecke Wilhelmstraße-Olgastraße lag, darunter auch das bis 2022 verwendete Headset-Mikrophon mit dem charakteristischen kanistrig-mattdumpfen Klang.

Beim Bargespräch im „Merlin“ hatte sich herausgestellt, dass wir beide wenig Interesse daran hatten, über nackte Drachen, feuerspeiende Frauen oder unsterbliche Motorräder zu singen. Die wirkliche Härte im Leben, der absolute Horror, die wahre Allmacht, das einzige Nicht-zur-Gänze-Kontrollierbare, das letzte der Erhabenheit des Metal würdige, aber in ebendiesem noch nicht vollumfänglich erschlossene Thema – das, so waren wir nach dem Apfelschorle bei zwei Tässchen Früchtetee überein gekommen, ist allein das Wetter. Auch schien uns, dass die anderen beiden großen Themen, also Sex und Tod, im Metal bereits hinlänglich behandelt würden. So fassten wir einen Entschluss von monumetaller Tragweite: Das Wetter, einzig das Wetter, wollten wir fortan besingen. Malmzeit war damit – und ist es unseres Wissens weiterhin – das erste und einzige Heavy-Meteo-Duo der Welt. Wie wir aber auf den Namen „Malmzeit“ kamen, und ob dieser etwas mit dem Wetter zu tun hat, müssen andere herausfinden – wir wissen es nicht, haben es vergessen, haben es womöglich auch nie gewusst.

Sumatras damalige Lebensgefährtin fertigte ein Bandfoto an, das uns als ältliche Wettermoderatoren zeigte. Earl schlüpfte dafür in einen übergroßen, in der Schorndorfer Altkleiderhölle „Wühli“ aus dem Klamottenberg gegrabenen Anzug. Der berufstätige Sumatra verfügte bereits über edleres Garn. Die eilends angeworbene Webmasterin Miriam Mohr platzierte die beiden Meteometaller für eine minimalistisch designte Internetseite vor eine Wetterkarte in freundlichen Gelb-, Rot- und Orangetönen. Ein zweites Bandfoto (► Abb. 1) präsentiert uns vor einem überdimensionierten Wetterhäuschen, das im weiteren Verlauf dieser Erzählung noch eine Rolle spielen wird.

Abb. 1: Foto aus der Frühphase: Malmzeit vor Wetterhäuschen (nicht maßstabsgerecht).

Nachdem wir lange die Unterschiede zwischen Wetter und Klima debattiert hatten und übereingekommen waren, dass Klima so etwas wie Wetter in „November-Rain“-Länge sei, nahm die unheilvolle Allianz von Metal und Meteorologie ihren Lauf und die apokalyptische Klimadebatte der 2020er-Jahre vorweg. Denn selbstverständlich handelten unsere Songtexte von schlechtem, ja desaströsem Wetter und seinen Folgen: von Tornados, Kälteeinbrüchen, Erdrutschen, Sturmfluten. Frühe Textzeilen lauteten etwa:

Lightning, prayer, Luther dead
Vultures circling ’round his head.

Oder:

In Janesville stands a mansion bright
With Uwe Wesp inside
He’s snoring with the taifun’s breath
Calm’s the center of man’s death.

Zum Ausgleich, und weil uns die Jahreszeiten überbewertet vorkamen, verfassten wir einen Song über unsere mit übers gesamte Jahr gleichbleibenden meteorologischen Verhältnisse gesegnete Lieblingsinsel Kiribati, die wir später mehrfach...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2023
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Charalampos Efthymiou, Peter Kritzinger, Peter Pichler
Vorwort Gunnar Sauermann, Claus-Peter Clostermeyer, Mithu M. Sanyal
Zusatzinfo 41 Abb.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte 21. Jahrhundert • Band • Bandbiografie • Biografie • Konzert • Metaler • Metaller • Metalszene • Musik • Musiker • Musikgeschichte • Musikgruppe • soziokulturelle Kontexte
ISBN-10 3-17-043437-3 / 3170434373
ISBN-13 978-3-17-043437-0 / 9783170434370
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