Schleiermacher und das Neue Testament (eBook)

Expeditionen in die Welt seiner exegetischen Vorlesungen
eBook Download: EPUB
2023
166 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-074615-0 (ISBN)

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Schleiermacher und das Neue Testament -
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André Munzinger, Enno Edzard Popkes, Dirk Schmid und Ralph Brucker, Christian-Albrechts Universität Kiel.

Schleiermacher als Exeget des Neuen Testaments


Skizze eines Forschungsdesiderats

Enno Edzard Popkes

An der Spitze einer Theologie der neuesten Zeit gehört und wird für alle Zeiten gehören der Name Schleiermacher und keiner neben ihm.1

Diese berühmten Worte stammen von niemand anderem als von Karl Barth, also von einem der größten Kritiker Schleiermachers, der jedoch bis zum Ende seines Lebens mit der Frage rang, ob er seinen Antipoden angemessen verstanden hat2. Seit Karl Barth diese These formuliert hat, sind gut siebzig Jahre vergangen. In dieser Zeit wurden viele weitere Einschätzungen formuliert, die Schleiermacher in einer ähnlichen Weise würdigen. Die Wirkung Schleiermachers ist jedoch keineswegs auf den Bereich von Theologie und Kirche begrenzt. Noch heute werden seine Werke gewürdigt in so konträren Gebieten wie der Pädagogik, der Soziologie oder der Platon-Forschung. Ebenso wird er oftmals als einer der Gründerväter einer philosophischen Hermeneutik verstanden. Angesichts dessen muss ein Sachverhalt kritisch hervorgehoben werden. Nur selten wird ein Aspekt zur Geltung gebracht, der rein formal betrachtet unstrittig ist: Schleiermacher kann auch als Neutestamentler bezeichnet werden. Dies ergibt sich bereits aus der Beschreibung der Aufgaben seiner Professur an der neu gegründeten Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Stellen-beschreibung war nämlich die folgende:

Seminiarii theologici exercitationes exegeticas moderabuntur de Wette et Schleiermacher, veteris ille, hic novi testamenti libros sodalibus explicandos proponens; historicis, hoc est, ad historiam ecclesiae et dogmatum christianorum pertinentibus praeerit Marheinecke.3

Dieser Beschreibung entspricht es, dass ein Großteil der von Schleiermacher während seiner Berliner Zeit angebotenen Lehrveranstaltungen neutestamentlichen Themenfeldern gewidmet waren. Angesichts dessen lässt sich in Bezug auf die historischen Aufarbeitungen der Werke Schleiermachers ein eigentümlicher Sachverhalt diagnostizieren, der bereits vor über 20 Jahren von Hermann Fischer präzise benannt wurde:

Gemessen am heutigen theologischen Disziplinenkanon ist Schleiermacher schwerpunktmäßig Neutestamentler. Auch die gegenwärtig noch verfügbaren Nachlaßmaterialien beziehen sich der Hauptmasse nach auf diesen Bereich. Dennoch wird Schleiermachers Wirkung als Neutestamentler, die zudem mehr auf die publizierten Fachbeiträge […] als auf die Vorlesungen zurückgeht, von derjenigen in anderen theologischen (und philosophischen) Disziplinen weit übertroffen.4

Diese Diagnose impliziert wiederum eine Aufgabenstellung, die im Kontext der Schleiermacherforschung aufgearbeitet werden sollte: Ohne eine Aufarbeitung und Edition der exegetischen Vorlesungsmaterialien Schleiermachers bleibt ein wesentlicher Aspekt der wissenschaftlichen Tätigkeit dieses großen Theologen im Dunkeln. Dies gilt aber keineswegs nur für die Schleiermacher-Forschung im Speziellen, sondern im weiteren Sinne auch für die neutestamentliche Forschung. Historisch-kritische Exegese biblischer Texte ist heute ein integraler Bestandteil wissenschaftlicher Theologie. Dabei gilt es sich jedoch stets aufs Neue zu vergegenwärtigen, dass es ,die historisch-kritische Methode‘ nicht gibt. Es handelt sich vielmehr um eine methodologische Grundorientierung, die es kontinuierlich zu reflektieren und auszugestalten gilt. Historisch-kritische Exegese basiert auf einem facettenreichen Spektrum von Arbeitsschritten, die in unterschiedlichen theologiegeschichtlichen Kontexten entstanden sind, die sukzessive aufeinander aufgebaut wurden und die einander präzisieren und korrigieren. Eine Selbstreflexion der eigenen Wissenschaftshistorie sollte somit eine kontinuierliche Aufgabe historisch-kritischer Exegese sein. In vielen Lehrbüchern zur exegetischen Methodologie lassen sich diese Selbstreflexionen jedoch nicht beobachten. Was dies wiederum für die schriftlichen Nachlässe der exegetischen Veranstaltungen Schleiermachers bedeutet, wurde ebenfalls bereits vor ca. 20 Jahren von Kurt Nowak präzise benannt:

In der Wissenschaftsgeschichte des Neuen Testaments gilt Schleiermacher als Randfigur. […] [S]eine Bedeutung für die Wissenschaft vom Neuen Testament muß erst noch genauer bestimmt werden.5

Mit anderen Worten: Vor mehr als 20 Jahren wurden zwei präzise Defizite der Forschung benannt – und die Aufarbeitung dieser Defizite hat bis heute nicht stattgefunden6. Die beschriebenen Defizite können aber nur aufgearbeitet werden, wenn alle schriftlichen Nachlässe zu den exegetischen Veranstaltungen Schleiermachers ediert werden. Nur auf diese Weise kann angemessen herausgearbeitet werden, inwieweit derzeitige Einschätzungen der exegetischen Beiträge Schleiermachers zu bewerten sind. Oder um es mit anderen Worten zu sagen: Derzeit kursieren lediglich einzelne Stellungnahmen zu den exegetischen Leistungen Schleiermachers. Inwieweit dieselben berechtigt sind bzw. inwieweit dieselben präzisiert oder korrigiert werden müssen, kann nur auf der Grundlage einer breiten Textedition erörtet werden.

Diesen Sachverhalt möchte ich an zwei signifikanten Beispielen erläutern, nämlich an den Beiträgen Schleiermachers zur sogenannten Leben-Jesu-Forschung und zur Hermeneutik. Diese beiden Beispiele sind wie zwei Pole, zwischen denen sich die Spannungen und Herausforderungen weiterer Studien zu den exegetischen Diskursbeiträgen Schleiermachers aufbauen. Und sie veranschaulichen eindrücklich, warum sich die Schleiermacherforschung meines Erachtens diesen Forschungsfeldern zuwenden sollte. Zunächst sollen die Beiträge Schleiermachers zur sogenannten Leben-Jesu-Forschung betrachtet werden. Laut den entsprechenden Vorlesungsverzeichnissen hat Schleiermacher vier Mal eine Vorlesung zum Themenfeld „Das Leben Jesu“ gehalten, erstmals im Jahre 1819/20, letztmalig 1832. Diese Veranstaltungen sollen eine immer größere Zahl von interessierten Personen angezogen haben. Gleichwohl hat Schleiermacher zu Lebzeiten keine entsprechende Veröffentlichung ediert. Erst dreißig Jahre nach dem Tod Schleiermachers, also im Jahr 1864, wurde eine entsprechende Schrift ediert, aber nur auf der Grundlage einer einzigen Mitschrift eines Studenten. Und diese Schrift erfuhr seitens historisch-kritischer Exegeten einen geradezu vernichtenden Verriß. Im Folgenden sei eine entsprechende Diagnose eines Autoren benannt, der wohl zu den außergewöhnlichsten Gestalten der Geschichte der neutestamentlichen Exegese gehört, nämlich die Diagnose von Albert Schweitzer. In seiner brillant geschriebenen „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ beurteilt Albert Schweitzer die exegetischen Leistungen Schleiermachers mit folgenden Worten

Es ist keine historische, sondern eine dialektische Leistung. Nirgends wird so klar, daß der große Dialektiker eigentlich ein unhistorischer Kopf war, wie gerade in seiner Behandlung der Geschichte Jesu. […] Es waltete von Anfang an kein guter Stern über seinem Unternehmen. Zwar war er der erste Theologe, der 1819 über diesen Gegenstand überhaupt las. Sein Leben-Jesu erschien aber erst 1864. Man hatte die Veröffentlichung so lange herausgeschoben, einmal, weil man es nur aus Kollegnachschriften rekonstruieren konnte, sodann, weil es alsbald, nachdem Schleiermacher es 1832 zum letzenmal gelesen hatte, durch Strauß aufs tote Geleise geschoben war. Für die Fragen, welche das Leben-Jesu von 1835 stellte, hatte Schleiermacher keine Antwort, und für die Wunden, die es schlug, keine Heilung. Als man das seine 1864 wie eine einbalsamierte Leiche ausstellte, hielt Strauß dem toten Werke des großen Theologen eine würdige und ergreifende Grabrede.7

Neben dieser massiven Kritik weiß Albert Schweitzer aber auch zu benennen, welches Anliegen Schleiermacher eigentlich zu verfolgen scheint, nämlich:

Schleiermacher sucht nicht den Jesus der Geschichte, sondern den Jesus-Christus seiner Glaubenslehre, d. h. die historische Persönlichkeit, die zu dem von ihm aufgestellten Selbstbewusstsein des Erlösers paßt.8

Als ein Meister der Sprache kann Schweitzer auch erläutern, warum das Werk Schleiermachers seine Leserinnen und Leser dennoch in den Bann ziehen kann:

Schleiermacher liebt es, seine Hörer das Gruseln zu lehren und ihnen zu zeigen, wie der geringste Fehltritt den Sturz in den einen dieser beiden Abgründe zur Folge hat, oder haben könnte, wenn man nicht durch seine unfehlbare Dialektik geleitet würde. Die historischen Fragen des Lebens Jesu kommen eine nach der anderen in Sicht; aber keine wird so gestellt oder so gelöst, wie es der Historiker tun müßte, sondern sie sind eben nur Momente in der Dialektik.9

Das sprachliche und hermeneutische Vorgehen Schleiermachers fasst Albert Schweitzer wiederum in ein Bild, dessen Prägnanz kaum zu überbieten ist:

Man sieht eine Spinne. Sie läßt sich von oben herunter; nachdem sie ihren Faden unten befestigt, läuft sie bis zur Mitte zurück und webt dort ihr Netz. Man schaut zu, und ehe man sichs versieht, ist man darin gefangen. Es ist schwer, auch bei dem Bewußtsein...

Erscheint lt. Verlag 18.9.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte Exegese • Exegesis • Friedrich • Neues Testament • New Testament • Schleiermacher • Schleiermacher, Friedrich
ISBN-10 3-11-074615-8 / 3110746158
ISBN-13 978-3-11-074615-0 / 9783110746150
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