Das deutsche Pfarrhaus (eBook)
368 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3387-5 (ISBN)
Eine Pfarrerstochter war Kanzlerin, ein ehemaliger Pfarrer Bundespräsident. Zufall? Seit Martin Luther den Zölibat verwarf, stieg das deutsche Pfarrhaus zum Paradigma christlichen Zusammenlebens auf. Als Hort der Bildung und Bollwerk gegen säkularen Sinnverlust wurde es auch gesellschaftlich relevant: religiöses Biotop und politischer Gegenentwurf, bürgerliche Enklave und antibürgerlicher Kampfschauplatz. Und nicht zuletzt Heimat so unterschiedlicher Pfarrerskinder wie Albert Schweitzer, Friedrich Nietzsche oder Gudrun Ensslin.
Die Geschichte des deutschen Pfarrhauses erzählt von einem geistigen Reizklima mit hohem Wertepotenzial. Glaube, Liebe, Hoffnung, aber auch Kritik, Einspruch und Radikalität das sind offenbar wieder attraktive Optionen in Zeiten des unverbindlichen Pragmatismus.
Dieses Buch ist ein Streifzug durch die Welt des Pfarrhauses, in dem Dichter wie Lessing und Hesse aufwuchsen, in dem die Künste und die Wissenschaft zu Hause waren und das in der jüngeren Geschichte seine Eigenständigkeit bewies, als es in der DDR zum Schutzraum der Opposition wurde. Zu Wort kommen auch Pfarrer und Pfarrerskinder, die aus dem Kosmos des Pfarrhauses berichten und deutlich machen: Es wird nie ein Haus wie jedes andere sein.
Christine Eichel studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft und wurde mit einer Arbeit über Theodor W. Adorno promoviert. Sie war Fernsehregisseurin, Gastprofessorin der UdK Berlin und leitete die Kulturressorts der Magazine Cicero und Focus. Sie lebt als Autorin, Moderatorin und Publizistin in Berlin, hat zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht und legt hier den Spannungsroman der Saison vor.
Einleitung
Kein Haus wie jedes andere
Eine Pfarrerstochter ist Kanzlerin, ein ehemaliger Pfarrer Bundespräsident. Nichts weiter als ein Zufall?
Immerhin zeigte die Nachfolgediskussion um das Amt des Bundespräsidenten Anfang 2012 eine eigentümliche Symptomatik. Neben Joachim Gauck waren unter anderem die ehemalige Ratspräsidentin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Margot Käßmann und Altbischof Wolfgang Huber im Gespräch gewesen. Alle drei hatten ein Amt ausgeübt, das man mit einem schönen, altmodischen Begriff als Seelsorger bezeichnet. Und noch ein weiterer Name wurde genannt: Katrin Göring-Eckardt, Politikerin, Theologin und Präses der EKD-Synode. Diesem Quartett traute man zu, gleich ein ganzes Land zu vertreten – glaubensgefestigte Antworten auf den Bankrott politischer Moral, für den der gestrauchelte Präsident Wulff stand.
Woher kam dieser Vertrauensvorschuss? War es die freundliche Unterstellung ethischer Integrität aus dem Geist von Hausmusik und Tischgebet? Sind evangelische Pfarrhäuser die letzten Kaderschmieden für Ämter mit höchstem Symbolwert und moralischer Leuchtturmfunktion?
»Zukunft braucht Herkunft«, diese These Odo Marquards wurde offenbar wörtlich genommen. Bezieht man sie im engeren Sinne auf das Herkunftsmilieu, so wirkt sie wie ein Einspruch gegen das Wort von der durchlässigen Gesellschaft. Das Pfarrhaus erscheint demgegenüber wie ein Gütesiegel in einem politischen Klima, in dem mancher auffallend geschmeidig seine Prinzipien auswechselt. Oder gar nicht erst welche hat.
Pfarrer und kirchliche Würdenträger, das wissen wir nicht erst seit Margot Käßmanns Rücktritt als Landesbischöfin und Ratsvorsitzende der EKD, sind alles andere als unfehlbar. Offenbar stehen sie jedoch für eine christliche Ethik, die über Korrumpierbarkeiten erhaben ist. Der Kontrast zwischen dem aufrechten Rücktritt Margot Käßmanns und den zähen Rückzugsgefechten Christian Wulffs hätte größer nicht sein können. Luther schrieb einst, Anfechtungen seien Umarmungen Gottes. Margot Käßmann ließ sich umarmen und ging aus einer Niederlage siegreich hervor. Christian Wulff dagegen bestritt jede Anfechtung und lavierte sich damit auf die Position des Verlierers. Er fiel tief, verlor nicht nur sein Amt, sondern auch seine Reputation. Margot Käßmann dagegen konnte verkünden: »Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand.«
Worin aber besteht über solche Haltungsnoten hinaus das Faszinosum des Pfarrhauses? Sicherlich schwingt als Oberton dessen Weltbeglückungspathos mit, die Überzeugung, ein Beispiel geben und ausstrahlen zu können, ja zu müssen. »Ein feste Burg ist unser Gott«, dichtete Martin Luther. Solche Zeilen prägen. Bewohner von Pfarrhäusern wirken denn auch zuweilen wie Felsen in der Brandung, glaubwürdiger als Berufspolitiker. So jedenfalls muss die unausgesprochene Annahme gelautet haben, als Namen wie Gauck, Käßmann, Huber und Göring-Eckardt aus dem Hut gezogen wurden. Und mit ihnen die Hoffnung auf politisch-moralische Erneuerung aus dem Geiste des Pfarrhauses.
Diese Politisierung ist relativ neu. Von jeher traute man dem Pfarrhaus zu, eine ethische Gegenwelt zu repräsentieren. Zur Ressource des politischen Personals wurde es jedoch erst nach der friedlichen Revolution 1989. Pfarrer wie Markus Meckel und Rainer Eppelmann, die sich in der DDR-Opposition engagiert hatten, galten auch nach der Wende als politische Hoffnungsträger. Joachim Gauck, der sich erst spät öffentlich gegen die DDR-Führung gestellt hatte, wurde zu einem Wortführer des Neuen Forums.
So schien es nur konsequent, dass einige Pfarrer ganz auf das Terrain des Berufspolitikers wechselten. Die erste Volkskammer, die 1990 aus freien Wahlen hervorging, nannte man »Pastoren-Parlament« – mit einunddreißig evangelischen Theologen. Im ersten gesamtdeutschen Bundestag waren zwölf Theologen vertreten. Acht stammten aus dem Osten Deutschlands, unter ihnen Richard Schröder, Markus Meckel und Rainer Eppelmann. Mit Pastorentochter Angela Merkel und dem ehemaligen Pfarrer Joachim Gauck erhielt diese Tendenz ihre prominentesten Vertreter.
Das ist neu, denn Glaube und Macht waren nach Luther’schem Verständnis getrennte Sphären. Der Theologe Karl Barth hat diese Grenzziehung als »Lehre von den zwei Reichen« bezeichnet, die letztlich eine politische Einmischung von Christen untersagte. Die Konsequenz war sichtbar als Allianz zwischen Thron und Altar: Loyalität zur Obrigkeit, Solidarität mit den Mühseligen und Beladenen. Macht beanspruchte das Pfarrhaus nicht. Es verstand sich als Ort der Barmherzigkeit, nicht als Taktgeber für politische Veränderungen. So groß sein geistesgeschichtlicher Einfluss auch war, besonders in der Epoche der Aufklärung, von Macht konnte nur indirekt gesprochen werden. Jetzt aber scheint es, als ob das Pfarrhaus als gesellschaftlicher Faktor auch die Sphäre der Macht nicht scheut.
Solche politischen Tangenten des Pfarrhauses werfen ein Schlaglicht auf eine Institution, die keinen offiziellen Charakter, aber immer noch eine große Anziehungskraft besitzt. Der Grund dafür ist unmittelbar in Luthers Hinwendung zum Irdischen zu suchen. Das evangelische Pfarrhaus steht qua definitionem mitten im Leben, verlagert also das Göttliche ins Weltliche und erhebt den Anspruch, sich genau daran zu bewähren. Der evangelische Pfarrer wird nicht nur an dem gemessen, was er glaubt, sondern vor allem daran, wie er handelt – frei nach Martin Luthers Vorgabe, das gesamte Leben solle ein Gottesdienst sein.
Die theologisch begründete »Vergeistlichung« der Welt, wie der Politikwissenschaftler Martin Greiffenhagen sie nennt, reicht weit in die Privatsphäre hinein. Seit Reformator Luther den Zölibat verwarf, stieg das Pfarrhaus zum Paradigma christlichen Zusammenlebens auf. Das Familienleben wurde öffentlich, das Private sichtbar – und musste der Beobachtung durch die Gemeinde standhalten. Keine leichte Aufgabe, erliegen doch auch ein Pfarrer und seine Familie dem Allzumenschlichen. Dennoch wird von ihnen erwartet, dass sie Gelungenheit vorleben, auch und gerade wenn sie Krisen durchmachen. Pfarrer und ihre Familien befinden sich permanent im Praxistest. Scheitern sie, dokumentieren sie damit – von außen betrachtet – die Ermüdungsbrüche ihres Glaubens. Kein Wunder, dass sich starke innere Instanzen ausbilden.
Dass man überhaupt so genau hinsieht, hat vermutlich mit einer Sehnsucht nach Leitbildern zu tun. Ob das Pfarrhaus sie liefern kann, steht auf einem anderen Blatt. Doch in Zeiten metaphysischer Obdachlosigkeit fasziniert es offenbar, wenn sich Menschen zu einer Lebensform bekennen, die auf »Höherem« beruht. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Anachronismus in der Vernunftkultur, ist doch die Vernunft »das größte Hindernis für den Glauben, weil alles Göttliche ihr absurd scheint«, so Luther. Das rationale Zeitalter wurde daher eines der systematischen Glaubensenteignung. Dafür gab es gute Gründe, die nicht zuletzt die Philosophie der Aufklärung formulierte. Die Alternative hieß blinder Glaube oder abgesichertes Wissen – daher wirkte das »sapere aude«, Kants »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«, als Befreiungsschlag.
Auch hier gilt allerdings die Dialektik der Aufklärung, wie sie Adorno und Horkheimer beschrieben: Die Dekonstruktion von Ideologien durch die Vernunft schlage leicht um in die Bereitschaft, sich neuerlichen Glaubenssätzen auszuliefern. Das Vakuum, das mit der Diskreditierung des religiösen Glaubens einherging, wurde deshalb mit dem Glauben an den Fortschritt gefüllt, mit der Aussicht »auf Unterwerfung der Natur und auf materiellen Überfluss, auf das größtmögliche Glück und auf uneingeschränkte persönliche Freiheit«, wie Erich Fromm aufzählt.
Bekanntlich haben sich diese Hoffnungen nicht erfüllt. Und mehr noch, es kam zu massiven Sinnverwerfungen. Vor diesem Hintergrund erscheint das Pfarrhaus wie eine Projektionsfläche für den gestiegenen Orientierungsbedarf. Zu Recht?
Dieses Buch ist eine Annäherung an den Mythos des deutschen Pfarrhauses. Wie bei jedem Mythos, der besichtigt wird, kommt es dabei auch zu Entzauberungen. Der Anspruch gelebten Christentums, das bis ins Familienleben hinein Vorbildcharakter haben soll, ist zugleich eine Steilvorlage für Widersprüche und Überdehnungen. Gerade das aber machte das evangelische Pfarrhaus zu einem kulturellen Katalysator, der über die Jahrhunderte hinweg bis heute spürbar ist. Es hat immer wieder divergierende Tendenzen in sich vereinigt – und bewies gerade damit seine gesellschaftliche Relevanz. Es ist kein homogenes Gebilde, sondern konnte und kann vielerlei sein: Insel der Frömmigkeit und Geburtsstätte des Zweifels, Arena des Disputs und Schauplatz von Harmoniezwang, bürgerliche Enklave und antibürgerlicher Reflex.
Diese Mehrdeutigkeit ist nicht zuletzt an den Pfarrerskindern abzulesen. Ihr Erbe ist ambivalent, mündet wahlweise in Engagement, Überforderung oder Rebellion. Der Schriftsteller und Pfarrerssohn Benjamin von Stuckrad-Barre sagte mir einmal: »Als Pfarrerskind wird man entweder Terrorist oder Kanzlerin. Schriftsteller liegt vermutlich irgendwo dazwischen.«
Wohl kaum würde man auf den ersten Blick erraten, was sie verbindet, diese Dichter und Denker, Künstler und Politiker: Michael Praetorius, Andreas Gryphius, Georg Philipp Telemann, Johann Christoph Gottsched, Gotthold Ephraim Lessing, Christoph Martin Wieland, Matthias Claudius, Georg Christoph Lichtenberg, Gottfried August Bürger, Jean Paul, die Gebrüder Schlegel, Friedrich Schleiermacher, Friedrich Ludwig Jahn, Karl Friedrich Schinkel, Jacob...
Erscheint lt. Verlag | 1.7.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Christentum |
Schlagworte | Christentum • Ethik • Glaube • Kirche • Kirchengeschichte • Macht • Religionssoziologie • Sozialgeschichte |
ISBN-10 | 3-8412-3387-2 / 3841233872 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3387-5 / 9783841233875 |
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Größe: 834 KB
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