Dem inneren Drachen mit Achtsamkeit begegnen (eBook)
237 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-621-28969-6 (ISBN)
4 Was gibt dem Zwangsdrachen Nahrung?
Warum hat der Zwang eine so starke Macht über viele Menschen? Zumal die Betroffenen mit Abstand betrachtet wissen, dass seine Forderungen unbegründet oder zumindest übertrieben sind? Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit besonderen Eigenheiten des Zwangs, die ihn im Alltag stärken.
4.1 Der Zwang als Aufmerksamkeitsräuber
Das Filtern von Reizen. Im Alltag prasselt eine Vielzahl von Reizen auf uns ein. Dabei ist es gut, dass wir eine Auswahl treffen für diejenigen Dinge, die unser Überleben sichern und unseren Bedürfnissen dienen. So wäre es natürlich fatal, wenn wir uns beim Autofahren nicht auf den Straßenverkehr, sondern auf die Kaugummipackung unseres Beifahrers konzentrieren würden, die unter die Rückbank gefallen ist.
Der Zwang schaltet diesen Mechanismus außer Kraft: Er flüstert uns ein, dass wir uns selbst oder andere Menschen in Gefahr bringen, wenn wir nicht ständig »seine« Themen im Auge behalten. Damit »kidnappt« er unsere Aufmerksamkeit für seine Zwecke.
Beispiel
Beispiel
Ferdinand etwa musste den Boden beim Spazierengehen ständig nach roten Flecken abscannen, da er fürchtete, sich durch Blut mit gefährlichen Krankheiten zu infizieren.
Klara fühlte sich dazu angetrieben, nach offenen Kellerfenstern oder großen Mülleimern Ausschau zu halten, wenn sie unterwegs war: Ihr Zwang redete ihr ein, dass an diesen Orten möglicherweise ein Kind eingesperrt wäre, das sie verantwortungslos übersehen könnte.
Eva konzentrierte sich beim Verlassen des Hauses panisch auf Herd und Wasserkocher, auch wenn die Versorgung der Familie am Morgen bereits viel Energie von ihr forderte.
Nicht selten bleiben tatsächlich wichtige Dinge auf der Strecke, wenn die Aufmerksamkeit vom Zwang gesteuert wird.
Beispiel
Beispiel
Ella litt unter dem Zwangsgedanken, dass ihr obszöne Worte über die Lippen kommen könnten, wenn sie mit anderen Menschen im Gespräch war. Auch wenn dergleichen nie passiert war, musste sie nach der Logik des Zwangs peinlich genau auf jedes ihrer Worte achten und bekam manchmal gar nicht richtig mit, was ihr Gegenüber ihr mitteilen wollte.
Die Brille des Zwangs. Fatalerweise richten wir unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf Dinge, weil sie der Zwang für richtig hält, sondern wir halten auch Dinge umgekehrt für wichtig, weil wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken: Je mehr wir uns mit bestimmten Themen oder Gegenständen beschäftigen, desto mehr Raum nehmen sie in unserem Kopf ein, und desto mehr Bedeutung geben wir ihnen. Dadurch wird unser Blick auf die Welt zunehmend eingefärbt. Vielleicht haben wir, ohne es zu merken, die Brille des Zwangs aufgesetzt.
Beispiel
Beispiel
So reagierte Klara gereizt, wenn ihr Partner sie bei Spaziergängen in ein Gespräch zu verwickeln versuchte. Sie musste doch ihre Kellerfenster im Auge behalten, um nichts Wichtiges zu übersehen! Die Fenster wurden zu wichtigen Markierungspunkten auf ihren Gehstrecken. Fast fühlte es sich an, als gäben sie ihrem suchenden Auge Halt und Orientierung. Anschließend fiel ihr jedoch regelmäßig auf, dass sie sich durch den einseitigen Aufmerksamkeitsfokus »wie in Trance« gefühlt hatte, als sie die Straße entlanggegangen war.
In dem bekannten »The Invisible Gorilla«-Experiment, das auch als Video im Internet frei zugänglich ist, zeigen Daniel Simons und Christopher Chabris auf sehr anschauliche Weise, wie wir durch Fokussierung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Details andere Informationen völlig übersehen können: So nehmen etwa die Hälfte der Zuschauer durch Konzentration auf die Ballwechsel der weiß gekleideten Spieler den Gorilla nicht wahr, der quer durch das Bild läuft. Eine derartige Einengung der Aufmerksamkeit kann zwar sinnvoll sein, wenn wir uns gezielt mit nur einer bestimmten Sache auseinandersetzen möchten. Dagegen ist sie sehr lästig, wenn sie durch den Zwang »diktiert« wird. So kann uns der Zwang wertvolle Aspekte der Erfahrung vorenthalten.
Wir werden noch sehen, wie die Kraft der Achtsamkeit diese einseitige Aufmerksamkeitslenkung verwandeln und auflösen kann.
4.2 Der Zwang als Zerrspiegel eigener Werte
Häufig hat der Zwang eine weitere »Gemeinheit« parat. Er besetzt bedeutungsvolle Lebensbereiche und flüstert uns genau diejenigen Dinge ein, die den eigenen Werten zuwider sind:
Beispiel
Beispiel
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So stellt sich der Vater, der seine neugeborene Tochter über alles liebt, vor, er müsse sie mit einem Kissen ersticken.
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Eine Studentin, die zum ersten Mal sehr verliebt ist, entwickelt den Gedanken, ihren neuen Freund vergiften zu müssen.
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Ein Kinderarzt, der seinen Beruf aus Sympathie für Kinder und dem Wunsch, ihnen zu helfen, gewählt hat, grübelt plötzlich darüber nach, ob er pädophil veranlagt sein könnte.
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Und eine gläubige Kirchgängerin fühlt sich von Befürchtungen verfolgt, gotteslästerliche Dinge zu denken.
Auf den ersten Blick erscheint es widersprüchlich, dass uns genau diejenigen Dinge immer wieder durch den Kopf gehen, die wir am wenigsten tun würden. Tatsächlich sind Menschen mit Zwängen in aller Regel sehr verantwortungsvolle, zuverlässige Zeitgenossen: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Befürchtungen umsetzen, ist nicht größer als bei anderen Menschen ohne Zwänge.
Schaut man sich das Wesen von Gedanken einmal an, wird jedoch leicht klar, warum sich Zwänge hartnäckig diejenigen Inhalte aussuchen, die uns am meisten beunruhigen:
Gedanken verhalten sich nicht wie scheue Vögel, die man durch ein scharfes Geräusch oder eine energische Geste verjagt. Vielmehr tauchen sie umso penetranter auf, je mehr wir sie vertreiben wollen.
Wichtig
Wichtig
Aufdringliche Gedanken in einem bestimmten Bereich bedeuten nicht, dass die Gefahr erhöht ist, hier zu versagen. Sie bedeuten nur, dass uns dieser Bereich besonders wichtig ist.
Ein Mensch, der mit dem christlichen Glauben nichts am Hut hat, wird achselzuckend oder belustigt auf einen wenig ehrfürchtigen Gedanken an Gott reagieren, während eine gläubige Person erschrecken und mit allen Mitteln versuchen wird, den Gedanken aus dem Kopf zu vertreiben. Wahrscheinlich können Sie sich gut vorstellen, dass der Gedanke bei der ersten Person schnell durch irgendein anderes Thema aus dem Gedankenstrom abgelöst wird. Die zweite Person, die den Kampf aufgenommen hat, wird den Gedanken jedoch möglicherweise nicht mehr so schnell los.
4.3 Der Zwang als Selbstsaboteur
Zwänge schleichen sich häufig in unser Leben ein, wenn wir durch etwas verunsichert sind, neue Herausforderungen bewältigen müssen oder...
Erscheint lt. Verlag | 11.5.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
ISBN-10 | 3-621-28969-0 / 3621289690 |
ISBN-13 | 978-3-621-28969-6 / 9783621289696 |
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