Schweizer Zwangsarbeiterinnen -  Yves Demuth

Schweizer Zwangsarbeiterinnen (eBook)

Eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
200 Seiten
Beobachter-Edition (Verlag)
978-3-03875-474-9 (ISBN)
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Eine furchtbare, menschenverachtende Episode in der jüngeren Schweizer Geschichte: Zwangsarbeit. Das Schweizer Sozialsystem belieferte über Jahrzehnte den Waffenhändler Emil Bührle und andere Industrielle mit jungen Frauen, die in deren Fabriken schuften mussten. Aufgedeckt wurde dieser Skandal vom Journalisten und Historiker Yves Demuth im Rahmen seiner Recherchen für das Beobachter-Magazin. Jetzt erscheint seine Artikelserie, die das Bild der guten Schweiz erschütterte, als Buch. Die unerzählte dunkle Geschichte zur unrühmlichen Rolle der Schweiz der Nachkriegszeit, mit Porträts und persönlichen Lebensgeschichten von drei der betroffenen Frauen.

Yves Demuth ist Journalist und hat Zeitgeschichte, Volkswirtschaft und Politologie studiert. Seit 2017 ist er beim Beobachter tätig. Für seine Reportage «Akte Bührle: Zwangsarbeit in der Spinnerei» wurde er 2022 mit dem Zürcher Journalistenpreis ausgezeichnet.

Das Porträt. Elfriede Steiger bricht das Schweigen

Mein Name ist Elfriede Steiger, ich habe den Jahrgang 1936 und ich musste als Mädchen Zwangsarbeit für Emil Bührle leisten. Die Stadt Zürich hat mich in Bührles Mädchenheim im Toggenburg gesteckt, obwohl ich nichts falsch gemacht habe. Was mit uns Mädchen dort in der Bührle-Spinnerei geschehen ist, hat jahrzehntelang niemanden interessiert. Im Sommer 2021 hielt ich dieses Schweigen nicht mehr länger aus.

Als ich vor der Eröffnung des neuen Zürcher Kunsthauses immer wieder über Emil Bührle las, hat es mich wachgerüttelt. Die Medien diskutierten über Bührles Waffengeschäfte und über seine fragwürdigen Bilderkäufe. Uns Mädchen hat man aber vergessen. Ich wollte erzählen, wie es für uns Versorgte bei Emil Bührle war. Niemand wusste, dass er ein eigenes Mädchenheim gehabt hatte für seine Spinnerei im Toggenburg. Das, was ich dort für Emil Bührle machen musste, war Zwangsarbeit. Einen Lohn habe ich bis heute nicht erhalten.

Um die Geschichte von uns Mädchen öffentlich zu machen, musste ich die Vergangenheit ganz nahe an mich heranlassen. Das war für mich nicht einfach. Ich schlief zwei Nächte lang kaum, bevor ich die Spinnerei und das Heim erneut besuchte – für einen Artikel im Beobachter. Jetzt bin ich froh, dass die ­Geschichte von uns Heimmädchen publik ist. Niemand kann mehr sagen, man habe das nicht gewusst. Ich wollte nun eigentlich mit der Sache abschliessen. Doch ich spüre, dass noch viel Dynamit in mir schlummert.

Eigentlich sollte ich gar nie auf die Welt kommen. Die Fürsorge der Stadt Zürich wollte meine Mutter dazu überreden, dass sie mich abtreibt. Weil meine Eltern nicht genug Geld für meine Geschwister hatten, ­waren sie der Fürsorge bekannt. Die Stadt wollte verhindern, dass ich 1936 als viertes Steiger-Kind geboren werde. Doch meine Mutter liess sich nicht einschüchtern, wie sie mir später mit Stolz erzählt hat.

«Jetzt bin ich froh, dass die Geschichte
von uns Heimmädchen publik ist.
Niemand kann mehr sagen, man habe
das nicht gewusst.»

Die Stadt Zürich hat mich aber dann als Säugling meinen Eltern weggenommen und mich in ein katholisches Kinderheim nach Dietikon im Kanton Zürich verbracht. Das war halt so, wenn die Eltern arm und bedürftig waren. Mein Vater stammte aus einer katholischen Arbeiter­familie aus dem St. Galler Rheintal. Deshalb kam ich immer nur in ­katholische Heime. Er war wegen der besseren Arbeitsmöglichkeiten nach Zürich gekommen. Vater war ein lieber Mensch. Seine Alkoholsucht hat uns Kinder aber sehr geprägt. Er musste viel durchmachen. Seine Mutter ist früh verstorben, er hatte 13 Geschwister. Ich mache ­weder meinem ­Vater noch meiner Mutter einen Vorwurf. Was mir aber die Stadt Zürich als Jugendliche angetan hat, ist unverzeihlich. Zuerst hat mir das Zürcher Fürsorgeamt eine Berufslehre verweigert. Dann lockte mich die Fürsorgetante hinterhältig in ein Heim, in dem ich gezwungen wurde, für Emil Bührle Schichtarbeit zu verrichten.

Bereits als Kind hatte ich es nicht einfach. Ich hatte einen ­älteren Bruder und zwei ältere Schwestern. Wir wohnten im Zürcher Arbeiterquartier im Kreis 4 und hatten wenig Geld. Mein Vater schlug sich als Gemüsehändler durch, meine Mutter war Hausangestellte am Zürichberg. Manchmal durfte ich vom Kinderheim nach Hause zu meinen Eltern auf Besuch. Ich spürte, wie man meiner Familie immer die Etikette «schwierig» anhängte. Dabei war unsere Schwierigkeit nur, dass wir arm ­waren. Als ich fünf war, liessen sich meine Eltern scheiden. Das änderte zwar nichts für mich, da ich ja schon im Heim war. Aber meine Mutter stand nach der Scheidung finanziell so schlecht da, dass sie uns Kinder nicht allein zu Hause hätte durchbringen können, selbst wenn sie gewollt hätte.

Mit 14 Jahren kam ich ins katholische Kinderheim von Altstätten im Kanton St. Gallen, in den Heimatort meines Vaters. Dort beendete ich mit 15 Jahren die obligatorische Schulzeit. Danach schickte mich das Kinderheim weiter ins Bürgerheim von Altstätten, wo ich arbeiten sollte. Ich musste in diesem Armenhaus rund 30 Erwachsene betreuen, die behindert waren. Ich war gerade mal 15 und hatte mich rund um die Uhr um diese Erwachsenen zu kümmern. Ich musste ihnen beim Waschen, Anziehen und Essen helfen und im selben grossen Schlafsaal wie sie schlafen. In der Nacht war ich die einzige Aufsicht, ich konnte deshalb kaum ein Auge zutun. Das war traumatisch. Es war die absolute Hilflosigkeit.

Wir Heimkinder waren schutzlos und rechtlos. Wir haben keine Nähe erfahren. Ich habe in den Kinderheimen nur die Rute gesehen. Keine Liebenswürdigkeit. Auch meine Fürsorgetante bei der Stadt Zürich, die mich die ganze Zeit betreute, hatte null Einfühlungsvermögen gezeigt. Von einer Fürsorgebehörde kann man keine Liebe erwarten, das ist klar. Aber man kann Empathie erfahren von denen, die auf einem solchen Posten sind. Aber es gab keine Empathie. Und wenn sich ein Grüsel wie dieser Armenhausvater einen Übergriff auf eine 15-Jährige erlaubte, passierte nichts. Als er zudringlich wurde, schützte mich niemand. Wie der Armenhausvater vor mir seinen Penis auspackte im Bürgerheim, werde ich nie vergessen. Ich habe so laut geschrien, dass er von mir abliess. Zehn Tage später hat er mich weggeschickt. Ich durfte eine Haushaltsschule mit Internat in Sargans besuchen. Das war die schönste Zeit meiner Jugend.

Mit 17 schickte mich die Fürsorgetante aus Zürich als Dienstmädchen nach Genf. Ich arbeitete bei verschiedenen Familien. Zuletzt war ich bei einer Bäckerfamilie in Genf-Carouge. Ich hätte gerne im Laden der Bäckerei mitgearbeitet, um Französisch zu lernen. Aber das durfte ich nicht. Ich musste mich um den Haushalt und das Kleinkind der Bäckersfrau kümmern. Ich arbeitete viel und erhielt 80 Franken im Monat. Davon durfte ich aber nur 30 Franken behalten, als Sackgeld. Alle meine Stellen in Genf waren so. Sehr viel arbeiten für wenig Lohn. Man hat uns Mädchen aus den Heimen ausgenutzt. Zugewiesen hatte mir die Stellen jeweils das Fürsorgeamt Zürich. Der Bäcker aus Genf hatte der Fürsorge nach Zürich geschrieben, er brauche wieder ein Mädchen zu den gleichen Konditionen wie im Vorjahr. So steht es in meinen Akten. Das Fürsorgeamt hat mich ihm zugeteilt. Die Stadt Zürich betrieb einen regelrechten Handel mit uns Mädchen. Sie hat mich später auch an Emil Bührle ausgeliefert. Wir waren ein Produkt, das man ausnutzen konnte. Und das wollte ich nicht mehr mit mir machen lassen.

Als ich bei der Bäckerfamilie in Genf-Carouge war, wurde ich 18 Jahre alt. Aber selbständig durfte ich nichts unternehmen. Zimmerstunde hatte ich nur einmal die Woche mit einer 21-Jährigen, die ebenfalls der Zürcher Fürsorge bekannt war. Wir konnten am Nachmittag zusammen spazieren gehen. Als junge Frau durfte man damals nichts. Wenn man noch ein Hübsches war, hatten die ja sowieso Angst, dass noch ein junger Mann Interesse haben könnte. Der Bäcker störte sich, wenn ich mich schminkte. Selbst als ich mir einen karierten Rock nähte, war ihm das nicht genehm. Kariert war 1954 sehr modisch. Aber der Bäcker hatte lieber einfarbige Röcke. Er verbot mir, meinen ­karierten Rock anzuziehen. Diese ständige Bevormundung wollte ich mir nicht mehr länger bieten lassen. Denn ich realisierte mit 18 Jahren, dass ich gar keinen Vormund hatte. Ich hatte nie ­einen gehabt. Die Fürsorge brauchte für alles eine ­Unterschrift meiner Mutter. Meine Mutter hat immer unterschrieben, weil sie als Geschiedene unter Druck stand. Sie musste sich als Alleinerziehende in Zürich in einer kleinen Wohnung über Wasser halten. Ein Zimmer vermietete sie einem Untermieter. Sie hatte kein Geld und erhielt keine staatliche Unterstützung. Die Stadt Zürich verrechnete ihr sogar die Heimkosten von mir und meinen Geschwistern. Ich glaube, meine Mutter unterschrieb alles, was die Fürsorge verlangte, weil sie Angst hatte, dass ich ihr sonst ganz weggenommen werde.

1954 hatte ich genug. Ich sagte der Bäckerin, dass ich jetzt nach Zürich zu meiner Mutter wolle. Sie hat natürlich sofort in Zürich die Fürsorge angerufen. Ich musste dann selbst ans Telefon und mit der Fürsorgetante sprechen. Sie versprach mir, dass ich nach Zürich zu meiner Mutter kommen könne. Sie gab mir eine Zugverbindung an und sagte, meine Mutter würde mich am Hauptbahnhof auf dem Perron abholen. Es war eine Falle. Statt meiner Mutter holte mich die Fürsorgetante am Bahnhof ab. Sie brachte mich für eine Nacht ins Mädchenheim Zürich-Riesbach und von dort direkt ins Toggenburg ins Marienheim Dietfurt. Das war das Heim von Emil Bührle. Ich hatte mich in Genf absolut konform verhalten, aber das hat der Fürsorge nicht gereicht.

Als ich im März 1954 im Marienheim Dietfurt ankam, waren sehr viele Mädchen da. Auch Italienerinnen gab es, die ähnlich alt waren wie wir. Die waren aber freiwillig da. Wir Schweizerinnen waren alles Versorgte. Wir alle waren von den Behörden ins Heim eingewiesen worden. Zwei von uns waren erst 16 und hatten uneheliche Kinder, die man ihnen weggenommen hat. Andere hatten eine schwere Kindheit erlebt. Eine ist vom Stiefvater missbraucht worden. Viele waren frühreif, hatten schon Burschen abgeschleppt. Da war ich direkt brav im Vergleich. Bis 20 war ich enorm solide und liess mich nicht mit Männern ein. Eine war wohl nur im Heim, weil sie lesbisch war. Auch das war damals etwas Ungehöriges.

Wir machten in Dietfurt nichts anderes, als für Emil Bührle zu arbeiten. Die Arbeit in der Spinnerei war streng. Die Morgenschicht begann um fünf...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte
ISBN-10 3-03875-474-9 / 3038754749
ISBN-13 978-3-03875-474-9 / 9783038754749
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