Nietzsche, die Medien und die Künste im Zeitalter der Digitalisierung (eBook)
271 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-107330-9 (ISBN)
Ausgehend von Nietzsches Medienkritik an der zeitgenössischen Massenpresse, ihrer Mitverantwortung für die Vermittelmäßigkeit moderner Kultur, Meinungsmanipulation und Informationsüberflutung, die auch die Künste und Wissenschaften verändert, werden Fragen gestellt, inwieweit und ob Nietzsches Beobachtungen und Schlussfolgerungen für den Umgang mit modernen Massenmedien und digitaler Kommunikation produktiv gemacht werden können. Greifen seine Auffassungen auch, wenn es um Internet, social media, Virtual Reality oder KI geht? Gibt es Schnittstellen zwischen moderner Medien-, Kunst- und Theorieentwicklung und Nietzsches Beobachtungen am Ende des 19. Jahrhunderts?
Die Beiträge thematisieren u.a. den Zusammenhang von Digitalität und Medien, Fragen nach der Wahrheit unter massenmedialen Vorzeichen, mögliche Folgen einer ebenso erhofften wie gefürchteten 'Herrschaft der Algorithmen', Perspektiven der Acceleration, neue Dimensionen der Künste und neue Denkansätze in Philosophie, Psychologie und Kunsttheorie.
Diese Fragen betreffen die Herausforderungen des modernen Menschen, sein Selbstverständnis, seine Wahrnehmungswelten, seine Wertepräfiguationen und die Zukunft einer medial dominierten Welt betreffen.
Renate Reschke, Friedrich-Nietzsche-Stiftung, Berlin, Deutschland; Knut Ebeling, Kunsthochschule Weißensee, Berlin, Deutschland.
Nietzsche, die Medien und Künste
Kunst, Leben, Wissenschaft: Bio-Art aus Nietzschescher Perspektive
Abstract
Art, Life, Science. Bio-Art from a Nietzschean Perspective. Bio-Art i. e., art that works with living material, explores the meaning and relationship of some of the key notions of modernity: „Science“, „Technology“, „Art“ and „Life“. So did Nietzsche. Therefore, after giving a tentative general definition of Bio-Art, the paper offers an Nietzschean interpretation of a specific work of art: Eduardo Kac’s „Genesis“-installation first exhibited in 1999. Looking at this artwork from an Nietzschean perspective reveals that it exemplifies three main points of Nietzsche’s philosophy: The critic of a reductionist and reifying concept of nature and life, the invocation of a pluralist interpretation of reality, and a vision of the essence of Being as Becoming.
In der Bio-Art, also jener aktuellen Kunstrichtung, die versucht Lebewesen bzw. lebendes Gewebe zum Material von Kunstwerken zu machen, spielen die Begriffe Wissenschaft bzw. Technik im Sinne der Technosciences1, Kunst und Leben eine zentrale Rolle – Begriffe also, denen auch im Werk von Nietzsche eine große Bedeutung zukommt. Im Folgenden möchte ich daher kurz klären, was ich unter Bio-Art verstehe, um dann ein konkretes Kunstwerk dieser Kunstgattung, Eduardo Kacs Genesis-Installation aus dem Jahr 1999, aus Nietzschescher Perspektive zu interpretieren. Dabei wird sich zeigen, dass Kacs Kunstwerk mindestens in drei Punkten mit Nietzsches Denken konvergiert: Erstens in einer Kritik der vergegenständlichenden reduktionistischen Weltdeutung der Technowissenschaften; zweitens in einer damit zusammenhängenden Forderung, eine Pluralität von Weltbildern offen zu halten und der Komplexität der Wirklichkeit dadurch gerecht zu werden, dass man sie multiperspektivisch betrachtet; und drittens in einem Verständnis des Wesens des Seins als Werden, Spontaneität bzw. Wille, wie es der frühe Nietzsche in der Geburt der Tragödie beschreibt.
1 Bio-Art
Als Geburtsstunde der Bio-Art gilt die Ausstellung Edward Steichen’s Delphiniums, die 1936 im MoMa in New York stattfand (vgl. Reichle 2005, S. 28; Gedrim 2007, S. 347 – 371). In der diese Rittersporn-Ausstellung ankündigenden Pressemitteilung des MoMa war zu lesen:
It will be an exhibition of ‚Steichen Delphiniums’ – rare new American varieties developed through twenty-six years of cross-breeding and selection by Edward Steichen. Although Mr. Steichen is widely known for his photography, this is the first time his delphiniums have been given a public showing. They are original varieties, as creatively produced as his photographs. To avoid confusion, it should be noted that the actual delphiniums will be shown in the Museum – not paintings or photographs of them. It will be a ‚personal appearance’ of the flowers themselves.2
Bereits in dieser ersten Bio-Art-Ausstellung waren die hergestellten und gezeigten Kunstwerke Lebewesen, genauer „persönlich erscheinende“ Blumen. Bio-Art begnügt sich also nicht damit, Leben zu repräsentieren, sondern versucht im Medium des Lebendigen zu arbeiten, obschon auch vagere Definitionen in Umlauf sind. Denn obwohl
heute niemand auf die Idee [käme], die konzeptuell in Öl gemalten Joysticks, Mäuse und Kabelsalate von Miltos Manetas als Computer- oder Medienkunst einzustufen, so geistert groteskerweise selbst in einschlägigen Publikation noch die Vorstellung umher, Biokunst sei an den repräsentierten Inhalten festzumachen: Biofiktionen in Erscheinung von Chimären-Skulpturen, DNA-Portraits, Chromosomen-Malerei oder Mutanten darstellende digitale Phototricks sind ebenso wenig Biokunst wie Claude Monets Impressionismus ‚Seerosen- oder Kathedralen-Kunst’ wäre. (Hauser 2005, S. 188)
Schematisch lassen sich mit Jens Hauser vier, die Biokunst im engeren Sinne auszeichnende Aspekte benennen:
1. Biokunst re-materialisiert sich zunehmend, die Faszination für den ‚Code des Lebens’ weicht einer phänomenologischen Auseinandersetzung mit Wetwork. 2. Statt darstellender Objekte, Abbilder oder Simulationen rücken transformatorische Prozesse mit Performance-Charakter in den Mittelpunkt. 3. Biokunst zieht zunehmend das Interesse von Performance-Künstlern der Bodyart auf sich, zwischen beiden Feldern gibt es Strukturverwandtschaften. 4. Als Medium der Biokunst lässt sich keine stoffliche oder verfahrenstechnische Definition festschreiben – die ‚Manipulation von Lebensmechanismen’ nimmt diskursiv und technisch stark unterschiedliche Formen an. (Hauser 2005, S. 189)
Definiert man Biokunst im engeren Sinne als Kunst, die im Medium des Lebendigen arbeitet, schränkt sich das Feld der Biokünstler und Biokünstlerinnen ein, obschon die Bandbreite möglicher Ausdrucksformen immer noch sehr weit bleibt. Denn zur Biokunst gehören dann die Werke der mit ihren Körpern arbeitenden Performance-Künstler/-innen Marina Abramović (die ihren Körper physischer und seelischer Gewalt aussetzt), Orlan (die ihrem Leib unzählige ästhetisch-chirurgische Eingriffe zumutet) und die Aktionen von Stelarc (der die Grenzen seines Körpers durch technische Prothesen und Implantate auslotet) ebenso wie die „transgene Kunst“ eines Eduardo Kac. Der 1962 in Rio der Janeiro geborene Künstler definiert „transgene Kunst“ folgendermaßen:
Transgenic art […] is a new art form based on the use of genetic engineering techniques to create unique living beings. This can be accomplished by transferring synthetic genes to an organism, by mutating an organism’s own genes, or by transferring natural genetic material from one species into another. Molecular genetics allows the artist to engineer the plant and animal genomes and create new life forms. The nature of this art is defined not only by the birth and growth of a new plant or animal but above all by the nature of the relationship among artist, public, and transgenic organism. (Kac 2005, S. 236)
Ähnlich einem Frühwarnsystem oder einem „Vorausdenksystem“, nimmt die Kunst, in diesem Fall die Bio-Art, Entwicklungen in der Wissenschaft, hier der Biologie, zumindest konzeptuell voraus und stellt sie zur Diskussion, noch Jahre bevor sie in der Wirklichkeit erscheinen. Dabei ist Bio-Art oftmals Konzeptkunst, also eine Kunstform, in der die einem Werk zugrundeliegende Idee wichtiger ist als deren Konkretisierung. Ein beredtes Beispiel für diese Konzept-Bio-Art ist Kacs Werk GFP Bunny3, also „Grün-fluoreszierendes Kaninchen“, aus dem Jahr 2000, das in der Ankündigung der Erschaffung eines genetisch veränderten, unter UV-Licht fluoreszierenden Kaninchens namens Alba bestand. Und das, obwohl das beteiligte französische Gentechniklabor bestritt, dass es Alba in der von Kacs kolportierten Form überhaupt gab bzw. erklärte, dass ähnlich genetisch manipulierte Kaninchen regelmäßig zu Forschungszwecken hergestellt würden. Dennoch genügte allein die Ankündigung Kacs, ein Lebewesen ausdrücklich als zweckfreies Kunstwerk hergestellt zu haben und die darauf folgende Medienkampagne zur Befreiung von Alba aus dem Labor (das sich angeblich weigerte, es Kac auszuhändigen, um es als Haustier zu halten), um öffentliche Diskussionen anzustoßen, die es bis auf die ersten Seiten verschiedener Tageszeitungen und in internationale Fernsehnachrichten der BBC und ABC brachten. Ob es das Kunstwerk-Kaninchen wirklich je gab, oder nur sein Konzept, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, sein bloßes Möglichsein war bereits wirkmächtig, das heißt wirklich, insofern es genau die Debatte über das Verhältnis von Wissenschaft, Leben, Kunst und Ethik ausgelöst hat, die Kac anstoßen wollte. Kac selbst schreibt:
Meine transgenetische künstlerische Arbeit ‚GFP Bunny‘ umfasst die Schöpfung eines fluoreszierenden Hasen, den öffentlichen Dialog, der durch das Projekt entsteht und die soziale Integration des Hasen. (Kac 2000)
1.1 Synthetische Biologie ex ante
Ein Beispiel für die vorausahnende, seismographische, ja divinatorische Funktion der Bio-Art Kacs stellt auch ihr Verhältnis zur Synthetischen Biologie dar. Anders als Kacs genetisch manipuliertes Kaninchen, schaffte es die Synthetische Biologie erst 2010 auf die Titelseiten der Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine. Damals war es einem Forscherteam um den Biologen und Unternehmer Craig Venter, der für die Durchführung des „Human Genome Project“ bekannt ist, gelungen, das Genom einer Bakterienzelle durch das Genom einer sehr eng verwandten Art – das zuvor analysiert, digitalisiert und dann in Hefezellen synthetisiert worden war – zu ersetzen (vgl....
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2023 |
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Reihe/Serie | ISSN |
ISSN | |
Nietzsche-Lektüren | Nietzsche-Lektüren |
Zusatzinfo | 1 col. ill. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Geschichte der Philosophie |
Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit | |
Schlagworte | augmented reality • Media Criticism • Medienkritik • Nietzsche, Friedrich • Social Media |
ISBN-10 | 3-11-107330-0 / 3111073300 |
ISBN-13 | 978-3-11-107330-9 / 9783111073309 |
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