Gelassenheit (eBook)
300 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-119721-0 (ISBN)
Kohelet gehört zu den großen Denkern aus dem antiken Juda. Seine Weisheitsschrift ist eine Herausforderung, denn das Nebeneinander der Einsicht in die Flüchtigkeit der Wirklichkeit und des Aufrufs zur Lebensfreude führt zu einer Spannung, die sich nicht einfach auflösen lässt.
In einer vollständigen Auslegung des Koheletbuches wird dieser Spannung nachgegangen und dabei das anthropologische und theologische Profil des Koheletbuches erschlossen. Die Auseinandersetzung mit Kohelets Denken zeigt sein zentrales Anliegen, angesichts der alles bestimmenden Flüchtigkeit dem Menschen einen Weg zur Annahme der von Gott geschenkten Lebenszeit zu weisen und die Mühen des Lebens mit Gelassenheit anzunehmen.
Das Koheletbuch gibt einem weisheitlichen Denken Raum, das die Möglichkeiten des Menschen erkennt, aber in gleicher Weise um seine Grenzen weiß. Dieses Wissen führt Kohelet nicht zur Verzweiflung oder in Krisen, sondern bildet die Grundlage dafür, das Leben mit Freude als eine Gabe Gottes annehmen zu können.
Die damit rekonstruierte Denkfigur hat nicht nur für die anthropologischen und theologischen Linien innerhalb der Hebräischen Bibel hohe Relevanz, sondern kann auch theologischen Diskursen der Gegenwart weiterführende Impulse geben.
Markus Saur, Altes Testament mit Schwerpunkt Exegese und Theologie des Alten Testaments, Universität Bonn
1 Annäherungen an das Koheletbuch
Das Buch Kohelet macht es seinen Leserinnen und Lesern nicht leicht. Wie alle nicht ganz leichten Texte zieht es jedoch seit der Antike eine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Schon im antiken Judentum war das Buch umstritten. Es zählt mit dem Hohenlied zu den Texten, die nicht überall überliefert und gelesen wurden.
Die Probleme des Buches beginnen bereits auf der Ebene seines Aufbaus: Ein strukturierter Gedankengang oder eine klare Gliederung erschließen sich bei der Lektüre nicht unmittelbar. Bei genauerem Lesen lassen sich aber Markierungen innerhalb des Textes erkennen, die dabei helfen, die eher aphoristischen und assoziativen Gedankengänge Kohelets nachzuvollziehen und eine gewisse Textstruktur zur erschließen, ohne dass sich eine geschlossene Gliederung ermitteln ließe. Jede Lektüre des Koheletbuches bleibt aufgrund der gezielt gestalteten Offenheit des Textes auf der Mikro- und der Makroebene aber notwendigerweise nur ein Versuch des Verstehens. Dass sich der Prozess des Verstehens von Literatur immer innerhalb des spannungsvollen Dreiecks zwischen Autorin bzw. Autor, Text und Leserin bzw. Leser vollzieht und dass dieses Dreieck nicht immer gleichseitig erscheint, ist eine allgemeine Einsicht der Literaturwissenschaft. Man muss sich diese Einsicht im Blick auf das Koheletbuch sehr deutlich vor Augen halten, denn es ist auffällig, wie gezielt der oder die Verfasser des Buches ihre Leserschaft in den Prozess des Verstehens mit einbeziehen. Ein Text ohne Leserinnen bzw. Leser existiert insofern nicht, als jeder Text daraufhin angelegt ist, rezipiert zu werden, und seine Funktion dann nicht erfüllt, wenn er nicht gelesen und rezipiert wird. Im Koheletbuch ist diese Einsicht bis in die Details verdichtet. In fast allen Texten sieht sich der Leser und die Leserin mit Mehrdeutigkeiten und Unschärfen konfrontiert, die man in der Rezeptionsgeschichte des Buches hier und da als Unzulänglichkeiten des Verfassers bzw. der Tradentenkreise zu deuten versucht hat. Nimmt man von diesem Urteil Abstand und gesteht dem Verfasser des Buches ein gewisses Maß an literarischer Gestaltungsfähigkeit zu, was aufgrund der Sprache und Poetik des Textes sachgemäß sein dürfte, so stellt man fest, dass die Mehrdeutigkeiten und Unschärfen des Textes auf den Leser bzw. die Leserin und seine bzw. ihre Fähigkeiten zulaufen: Wenn ein Text ohne Leserin oder Leser eigentlich nicht existiert, dann gilt umgekehrt, dass ein Text dann lebendig wird, wenn er produktiv gelesen wird, wenn sich also seine Leserinnen und Leser in den Text einbringen und an seiner Deutung beteiligen. Das Maß an Offenheit eines Textes bestimmt dabei das Maß an produktiver Beteiligung der Leserin und des Lesers am Text. Manche Texte streben ein hohes Maß an Eindeutigkeit an, das Leserinnen und Lesern wenig Deutungsspielraum lässt. Eher offen gestaltete Texte beziehen Leserinnen und Leser gezielt in die Sinnkonstitution mit ein und gehen davon aus, dass sich Sinndimensionen eines Textes erst und vor allem bei seiner Lektüre erschließen. Im ersten Fall liegt der hermeneutische Schwerpunkt eindeutig beim Text und seinem Verfasser, der einen möglichst engen Deutungsrahmen absteckt, im zweiten Fall liegt der hermeneutische Schwerpunkt bei den Leserinnen und Lesern, denen ein weiter Deutungsrahmen eröffnet wird.
Das Koheletbuch gehört zu den letztgenannten Texten. Daher kann es die Interpretation des Koheletbuches nicht geben. Es sind vielmehr sehr verschiedene Wege, die in das Buch hineinführen und auf denen man sich innerhalb des Buches bewegen kann. Nicht jeder Weg führt dabei in das Zentrum, wobei auch nicht jedes Buch zwingend einen Mittelpunkt hat. Möglicherweise führen die Wege des Koheletbuches seine Leserinnen und Leser häufig an den Rändern entlang, so dass der Prozess der Sinnkonstitution gewissermaßen von außen um den Text und seine Anliegen herum verläuft. Nichts Anderes wird in dem Begriff der ‚Definition‘ zum Ausdruck gebracht: Von den Grenzen her wird ein Gebiet abgesteckt, innerhalb dessen ein bestimmter Begriff sinnvoll verwendet oder auch eine bestimmte Sache sinnvoll verhandelt werden kann. Ähnliches gilt für Interpretationen des Koheletbuches: Von den Rändern her werden Deutungsräume abgesteckt, die dabei helfen, Interpretation und Überinterpretation voneinander zu unterscheiden9 und damit Leseräume des Koheletbuches zu eröffnen. Um mehr als das Erschließen solcher Räume kann es im Folgenden nicht gehen.
Im Blick auf die Bilder vom Menschen tritt in das hermeneutische Dreieck von Verfasserin bzw. Verfasser, Text und Leserin bzw. Leser als weiterer Faktor der Umstand hinzu, dass der Ausleger bzw. die Auslegerin, wenn er oder sie nach dem Menschenbild eines Textes fragt, ja gewissermaßen auch sich selbst zum Thema macht und zumindest bei jeder anthropologischen Aussage des Textes in einen Deutungsprozess eintritt, innerhalb dessen sein oder ihr Menschsein in seiner konkreten Vorfindlichkeit mit dem im Text Dargestellten in Beziehung tritt und dessen Deutung bestimmt. Die Deutungsoffenheit des Koheletbuches und seine gezielte Einbindung der Leserinnen und Leser in die Sinnkonstitution potenzieren das bereits skizzierte hermeneutische Problem, das dann entsteht, wenn der Hermeneut oder die Hermeneutin als Auslegende ihrer selbst auftreten. Da das Koheletbuch zur alttestamentlichen Weisheitsliteratur mit ihrem weitreichenden Bildungsanspruch gehört, ist der Selbstdeutungsprozess, der bei der anthropologischen Erschließung des Koheletbuches in Gang kommt, aber keineswegs als ein Problem zu begreifen. Denn es geht im Koheletbuch ja nicht darum, ein geschlossenes Menschenbild zu entwerfen, sondern Leserinnen und Leser zu einem sachgemäßen Verständnis ihrer selbst zu bringen und damit in einem umfassenden Sinn zu bilden. Bevor diese Linien wieder aufgegriffen werden, folgt hier zunächst eine literatur- und kulturgeschichtliche Einordnung der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, um vor diesem Hintergrund dann das Koheletbuch aus seinen Kontexten heraus lesen und verstehen zu können.10
1.1 Horizonte alttestamentlicher Weisheitsliteratur
Das Koheletbuch gehört zur Weisheitsliteratur der Hebräischen Bibel. Neben dem Koheletbuch sind auch das Hiob- und das Proverbienbuch sowie einige Psalmen der Weisheitsliteratur zuzuordnen. Einflüsse weisheitlichen Denkens lassen sich darüber hinaus in fast allen Textbereichen der Hebräischen Bibel erkennen. Was kennzeichnet die Weisheitsliteratur und worin liegen ihre theologischen Besonderheiten?
Gerhard von Rad eröffnet sein grundlegendes Werk zur alttestamentlichen Weisheit aus dem Jahr 1970 mit folgenden Worten: „Kein Mensch würde auch nur einen Tag leben können, ohne empfindlichen Schaden zu nehmen, wenn er sich nicht von einem ausgebreiteten Erfahrungswissen steuern lassen könnte.“11 Man könnte verkürzt sagen, dass Weisheit genau dieses aus der Erfahrung gewonnene Wissen ist, mit dessen Hilfe es dem Menschen gelingt, das Leben zu bewältigen und seinen Anforderungen gerecht zu werden. Wie sehr Kohelet sein Denken auf Erfahrung gründet,12 wird noch genauer herauszustellen sein, es sei aber schon an dieser Stelle darauf verwiesen, dass zwischen den großen Weisheitsschriften im Blick auf die grundsätzliche Bedeutung der Erfahrung kaum Unterschiede bestehen. Differenziert werden muss allerdings der jeweilige Umgang mit der Erfahrung im Horizont des Weisheitsdenkens, denn Erfahrung kann auf der einen Seite, etwa im Proverbienbuch, zu Orientierungswissen werden, auf der anderen Seite, so im Hiobbuch oder bei Kohelet, zu der Einsicht führen, dass ein orientierendes Wissen für den Menschen nicht erreichbar ist – beide Positionen haben ihren Ort im weisheitlichen Denken.
Klassische Formen der Weisheit finden sich in den Sammlungen des Proverbienbuches. Die hier dokumentierten Sprüche und Sentenzen zielen auf orientierendes Alltagswissen ab und erschließen die weiten Bezugsräume weisheitlichen Denkens. Im Weisheitsspruch wird Erfahrung auf eine literarische Kurzform gebracht, die in ihrer Prägnanz lehr- und lernbar ist. Das Bildungsethos der Weisheit wird in diesen Sprüchen in seinen pädagogischen und didaktischen Dimensionen greifbar: Es geht diesem Weisheitsdenken darum, den Menschen mit einem praktischen Wissen auszurüsten, das ihn zu einem gelingenden Leben befähigt. Das Proverbienbuch kann man daher als ein Lehrbuch des antiken Israels und Judas lesen,13 das allerdings in seiner Einleitung in Prov 1 – 9 und in seinen Schlusskapiteln in Prov 30 f. zu erkennen gibt, dass die Verfasserkreise und Trägergruppen durchaus auch die Grenzen und Bedrohungen solchen Wissens reflektieren.14 Dennoch ist das Proverbienbuch getragen von einem anthropologischen Ansatz, der von der Bildungsfähigkeit des Menschen ausgeht und damit rechnet, dass menschliche Erfahrungen, wenn sie weitergegeben werden, einen Gewinn an Erkenntnis und die Fähigkeit zur Bewältigung des Lebens mit sich bringen. So geht es bei der praktischen Alltagsweisheit des Proverbienbuches nicht zuerst um den Gottlosen und den Frevler in sehr allgemeiner Weise, sondern vor allem um Fleiß und Faulheit, um Verstand und Unverstand, um sittliches Handeln und unmoralisches Verhalten, um sozialen, menschlichen Einsatz und unsoziales, rücksichtsloses Agieren, wie die folgenden Beispiele zeigen:
Wer mit träger Hand arbeitet, wird arm,
die Hand der Fleißigen aber macht reich.
...Erscheint lt. Verlag | 18.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Christentum |
Schlagworte | Anthropologie • Anthropology • Kohelet • Theologie • Theology • Weisheitsliteratur • Wisdom Literature |
ISBN-10 | 3-11-119721-2 / 3111197212 |
ISBN-13 | 978-3-11-119721-0 / 9783111197210 |
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