Varianz – die Nibelungenfragmente (eBook)
376 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-098316-6 (ISBN)
Jan-Dirk Müller, Ludwig-Maximilians-Universität München, Deutschland.
1 Die Ausgangslage
Abschied von Original und Archetyp
Ein Buch über die Nibelungenfragmente? Das scheint eine der letzten Nischen im sonst überforschten Bereich der Nibelungenphilologie zu sein. Die Auseinandersetzung mit den Fragmenten war lange Zeit auf punktuelle Einzeluntersuchungen beschränkt und ist erst jetzt durch das Erscheinen von Walter Koflers Ausgabe der Nibelungenfragmente in größerem Maßstab möglich geworden. Aber nicht die günstigen äußeren Umstände sind der Anlass, sondern ein Forschungsdesiderat, dessen Hindernisse jetzt endlich beseitigt sind. Es gilt nicht, einen der letzten claims der Nibelungenforschung zu sichern, sondern eine Quellengattung zu erschließen, die die Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes verändern könnte. Die Fragmente zu erforschen, war ein lange gehegtes Lieblingsprojekt, das zunächst in die Vorbereitung einer Edition der Fragmente mündete – der Kofler mit seiner Ausgabe zuvorgekommen ist –, das dann als zweiten Schritt die Untersuchung der Bedeutung der Fragmente für die Überlieferungsgeschichte und die Poetik des Nibelungenliedes vorsah. Dieser zweite Schritt wurde dann das Hauptanliegen.
Der Blick auf die Fragmente lässt viele Urteile über die Überlieferung als revisionsbedürftig erscheinen. Die Überlieferungsgeschichte war zweihundert Jahre auf die drei ältesten vollständigen Handschriften A, B und C fixiert, auf ihr Verhältnis zueinander und ihre Bedeutung für ‚den‘ Text des Nibelungenliedes. Die Forschung ist zu einem gewissen Abschluss in der Bewertung des Verhältnisses von not- und liet-Fassungen gekommen, von ihrem ursprünglichen Ziel, zum ‚Original‘-Text des Nibelungenliedes oder wenigstens dem ‚Archetyp‘ zu gelangen, aber weiter entfernt als zuvor. Es hat den Anschein, als seien die Möglichkeiten, weiterzukommen, ausgereizt. Deshalb soll hier versucht werden, die Überlieferung des Nibelungenliedes, aus anderer Perspektive, gewissermaßen ‚von unten‘ zu betrachten, nicht von den vollständigen ‚Haupthandschriften‘ her, die 200 Jahre lang im Zentrum der Diskussion standen und um die sämtliche Konstruktionen und Spekulationen über Entstehung, Entwicklung und Rezeption des Textes kreisten, sondern von der konkreten Gestalt des handschriftlich Überlieferten in seiner ganzen Breite, also unter Einbeziehung der Fragmente, die in Teilen ebenso alt, vielleicht sogar älter als die Haupthandschriften sind, die aber immer nur im Blick auf diese Beachtung fanden. Dabei bezeugen erst die Fragmente die Besonderheit der Nibelungenüberlieferung.
Das Ziel dieses Buches ist, durch Untersuchung der Fragmente Zugang zu einer literarischen Praxis und einer mit ihr verbundenen Poetologie zu finden, die uns nur noch in Umrissen bekannt sind und die sehr weit von der literarischen Praxis und Poetologie entfernt sind, die seit der Durchsetzung von Schriftlichkeit dominiert. Diese prägt seitdem die literaturwissenschaftliche Theoriebildung, angefangen von Textkritik und Editionswissenschaft. Deshalb wird zunächst ein Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit der traditionellen Editionsphilologie liegen, doch zielt das Buch darüber hinaus: auf die Rekonstruktion der Poetik eines Epos, das aus einer andersartigen literarischen Praxis hervorgeht, einer Praxis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind dabei keine kontradiktorischen Gegensätze, sondern durchdringen sich gegenseitig. Die Textualität des Nibelungenliedes ist – so die These – nicht zu verstehen, wenn man von der modernen Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ausgeht.
Das Buch kann auf einer 200-jährigen Nibelungen-Philologie aufbauen. Manche Untersuchungen, die an sie anschließen – etwa die von Brackert, Bumke, Heinzle und Haferland –, kommen in die Nähe der hier vorgetragenen Thesen. In Abgrenzung von ihnen wird es aber notwendig sein, einige der nie problematisierten Annahmen der Nibelungen-Philologie in Frage zu stellen. Die folgenträchtigste ist, dass es eine ‚originale‘ Gestalt des Epos gegeben hat, die für die nachfolgende Gestalt des Epos verbindlich war und auf die, vermittelt durch den Archetyp, die gesamte Überlieferung zurückgeht. Die Überlegungen Pauls, Zarnckes, Wackernagels, Zwierzinas, Bartschs, Michels’ usw., die auf dieser Annahme beruhen, müssen deshalb vorläufig suspendiert werden. Sie bleiben letztlich abhängig vom überlieferungsgeschichtlichen Modell der Nibelungen-Philologie seit Lachmann, das die überlieferten Textgestalten aus der schriftlichen Transmission eines ursprünglichen Textes ableitet und auf ihn zurückbeziehen will, wenn sich auch die Versuche der Einlösung dieses Vorhabens sehr unterscheiden. Dieses Ziel gilt nach Brackerts Kritik1 an den Versuchen, die ursprüngliche Gestalt des Nibelungenliedes zu rekonstruieren, als unerreichbar. Auch die Kritiker der älteren Editionsphilologie ziehen jedoch noch nicht die Konsequenz, die Prämisse, dass es einen solchen ‚Urtext‘ gegeben hat, zu hinterfragen.
Die hier vorgeschlagene Gegenthese lautet: Das Nibelungenlied ist von Anfang an in varianter Form überliefert. Das ist eine weitgehende Behauptung, die der bisherigen Nibelungen-Forschung widerspricht. Sie kann sich jedoch auf einen Vorläufer berufen: Joachim Bumkes Arbeit zu den ‚vier Fassungen der Nibelungenklage‘.2 Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind freilich nicht einfach auf das Epos übertragbar, weil die Voraussetzungen bei der ‚Klage‘, wie noch näher auszuführen, gänzlich andere sind und sich auch Bumkes Varianz-Begriff als revisionsbedürftig erweisen wird. Trotzdem ermutigt Bumkes Untersuchung dazu, ein paralleles Unternehmen in Bezug auf das Epos in Angriff zu nehmen.
Die These von der anfänglichen Varianz des Nibelungenliedes hat nichts zu tun mit der im 19. Jahrhundert auch erwogenen These, dass das Nibelungenlied ein unfestes Konglomerat jahrhundertealter, mehr oder minder schlecht verleimter Erzähltraditionen ist, vielleicht sogar auf kürzere Erzähllieder (Liedertheorie) zurückgeht. Karl Lachmann hatte noch diesem Modell zugeneigt; die nachfolgende Forschung hatte es, von stoffgeschichtlichen Überlegungen abgesehen, verworfen. Hinter diese Position darf man nicht zurückfallen. Vielmehr soll der eigenartige Status des Nibelungenliedes herausgearbeitet werden, das auf der einen Seite in der gesamten Überlieferung eine feste Architektur hat, die sich klar von der Tradition absetzt, das aber auf der anderen vor dem Hintergrund dieser festen Architektur eine exzessive Lizenz zur Varianz aufweist. Diese Polarität ergibt sich aus der Übergangssituation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit.
Die Untersuchung stellt das bisherige Ziel der Nibelungenphilologie in Frage, das Karl Lachmann am Anfang der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Text so umschrieben hatte: Man müsse „aus einer hinreichenden Menge von guten Handschriften einen allen diesen zum Grunde liegenden Text darstellen, der entweder der ursprüngliche selbst seyn oder ihm doch sehr nahe kommen muss“.3 Seit Lachmanns Zeit war über die Wege, die zu diesem Ziel führen könnten, viel gestritten worden, doch es stand unverrückbar fest: möglichst bis in die Nähe des Originals, dann – in Revision des ursprünglichen Ziels – des Archetyps vorzudringen und, nachdem sich auch dies als unmöglich erwiesen hatte, möglichst viel von der ursprünglichen Gestalt des Epos zu retten. Ihm stellt das Buch die These entgegen, dass das Nibelungenlied von dem Augenblick an, in dem es im Medium der Schrift auftaucht, variant ist. Dies wird durch die Fragmente nahegelegt, die in ganz anderem Umfang als die bisher vor allem untersuchten ‚Haupthandschriften‘ variant sind.
Braune (1900) hatte die Handschriftenverhältnisse geordnet und ein Stemma der gesamten Nibelungenüberlieferung entworfen, in dem jede Handschrift ihren Platz in ihrer Abhängigkeit vom Archetyp fand. In der Form, die in Hs. B bezeugt war, glaubte er die beste und dem Archetyp nächste identifizieren zu können.4 Braunes Ergebnisse erhielten nahezu kanonische Geltung; sie wurden zwar in einigen Punkten ergänzt, korrigiert und modifiziert,5 aber galten lange Zeit als Forschungsstand.6 Das Gewicht der einzelnen Variante in der Überlieferung bemaß sich daran, welchen Platz die jeweilige Handschrift im Stemma einnahm und mit welcher Veränderung des ursprünglichen Wortlauts man folglich rechnen musste. Die Varianten waren Zeugen unterschiedlich weit fortgeschrittener Textveränderung, die in der Regel als Textverderbnis aufgefasst wurde.
Mit Erscheinen von Brackerts Handschriftenkritik (1963) wurde diese Sicherheit nachhaltig erschüttert. Die Voraussetzungen für den Umgang mit der Varianz der Überlieferung haben sich seitdem fundamental geändert. Brackert wies Braunes Beweisführung für sein Stemma in vielen Einzelheiten als unzureichend nach, sodass auch die privilegierte Stellung der Handschrift B als archetypnächste Handschrift des Nibelungenliedes nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt werden konnte. Es war nicht mehr möglich, die Varianz der Überlieferung an B zu messen und von ihr aus zu beurteilen. Als Brackert das Gebäude der Überlieferungsgeschichte Braunes mit Hs. B an der Spitze zum Einsturz brachte, da wurde der „Donnerschlag“, der die Nibelungenphilologie erschütterte, zwar erkannt,7 aber darüber, dass damit nicht nur B entthront war, sondern Brackert die Grundlagen...
Erscheint lt. Verlag | 4.7.2023 |
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Reihe/Serie | Deutsche Literatur. Studien und Quellen |
Deutsche Literatur. Studien und Quellen | |
ISSN | ISSN |
Zusatzinfo | 16 b/w ill. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Germanistik |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft | |
Schlagworte | Erzählforschung • Heldenepos • Heroic Epic • literalness • narration studies • Nibelungenlied • Schriftlichkeit |
ISBN-10 | 3-11-098316-8 / 3110983168 |
ISBN-13 | 978-3-11-098316-6 / 9783110983166 |
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