Hier liegt Bitterkeit begraben (eBook)
316 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77568-4 (ISBN)
»Ressentiments sind die gefährlichste Krankheit für die Demokratie.«
Die politische Philosophie und die Psychoanalyse teilen ein Problem, das sowohl für das Leben der Menschen als auch für die Gesellschaft eine Gefährdung darstellt: die dumpfe Unzufriedenheit, diese Bitterkeit, die unter die Haut gehen kann - das Ressentiment. Die Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury begibt sich in ihrem gefeierten Buch auf die Suche nach den Ursprüngen und dem innersten Wesen des Ressentiments. Was können wir tun, um in unseren Demokratien dessen bedrohliche Impulse einzudämmen? Wie können wir Ressentiments heilen?
Fleury taucht tief ein in die einschlägigen Überlegungen von Friedrich Nietzsche, Max Scheler, Sigmund Freud, Theodor W. Adorno und Frantz Fanon und entwickelt eine klinische Sichtweise: Für einen Patienten besteht das Ziel der Therapie nicht allein in Erkenntnis und Wissen, sondern in der Fähigkeit, durch das eigene Leiden hindurch wieder zum Handeln zu gelangen. Auf der Ebene kollektiver Prozesse des Ressentiments, die in unserer globalisierten Welt mit zunehmender Heftigkeit auftreten, steht das Verhältnis von Psyche und Politik im Zentrum: Der demokratische Rechtsstaat ist in dieser Perspektive nicht nur ein institutionelles Verfahren, sondern auch eine notwendige Form der »Fürsorge«, um zu verhindern, dass die Bürgerinnen in Ressentiments abgleiten. Eine faszinierende Untersuchung an der Schnittstelle von Philosophie, Psychoanalyse und Politik.
Cynthia Fleury, geboren 1974, ist Philosophin und Psychoanalytikerin. Sie ist Professorin für Geisteswissenschaften und Gesundheit am Conservatoire National des Arts et Métiers in Paris und Professorin für Philosophie am Hospital Sainte-Anne der GHU Paris für Psychiatrie und Neurowissenschaften. Fleury ist Mitglied der französischen Nationalen Beratungskommission für Ethikfragen. Ihr Buch <em>Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung</em> war in Frankreich ein Bestseller.
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Trägheit des Ressentiments und Ressentiment-Fetisch
Man kann und muss sich anders ernähren, verdorbene Nahrung ablehnen. Doch hier wird die Wahl des Aases bevorzugt. Die Bevorzugung des Verdorbenen ist für das Vorgehen wesentlich, denn das Ressentiment ist nicht mit einer Gegenwehr, einer Notwehr, einer einfachen Reaktion gleichzusetzen. Es handelt sich oft um eine Nicht-Reaktion, um den Verzicht auf eine Reaktion. Es besteht darin, bei sich behalten zu haben – nicht, dass man nichts bei sich behalten sollte; man muss die Zeit »ausgesetzt« haben, um besser und dauerhafter hassen zu können. Man muss sich diese ganz besondere Form von Hoffnung, die die Rache darstellt, zu eigen machen, auch hier eine verdorbene Hoffnung, deren belebende Kraft jedoch sehr heftig sein kann. »Für den Tatbestand der Rache wesentlich [ist]: Eine mindestens momentane oder eine bestimmte Zeit währende Hemmung und Zurückhaltung des sich unmittelbar einstellenden Gegenimpulses (und auch der damit verbundenen Zorn- und Wutregungen).«[17]
Um das Ressentiment zum Verschwinden zu bringen, genügt es nicht, sofort zu kontern. Letztlich ist das Ressentiment nicht einfach eine Re-Aktion, ja das Fehlen der Re-Aktion, sondern offenbart das wiederholte Durch- und Nachleben, die Entscheidung, wiederholt durch- und nachzuleben, oder die Unmöglichkeit, nicht wiederholt durch- und nachzuleben. Es ist nicht leicht, zwischen einer Definition des Ressentiments zu wählen, die es auf die Seite des Unvermögens zu stellt, und einer anderen, die schließlich einräumt, dass es eine Entscheidung für das Unvermögen zu gibt. Das ist hier zweifellos eine Frage des Grades und der vom 24Ressentiment geschaffenen mehr oder weniger akzeptierten Beeinträchtigung. Man kann in der Falle des Ressentiments gefangen sein, aber versuchen, sich daraus zu befreien, sich weigern, dem auf den Leim zu gehen, was es heraufbeschwört. Man kann sich auf der Schneide der Rache befinden, wiederholt durch- und nachleben, aber immer noch genug auf der Schneide, um ihr nicht völlig zu verfallen, ihr nicht völlig verfallen zu wollen.
Und dann ist die Rache kein Ressentiment; sie ist ebenso schrecklich wie kontaminierend, bleibt jedoch adressiert, bestimmt, insofern sie möglicherweise gestillt werden kann. »Die gelungene Rache hebt das Rachegefühl auf«,[18] glaubt Scheler. Ich bin mir dessen nicht so sicher. Weiß die Rache doch, sich zu bewegen, und findet ein neues Objekt. Es ist alles andere als einfach, diese Form einer tödlicher Dynamik, diese verdorbene Energie loszuwerden. Doch mit dem Ressentiment ist das nicht so. Sein Gegenstand scheint die Verhinderung jeglicher moralischen Überwindung zu sein; sein Ziel: sich selbst dem Scheitern zu verschreiben, Sie dem Scheitern zu verschreiben, Sie, die Sie versuchen, eine Lösung zu schaffen.
Bei einigen hartnäckigen Psychosen kann man sehr gut sehen, wie der Patient seine ganze Energie darauf verwendet, eine Lösung zu verhindern, den Arzt oder die Medizin versagen zu lassen und nichts als den Nicht-Ausweg zu produzieren. Es wird keine Überwindung akzeptiert: Zweifellos würde ihre Akzeptanz einen neuen Durchbruch produzieren, den man nicht auf sich nehmen will. Dann ist die Dysfunktionalität als Funktionsweise vorzuziehen. Die einzige Fähigkeit des Ressentiments, in der es brilliert, ist: zu verbittern, die Persönlichkeit zu verbittern, die Situation zu verbittern, den Blick auf die Welt zu verbittern.[19] Das Ressentiment verhindert die Öffnung, es verschließt, es schließt aus, kein Ausweg ist möglich. Das Subjekt ist vielleicht außer sich, aber in 25sich, es zerfrisst das Selbst und zerfrisst damit die einzig mögliche Vermittlung zur Welt.
Auch wenn das Ressentiment des Habens (Neid) und das Ressentiment des Seins (Eifersucht) voneinander zu unterscheiden sind, ist ihre Paarung möglich. Dies ist zweifellos die Vollendung des Ressentiments: die Innerlichkeit der Person zu zerfressen und nicht nur das Verlangen nach Erwerb, sie in der Wahrung ihrer Identität zu erschüttern. »Der Neid spannt nicht, sondern entspannt den Willen zum Erwerb«, fährt Scheler fort, und je größer der Neid wird, desto ohnmächtiger macht er das Subjekt und desto mehr lässt er sein Unbehagen am Haben in ein ontologisches Unbehagen abgleiten, das weitaus zerstörerischer ist: »Alles kann ich dir verzeihen; nur nicht, daß du bist und das Wesen bist, das du bist; nur nicht, daß ›ich‹ nicht ›du‹ bin. Dieser ›Neid‹ entmächtigt die fremde Person von Hause aus schon ihrer bloßen Existenz, die als solche als ›Druck‹, ›Vorwurf‹, furchtbares Maß der eigenen Person empfunden wird.«[20] Hier schnappt die Falle über dem Subjekt zu. Denn auch wenn man glauben kann, dass das endlich wiedererlangte Haben (die Güter) schließlich zur Beruhigung führt, macht sich niemand Illusionen über die mögliche Beruhigung eines Subjekts, das vom Hass auf den anderen zerfressen ist, der von einer überbordenden Phantasie in Gang gehalten wird.
Wenn das Subjekt in dieses Versagen abgleitet, das in ein Versagen seines eigenen Selbst umschlägt, ist die Heilung, das Herausholen aus dieser Umklammerung, äußerst kompliziert. Man muss die regulative Idee aufstellen, dass die Heilung möglich ist, dass aber die Klinik in ihrem Bemühen, in der ständigen Ausweitung ihres Bemühens, zweifellos nicht ausreichend ist. Der Therapeut ist ein Mensch: Man muss auch diese strukturelle Unzulänglichkeit der Kur einkalkulieren. Es ist unmöglich, das Ressentiment 26zu überwinden, ohne dass der Wille des Subjekts in Aktion tritt. Genau dieser Wille fehlt aber, er wird jeden Tag vom Subjekt selbst begraben, um auch zu vermeiden, sich seiner Verantwortung, seiner Seelenlast und seiner moralischen Verpflichtung zur Überwindung zu stellen.
Einzig die Zerstörung des anderen kann dann Genuss bereiten, zum »Lustprinzip« verhelfen, das erlaubt, einer Realität zu trotzen, die man nicht ertragen kann, weil sie als ungerecht, unsozial, demütigend und der Verdienste, die man sich selbst zuschreibt, unwürdig angesehen wird. Das Ressentiment ist ein Opferwahn, ein Wahn nicht in dem Sinne, dass das Individuum kein Opfer ist – dies ist es potenziell –, sondern ein Wahn, weil es keineswegs das einzige Opfer einer ungerechten Ordnung ist. Die Ungerechtigkeit ist global, undifferenziert, sicher betrifft sie es zwar, aber die Komplexität der Welt macht die genaue Bestimmung, die Adresse der Ungerechtigkeit unmöglich. Außerdem: Opfer in Bezug auf was, auf wen, auf welche Ordnung von Werten und Erwartungen? Schließlich ist es eine Sache, sich vorübergehend als Opfer zu definieren und sich einen Moment lang als solches zu sehen, und eine andere, die Identität ausschließlich auf der Grundlage dieser »Tatsache« mit ihrer zweifelhaften Objektivität und sicheren Subjektivität zu konsolidieren. Daher handelt es sich sehr wohl um eine »Entscheidung« des Subjekts, das wiederholte Durch- und Nachleben zu wählen, sich für den Genuss des Schlechteren zu entscheiden, sei diese Entscheidung bewusst oder nicht – sie ist es in der Regel nicht. Es gibt den »Wahn«, weil es die Entfremdung gibt, die Nichtwahrnehmung der eigenen Verantwortung bei der wiederholten Klage; es gibt den Wahn, weil das Subjekt nicht sieht, dass es die Mechanik des wiederholten Durch- und Nachlebens bedient. In dem Wissen, dass die Wiedergutmachung illusorisch ist, weil sie niemals der empfundenen Ungerechtigkeit entsprechen wird, weigert es sich zu defokussieren, die Idee von der Wiedergutmachung aufzugeben. Man muss abschließen, und das Subjekt will nicht abschließen. Das ist zweifel27los die von François Roustang aufgestellte Definition der »Klage«, welche immer vom Leiden getrennt wird. Klage bedeutet »Klage erheben«. Im psychologischen und emotionalen Universum muss man jedoch von der Klage Abstand nehmen, um nicht davon zerfressen zu werden und an einer Wut festzuhalten, die einen verzehrt. Erinnern wir uns auch an Freuds Lehre von der Realitätsverneinung, in der anklingt, was sich beim Ressentiment abspielt. Das in das Ressentiment verliebte Subjekt...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2023 |
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Übersetzer | Andrea Hemminger |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Ci-gît l’amer. Guérir du ressentiment |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Schlagworte | aktuelles Buch • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • bücher neuerscheinungen • Ci-gît l’amer. Guérir du ressentiment deutsch • Demokratie • Frantz Fanon • Friedrich Nietzsche • Fürsorge • Gesellschaft • Max Scheler • Neuerscheinungen • neues Buch • Partizipation • Philosophie • Politik • Psyche • Psychoanalyse • Ressentiments • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • Sigmund Freud • Spiegel-Bestseller-Liste • Theodor W. Adorno |
ISBN-10 | 3-518-77568-5 / 3518775685 |
ISBN-13 | 978-3-518-77568-4 / 9783518775684 |
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