Paul Tillich in Dresden (eBook)

Intellektuellen-Diskurse in der Weimarer Republik
eBook Download: EPUB
2023
325 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-126524-7 (ISBN)

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Paul Tillich in Dresden -
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Der vorliegende Band widmet sich erstmals Paul Tillichs Wirksamkeit in Dresden im Kontext der Intellektuellen-Diskurse der Weimarer Republik. Tillich wurde 1925 auf eine Professur für Religionswissenschaft an der Allgemeinen Abteilung der Sächsischen Technischen Hochschule Dresden berufen und lehrte bis 1929 in der Elbmetropole. In Dresden sind nicht nur grundlegende Werke wie Die religiöse Lage der Gegenwart (1926), Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte (1926) sowie die beiden Kairos-Bände (1926 und 1929) entstanden, auch seine bereits in Marburg begonnene Dogmatik erhielt hier ihre weitere Ausarbeitung. In fünf Sektionen - 1. Streit über die Weimarer Republik, 2. Dresdener Intellektuellenmilieus, 3. Dresdener philosophische Diskurse, 4. Kairos, Religion und Kultur: Theologische Zeitdeutung, 5. Theologische Diskurse in der Weimarer Republik - beleuchtet der Band die unterschiedlichen Facetten und Netzwerke in Tillichs Dresdener Zeit vor dem Hintergrund der Deutungskämpfe um die Weimarer Republik. Auf diese Weise bietet der Band Paul Tillich in Dresden eine erste umfassende Auseinandersetzung mit der Theologie und Religionsphilosophie Tillichs in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre.



Christian Danz, Universität Wien, Österreich; Werner Schüßler, Universität Trier.

Paul Tillich in Dresden


Einleitung

Christian Danz
Werner Schüßler

Am Dienstag war eine lange Fakultätssitzung. Ich lernte Tillich kennen. Junger Mensch, der mit Wärme u. bedeutend spricht. Er setzt sich für Stepun ein. In dieser Sache war ich bei Uhlig. Der Minister hat sich geradezu auf St. verpflichtet, der einen angesehenen Namen hat u. für den sich ein Gutachten Husserls sehr ins Zeug legt. Am Samstag war Kroner bei mir gewesen. Wir verabredeten: ich würde für die soziologische Professur St’s eintreten, mit dem Zusatz: ‚unter besonderer Berücksichtigung der russischen Verhältnisse‘. So ist es dann auch gekommen, u. es scheint sicher, daß St. das Extraordinariat erhält.1

Paul Tillich, den der Romanist Victor Klemperer im November 1925 persönlich in einer Fakultätssitzung kennenlernte, in der es – wie Klemperer am 5. November in seinem Tagebuch notiert – um die Berufung des russischen Soziologen Fedor Stepun ging,2 lehrte seit dem Sommersemester 1925 an der Sächsischen Technischen Hochschule in Dresden. Mit Wirkung vom 1. Mai dieses Jahres war er persönlicher Ordinarius auf einer neu eingerichteten planmäßigen außerordentlichen Professur für Religionswissenschaften an der Allgemeinen Abteilung der Technischen Hochschule.3 Zugleich unterrichtete Tillich in diesem Sommersemester noch an der Theologischen Fakultät in Marburg, wo er seit dem Wintersemester zuvor eine außerordentliche Professur innehatte, so dass er zwischen Marburg und Dresden pendelte. Seine Berufung nach Dresden muss man sich wohl so ähnlich vorstellen wie die von Fedor Stepun, von der Klemperer in seinem Tagebuch berichtete. Der an der Technischen Hochschule lehrende Philosoph Richard Kroner4 setzte sich bei dem sächsischen Kultusminister Robert Ulich, der Tillich bereits seit 1918 kannte, für eine Berufung an die Technische Hochschule ein.5 Kroner, Stepun, Klemperer und der Germanist Christian Janentzki gehörten denn auch zum engeren Freundes- und Bekanntenkreis Tillichs in Dresden, für den, wie Klemperer in seinem Tagebuch berichtet, der Name „Logosclique“ erfunden wurde.6 1927 traten sie gemeinsam in dem von Richard Kroner herausgegebenen Band 16 der Zeitschrift Logos in Erscheinung. Tillich steuerte zwei Beiträge für den Band bei: Die Überwindung des Persönlichkeitsideals und Logos und Mythos der Technik.7

Für Tillich, der bis dato noch keine ordentliche Professur innehatte, eröffnete sich im Sommersemester 1925 der Weg in eine gesicherte akademische Karriere. Neben Dresden hatte er noch ein weiteres Eisen im Feuer. Am 29. Mai 1925, also wenige Tage nachdem er in Dresden zum außerordentlichen Professor ernannt wurde, setze ihn der Gesamtsenat der Universität Gießen für die Wiederbesetzung der Professur für Systematische Theologie von Emil Walter Mayer in Gießen primo et unico loco.8 Das verschaffte Tillich eine gute Verhandlungsposition in Dresden, die er auch nutzte. Er entschied sich nicht nur für Dresden, sondern erhielt am 31. August 1925 vom Sächsischen Kultusministerium auch die Mitteilung, dass er zum ordentlichen Professor für Religionswissenschaften in der Allgemeinen Abteilung der Technischen Hochschule in Dresden ernannt sei.9 Nach unsicheren Jahren als Privatdozent in Berlin und als außerordentlicher Professor in Marburg, was aber nur einem besoldeten heutigen außerplanmäßigen Professor entsprechen würde, hatte Tillich in Dresden erstmals eine ordentliche Professur und damit eine finanziell sichere Position erlangt. Die erst neu geschaffene Allgemeine Abteilung der Technischen Hochschule sowie die dortigen Kollegen boten ihm ein Wirkungsfeld, welches seinen kulturtheologischen Interessen entgegen kam.10 Zudem war die Elbmetropole im Unterschied zu Marburg oder Gießen eine blühende Großstadt. Doch für einen Theologen waren mit dem Wechsel an eine kulturwissenschaftliche Abteilung auch Gefahren verbunden. Sie bestanden darin, dass er sich mit seiner neuen Professur gleichsam ins akademische Abseits für eine weitere theologische Karriere gestellt hatte. Tillich beugte dem vor, indem er sich vom Sächsischen Kultusministerium die Möglichkeit erhandelte, zugleich als ordentlicher Honorarprofessor für Religionsphilosophie und Kulturphilosophie an der Leipziger Theologischen Fakultät zu lehren. Auf diese Weise stand er mit einem Bein in einer theologischen und mit dem anderen in einer kulturwissenschaftlichen Fakultät. Im Juni 1927 hielt er in Leipzig seine Antrittsvorlesung mit dem Titel Die Idee der Offenbarung.11

Bis zum Wintersemester 1928/1929 lehrte Tillich in Dresden. Während dieser Zeit unternahm er zahlreiche Versuche, an eine theologische Fakultät in Bonn, Berlin und Marburg berufen zu werden, jedoch ohne Erfolg. Zum Sommersemester 1929 wechselte er auf eine Professur für Philosophie und Soziologie einschließlich Sozialpädagogik an der Universität Frankfurt am Main, seiner letzten Station in Deutschland, bevor er 1933 in die USA emigrieren musste.12

Vier Jahre lehrte der Kulturtheologe und religiöse Sozialist Paul Tillich in Dresden. Es waren politisch und ökonomisch dramatische Jahre der jungen Weimarer Republik.13 Ältere Deutungen der Krisenjahre der ersten deutschen Republik und ihrer Aushöhlung durch linke und rechte Kritiker wurden in den letzten Jahren verflüssigt.14 Tillichs Stellungnahmen zur gesellschaftlichen und politischen Lage in den 1920er Jahren sind ein hervorragendes Beispiel für Weimarer Intellektuellen-Diskurse. Auch seine Positionierung im umkämpften linksintellektuellen Diskursfeld in jenen Jahren ist ambivalent. Ihre Rekonstruktion setzt nicht nur eine genaue Einordnung in die komplexen Diskurse voraus, sie muss sich auch von Generalisierungen und moralischen Beurteilungen freihalten, die spätere Entwicklungen in Anspruch nehmen, welche den Zeitgenossen verborgen waren.15 In Tillichs Schriften verbindet sich Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft mit einem Plädoyer für einen religiös-sozialistischen Staat. Neu gegenüber den Berliner Nachkriegsjahren ist in Dresden, dass das mit dem Kairos verbundene Revolutionspathos zurücktritt. Der Geist, so schreibt Tillich 1926, mache eine „Atempause“ (GW X, 94). Er besinne sich auf seine Aufgaben und halte Rückschau nach dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. „Denn das Jahr 1926, es ist im Geistigen ein Jahr der Beruhigung, der Müdigkeit, der Resignation und – des Atemholens, der verborgenen Schöpfung.“ (GW X, 99)

Obwohl Tillich in Dresden an einer kulturwissenschaftlichen Abteilung lehrte, stand in jenen Jahren der weitere Ausbau seiner Theologie im Fokus. 1926 erschien sein Buch Die religiöse Lage der Gegenwart.16 Es widmet sich einer religiösen Deutung der gesellschaftlichen und kulturellen Lage in den 1920er Jahren und war ein Erfolg für seinen Autor. Tillich sieht die Gesellschaft seiner Zeit durch den Geist der bürgerlichen Gesellschaft geprägt. Im Hintergrund seiner Gesellschaftsdiagnose stehen – die Metaphernwahl lässt es bereits erkennen – die Untersuchungen Max Webers zur Entstehung des okzidentalen Rationalismus der modernen Gesellschaft aus dem Geist des puritanischen Protestantismus. Charakterisiert sei die bürgerliche Gesellschaft dadurch, so Tillich, dass sie in sich ruhe, ein Geist in sich ruhender Endlichkeit sei, der sich von den religiösen Wurzeln, aus denen er lebt, abgeschnitten habe. Für Tillich, das ist der Grundgedanke seiner Kulturtheologie, liegt der gesamten Kultur ein religiöser Gehalt zugrunde. Religion ist die Substanz der Kultur und Kultur die Form der Religion. Löst sich die Kultur von der Religion ab, wie es in der Entwicklungsgeschichte der modernen bürgerlichen Gesellschaft geschehen ist, dann wird sie gehaltlos und leer. Der Geist der bürgerlichen Gesellschaft – Tillich denkt hier vor allem an den modernen Kapitalismus – überziehe die gesellschaftliche Wirklichkeit mit dem bleiernen Schleier einer kalten Rationalität.17

Ebenfalls im Jahre 1926 publizierte Tillich seine kleine Studie Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte18 sowie den ersten der beiden Bände des Kairos-Kreises mit dem Titel Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswerdung.19 Ähnlich wie in Die religiöse Lage der Gegenwart geht es in diesen Schriften um eine Zeitdeutung vom Ewigen her. Eine solche Deutung muss, wie es in der von Tillich verfassten Einführung des Kairos-Bandes heißt, „in eine tiefere Schicht dringen, als es die ist, in der jene Gegensätze leben“.20 Ein Ausweg aus der Krise der bürgerlichen Gesellschaft und den stahlharten Gehäusen ihrer in sich ruhenden Endlichkeit ist lediglich von dieser Schicht zu erwarten. Doch er kann nicht hergestellt oder herbeigeführt werden. Das Unbedingte kann sich nur offenbaren. Allerdings ist der Durchbruch des Unbedingten nicht an die Religion im engeren Sinne, also die Kirchen, gebunden. Da das Unbedingte der Kultur bereits zugrunde liegt und Religion keine besondere Form der Kultur darstellt, ist...

Erscheint lt. Verlag 7.8.2023
Reihe/Serie ISSN
ISSN
Tillich Research
Tillich Research
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte Paul Tillich • Philosophy of Religion • Religionsphilosophie • Systematic Theology • Systematische Theologie • Weimarer Republik • Weimar Republic
ISBN-10 3-11-126524-2 / 3111265242
ISBN-13 978-3-11-126524-7 / 9783111265247
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