Komische Kinder, komische Eltern? -  Judith Hack

Komische Kinder, komische Eltern? (eBook)

Belastungen, Kompetenzen und Wünsche von Eltern autistischer Kinder

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
164 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-042108-0 (ISBN)
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Die Erziehung autistischer Kinder stellt an betroffene Eltern besondere Herausforderungen und bringt sie oftmals im Alltag an ihre emotionale und praktische Belastungsgrenze. Wenn das Verhalten ihrer Kinder in der Öffentlichkeit auf Unverständnis stößt, werden Eltern mit Vorwürfen über fehlgeschlagene Erziehung, mangelnde Erziehungskompetenzen oder auch fehlende Kooperationsbereitschaft konfrontiert, obwohl sie im Hinblick auf ihr autistisches Kind selbst eine Expertenrolle innehaben. Um ihren Kindern eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, handhaben Eltern viele Dinge im Alltag bewusst 'anders' und geraten deshalb nicht selten in Erklärungs- und Rechtfertigungsnöte, werden als widerständig, wunderlich oder auch unbelehrbar wahrgenommen. Ihre alltäglichen Leistungen, persönlichen Ressourcen, individuellen Wünsche und Bedarfe geraten dabei jedoch in den Hintergrund. Dieses Buch bietet allen Beteiligten Erklärungsmodelle, um mehr Verständnis für die Eigenarten innerhalb dieser Familiensysteme zu erzeugen.

Judith Hack (Dipl. Sozialarbeiterin), 'aut.IN & Autismusbegleiterin' (Zentrum für Autismus-Kompetenz Simone Hatami, Hannover), Personal Coach (SGD Darmstadt), Heilpraktikerin (Psychotherapie; Institut für Kommunikation und Gesundheit Bad Homburg), Konfliktcoach (Odenwald-Institut der Karl Kübel Stiftung, Wald-Michelbach), Bewährungshelferin beim Landgericht Hanau.

Judith Hack (Dipl. Sozialarbeiterin), "aut.IN & Autismusbegleiterin" (Zentrum für Autismus-Kompetenz Simone Hatami, Hannover), Personal Coach (SGD Darmstadt), Heilpraktikerin (Psychotherapie; Institut für Kommunikation und Gesundheit Bad Homburg), Konfliktcoach (Odenwald-Institut der Karl Kübel Stiftung, Wald-Michelbach), Bewährungshelferin beim Landgericht Hanau.

2   Zur Situation nicht-autistischer Geschwisterkinder: »Wer kümmert sich um mich?«


Die Lebenssituation von Familien mit autistischen Kindern unterscheidet sich in vielen Punkten vom Alltag anderer Familien. Welche Rolle in diesem Kontext nicht-autistische Geschwisterkinder innehaben bzw. welche alltäglichen Herausforderungen an sie gestellt werden, soll in diesem Abschnitt näher betrachtet werden. Ob das Zusammenleben mit einem autistischen Kind für das betroffene Geschwisterkind entsprechende Entwicklungsrisiken oder gar Chancen mit sich bringt, ist dabei von verschiedenen Faktoren abhängig, wie beispielsweise dessen individuelle Eigenschaften, dem Schweregrad der Autismus-Spektrum-Störung des Geschwisterkindes, aber auch dem spezifischen Umgang ihrer Eltern mit der Situation (Schirmer, 2006).

Infolgedessen kann die veränderte Geschwisterrolle in manchen Phasen als Last, in anderen aber auch als individuelle Bereicherung erlebt werden. So haben Geschwisterkinder einerseits oftmals dem dauerhaft erhöhten (familiären) Stresspegel und der allgemein hohen psychischen und physischen Belastung aller Familienmitglieder standzuhalten, die unter anderem aus den speziellen Bedürfnissen und den individuellen Verhaltensbesonderheiten des autistischen Kindes resultieren. Auf der anderen Seite vermögen sie jedoch durch das Aufwachsen mit einem Geschwisterkind im Autismus-Spektrum häufig auch große soziale und emotionale Kompetenzen zu entwickeln, sind sehr selbstständig und verantwortungsbewusst und weisen dazu nach Grünzinger (2005) wesentlich mehr Toleranz, Belastbarkeit und Sensibilität für die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen auf.

Das Leben mit meinem autistischen Bruder ist manchmal sehr anstrengend und manchmal auch ganz schön.

Mein Bruder wiederholt im Alltag ständig Fragen und möchte ununterbrochen mit mir spielen. Er kann dann nicht verstehen oder akzeptieren, dass ich mal nicht möchte oder meine Ruhe haben will. Interessiert er sich für ein bestimmtes Thema, macht er wochenlang nichts anderes, was auf die Dauer ganz schön anstrengend sein kann. Er tut mir manchmal weh, auch wenn er es meist nicht mit Absicht macht. Außerdem steht er häufig im Mittelpunkt und braucht die Aufmerksamkeit und Unterstützung unserer Eltern oder anderer Menschen, so dass nicht mehr so viel Zeit für mich übrigbleibt. Wenn ich Freunde besuchen möchte, fühlt er sich oft benachteiligt, ausgeschlossen und schimpft andauernd. Manchmal wünschte ich mir dann, ich hätte einen »normalen« Bruder, obwohl ich ihn sehr lieb habe.

Aber mein Bruder hat auch gute Seiten. Er hilft mir zum Beispiel häufig bei meinen Aufgaben und ist immer für mich da. Er denkt sich spannende Geschichten oder Spiele aus und schreibt tolle Lieder. Manchmal darf ich ihm dabei auch helfen. Ich kann mit ihm quatschen und Blödsinn machen, muss aber immer aufpassen, dass es nicht eskaliert. Er versucht auch immer häufiger, sich auf meine Spielideen einzulassen, was ich ganz toll finde. Außerdem ist er sehr kreativ, ehrlich und lieb.

Manchmal tut mir mein Bruder auch leid, weil er sich häufig doofe Sprüche von anderen anhören muss oder einfach von Fremden angefasst oder zurechtgewiesen wird. Auch in der Schule hatte er es bis jetzt – im Gegensatz zu mir – nicht leicht und musste schon drei Mal die Schule wechseln. Darüber hinaus hat er nur wenige Freunde und wird beim Spielen häufig von anderen Kindern ausgeschlossen. Das macht mich traurig, weil ich sehe, dass er darunter leidet. Er lässt sich aber trotzdem nicht unterkriegen.

Ich bin deshalb sehr stolz auf meinen autistischen Bruder und würde ihn nicht hergeben wollen.

(Lilli, 9 Jahre)

Geschwister können für autistische Kinder und deren (sozialer) Entwicklung sehr wichtig sein, da sie oftmals die ersten Kinder darstellen, zu denen sie – neben den Eltern – eine Beziehung aufbauen und mit denen sie sich im Alltag (regelmäßig) arrangieren und auseinandersetzen müssen. Auch dienen ihnen Geschwisterkinder häufig als »Fixstern«, bei dem sie Schutz suchen und an den sie sich – insbesondere im Kontakt mit anderen Kindern – festhalten und orientieren können, um nicht den Halt zu verlieren. Geschwisterkinder vermögen dazu noch fehlende Freundschaften und Spielkameraden zu kompensieren und stellen damit häufig den einzigen sozialen Lernraum für das autistische Kind zur Verfügung, in dem es sich »gefahrlos« und vorurteilsfrei ausprobieren und weiterentwickeln kann.

Geschwisterkinder sind jedoch nicht nur Vertraute/r und Spielkamerad/in, sondern immer auch Konkurrent/in und Rival/in zugleich. Nach Schirmer (2006) geht es deshalb innerhalb der Geschwisterbeziehung auch immer um Durchsetzungsvermögen und Konkurrenzverhalten, um Identitätsfindung, Abgrenzung und Nähe, was im Zusammenhang mit autistischen Geschwisterkindern durchaus zu einer Herausforderung werden kann.

2.1        Geschwisterrivalität


Grundsätzlich gestalten sich Geschwisterbeziehungen im Familienalltag mitunter sehr konfliktreich, ein gewisses Maß an Rivalität und Konkurrenz erscheint damit völlig »normal«. In Familien mit autistischen Kindern können diese Aspekte jedoch für alle Beteiligten dauerhaft zu einer echten Belastungsprobe werden und erfordern insbesondere von Seiten der Eltern viel Kraft und Fingerspitzengefühl.

Die Rivalität und Eifersucht unter Geschwistern gehört zum normalen kindlichen Verhalten. Es ist die elterliche Gunst, um die Geschwister konkurrieren. Ein Kind mit Autismus-Spektrum-Störung benötigt aber nun einmal mehr Aufmerksamkeit und Pflege seitens der Eltern. Es ist oftmals nicht leicht für die anderen Kinder der Familie, akzeptieren zu müssen, dass ihr Geschwister mehr Zuwendung von den Eltern erhält. Einige Kinder fühlen sich zurückgesetzt und haben den Eindruck, weniger beachtet und geliebt zu werden. (Schirmer, 2006, S. 239)

Da das autistische Kind im Familienalltag in der Regel mehr Zuwendung, Aufmerksamkeit und Unterstützung vonseiten der Eltern benötigt und dazu noch mehr Rücksicht von allen Beteiligten abverlangt, kann es auf Seiten des betroffenen Geschwisterkindes zu emotionaler Verunsicherung, Eifersucht, Neid und Konkurrenzkämpfen kommen. Eltern sollten diese Gefühle ihres Kindes ernstnehmen, sie keinesfalls unterbinden, sondern vielmehr versuchen, diese adäquat aufzufangen, zu thematisieren und möglichst zu kompensieren. Wie alle Menschen haben auch nicht-autistische Geschwisterkinder das Bedürfnis, von den Eltern als Familienmitglied geachtet, respektiert, wahrgenommen sowie für ihre alltäglichen Leistungen und Erfolge, ihren Charakter und ihre Gefühle anerkannt und wertgeschätzt zu werden. Trotz begrenzter Ressourcen ihrer Eltern möchten auch sie gelegentlich im Mittelpunkt stehen und die Gewissheit haben, genauso geliebt zu werden, wie das autistische Geschwisterkind. Ferner benötigen sie von ihren Eltern einen Raum, in dem ihnen beispielsweise Fragen zu der Beeinträchtigung ihres Geschwisters altersgemäß beantwortet und Erklärungsmodelle für individuelle Verhaltensbesonderheiten angeboten werden.

Auch mögliche Spezialinteressen des autistischen Kindes vermögen innerhalb des Familienalltags zumindest zeitweise viel Raum einzunehmen und damit die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu ziehen. Hierbei rücken häufig in erster Linie die Vorteile derselben für Eltern in den Vordergrund, da eine intensive Beschäftigung mit diesen auch das individuelle Stresslevel und die Verhaltensbesonderheiten des autistischen Kindes reduzieren kann, was wiederum längerfristig das gesamte Familiensystem entlastet. Dennoch kann dieses intensive Interesse der Eltern auf Seiten der Geschwisterkinder wiederum zu Neid und Eifersucht führen, da die eigenen Interessen und Hobbys nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhalten. Nicht-autistische Geschwisterkinder konkurrieren infolgedessen auch immer um die begrenzten zeitlichen Ressourcen ihrer Eltern, müssen jedoch wiederholt erfahren und akzeptieren, dass sie diesen Kampf in der Regel kaum gewinnen können.

Neben dem Konkurrieren um die Gunst der Eltern entstehen die Rivalitäten jedoch vermehrt auch innerhalb der Geschwisterbeziehungen. So ist es beispielsweise insbesondere für jüngere Kinder oftmals schwer, wenn sie ihr autistisches Geschwisterkind in ihren Fähigkeiten »überholen«. Gerade in diesen Momenten vermögen sich autistische Kinder äußerst defizitär fühlen, verhalten sich ihren Geschwisterkindern gegenüber aus Frust vermehrt »unangemessen« und schaffen es in der Regel nicht, diese für ihre individuellen Erfolge wertzuschätzen oder deren Hilfestellungen anzunehmen. Für die betroffenen...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2023
Zusatzinfo 5 Abb., 3 Tab.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Autismus-Spektrum • Autismus-Spektrum-Störung • autistische Kinder • Elternarbeit • Inklusion
ISBN-10 3-17-042108-5 / 3170421085
ISBN-13 978-3-17-042108-0 / 9783170421080
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