Unterdrückung durch Beglückung (eBook)
314 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4375-1 (ISBN)
TEIL I
DAS ÖKONOMISCHE MODELL
6. Kulturkrise?
Webers und Schmitts Definitionen der Politik bezeugen eine Erschütterung traditioneller Werte, die zu dem gehört, was noch heute als Krise der westlichen Zivilisation gilt. Man redet gern von einer Krise der westlichen Zivilisation, doch gab es je eine Zeit, die nicht krisenverdächtig war? Mag unsre Zeit auch uneins sein über Kriterien der Wahrheit, der Gerechtigkeit und sonstiger normativer Orientierungen, ist das nicht eher ein Zeichen weiser Toleranz als ein Krisensymptom? Zwar können wir auf diese Frage angesichts der politischen Uneinigkeit in der Lösung aktueller Weltprobleme kein schlichtes Ja erwarten. Trotzdem ist der Verdacht, die Rede von einer Krise unsrer Zeit erkläre sich aus dem Bedürfnis der Medien nach Sensationen, nicht unbegründet. Denn Dürren, Überschwemmungen, Flüchtlingsströme und ihre Abwehr allein belegen noch keine Krise der westlichen Zivilisation.
Um die Wende zum 20. Jahrhundert standen jedoch Wissenschaftler und Philosophen vor Entdeckungen in der Logik, Mathematik und Physik, die mit überlieferten Ideen und Maßstäben unvereinbar waren. Schon weit zurück im 19. Jahrhundert hatten zwar Marx und Nietzsche an den Grundfesten der bürgerlichen Ordnung gerüttelt, und ihre Kritik hatte eine Parallele im Aufstand der Impressionisten gegen die Grundregeln der europäischen Malerei gefunden, der die Kritik der Philosophen zu einem Element in einer allgemeineren Rebellion machte. Aber Philosophen und Künstler waren schon immer Rebellen gewesen; die Naturwissenschaften, seit Galilei und Newton die geistigen Führer der Neuzeit, blieben unerschüttert.
Allerdings hatte schon 1826 Nikolai Lobatschewski, und etwa gleichzeitig unabhängig von ihm Janos Bolyai, gezeigt, dass das Modell eines Systems unerschütterlich wahrer Erkenntnisse, Euklids Geometrie, die auch die Physiker als Modell für ihre Theorien anerkannten, durch Geometrien ohne Euklids Parallelenaxiom ersetzt werden konnte. Das Parallelenaxiom besagt, unmathematisch formuliert, dass Parallelen sich im Unendlichen schneiden, verlangt jedoch in der Mathematik umständliche Formulierungen, die schon Archimedes (287–212), vielleicht noch Euklids Zeitgenosse, ersetzen wollte. Trotzdem wurde Euklids Unterscheidung zwischen Axiomen und aus ihnen ableitbaren Theoremen oder Lehrsätzen einerseits und unableitbaren Annahmen anderseits zum Modell der Unterscheidung von Wissen und Glauben. Man glaubte, die Grundlagen des Wissens einer nichtempirischen Wissenschaft in Form einiger selbstevidenter, des Beweises weder fähiger noch bedürftiger Axiome herausheben und durch die logische Ableitung der Theoreme zeigen zu können, dass und warum diese wahr sind.
Ebenso sollte einmal auch das Wissen der empirischen Wissenschaften zum einen durch Axiome, die unsere Erfahrung als unerschütterlich bestätigt hätte, und zum anderen durch Theoreme darstellbar sein. Newtons Gesetze hießen daher auch Newtons Axiome. Empirische Axiome anzunehmen ist jedoch widersprüchlich, da sie nicht unbegründet, sondern durch Erfahrung begründet sind. So kam es zwar aus der Mode, von Newtons Axiomen zu sprechen. Die Auszeichnung von Axiomen und Lehrsätzen entsprang jedoch der Erwartung, man könne scharf zwischen Wissen und Glauben unterscheiden: Axiome und Lehrsätze sind Wissen; was wir glauben möchten, aber weder Axiom noch aus Axiomen ableitbar ist, ist Glaube.
Diese Erwartung wurde erschüttert, als sich Euklids Parallelenaxiom als verzicht- und ersetzbar erwies. Wenn sogar in der Geometrie das vermeintlich Selbstevidente ersetzbar ist, scheint es nur selbstevident. Dann ist der Unterschied zwischen Wissen, das auf unfehlbarer Erkenntnis des Selbstevidenten beruht, und Glauben, dem solche unfehlbare Erkenntnis fehlt, nicht aufrechtzuerhalten. Wie kann es da überhaupt noch Wissen geben? Das Weltbild und Selbstbild des wissensstolzen Westens zeigte Risse.
Zwei Generationen später verschwamm sogar die Grenze zwischen Sinn und Unsinn, zwischen Zeichen, die Sinn und Bedeutung haben, und Zeichen, die sie nur zu haben scheinen. Auch wenn wir nicht genau zwischen Wissen und Glauben unterscheiden können, nehmen wir doch an, dass wir wissen, welche Zeichen und Worte Sinn und Bedeutung haben. Wenn wir nicht einmal mehr Sinn von Unsinn verlässlich unterscheiden können, enden wir dann nicht im Wahnsinn? Kann es eine tiefere Erschütterung eines Welt- und Selbstbilds geben?
Bertrand Russell entdeckte einen Widerspruch in Gottlob Freges Ableitung der Mathematik aus Axiomen der Logik, die das unerschütterliche Fundament mathematischen Wissens in der Logik beweisen sollte (Russell, 1903, § 1.00). Der Widerspruch – kurz vor ihm entdeckt von Ernst Zermelo und Georg Cantor, doch nicht veröffentlicht (Rang 1981; Purkert, 1985) – ist als Russell-Antinomie bekannt und als Barbier-Paradox populär geworden. Eine Klasse K wie die der Barbiere, die alle und nur die rasieren, die sich nicht selbst rasieren, darf nach Freges Logik gebildet werden, stellt aber ein Paradox dar (Russell 1918, 1986: 228). Denn auch jeder dieser Barbiere rasiert sich entweder selbst oder nicht. Rasiert er sich selbst, gehört er nicht zu den Leuten, die sich nicht selbst rasieren, also nicht zur Klasse K; rasiert er sich nicht, dann rasiert er nicht alle, die sich nicht selbst rasieren. In beiden Fällen kann er nicht der Klasse K angehören; K ist notwendig leer. Dasselbe gilt für die Klasse der Kataloge, die alle und nur die Kataloge katalogisieren, die sich nicht selbst katalogisieren, und allgemein für die Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst als Element enthalten. Eine Klasse aber, die man bilden darf, sollte nicht notwendig leer sein; man sollte sich darauf verlassen können, dass sie richtig gebildet und sinnvoll ist.
Freges Logik konnte dieser Erwartung nicht genügen. Der selbstwidersprüchliche Begriff, den sie zuließ, konnte zwar ausgemerzt werden, aber wer konnte garantieren, dass nicht auch in der geflickten Logik wieder ein Fehler entdeckt werden würde? Die Logik hatte ihren Sündenfall erlebt. Verloren ging der Glaube, durch logische Regeln jeden missverständlichen oder unklaren sprachlichen Ausdruck zu verhindern und scharf zwischen Sinn und Unsinn unterscheiden zu können. Allerdings hätte Russells Paradox in andren Zeiten kaum beunruhigt. Es bewies nur, dass die Grenze zwischen Sinn und Unsinn nicht scharf ist. Doch die wenigsten Unterscheidungen haben eine scharfe Grenze. Zwischen Tag und Nacht liegt die Dämmerung, und trotzdem ist der Unterschied von Tag und Nacht sprichwörtlich. Die unscharfe Grenze zwischen Sinn und Unsinn beunruhigte, weil man geglaubt hatte, Logik und Mathematik würden Unschärfen ausschließen können.
Die Unschärfe beunruhigte auch, weil die nichteuklidischen Geometrien die Grenze zwischen Wissen und Glauben neu zu ziehen verlangten und nach der Entdeckung von Russells Paradox Entdeckungen die Physik erschütterten, die das Bild der Natur neu zu zeichnen verlangten. Sie führten zu Einsteins Relativitätstheorie und zur Quantentheorie, die unglaubliche Fakten über das Verhalten der Elemente der Natur annahmen, die Prinzipien der Kausaldetermination fraglich und die Physiker ratlos machten.
Die Erschütterungen in Geometrie, Logik und Physik schienen den Zeitgenossen eine Bestätigung der vageren, aber deswegen nicht weniger beunruhigenden Zweifel der Rebellen des 19. Jahrhunderts. Deren Zweifel betrafen die Gesamtheit der europäischen Kultur, nicht nur ihre deskriptiven, sondern auch ihre normativen praktischen, politischen, ästhetischen, religiösen und metaphysischen Grundlagen. Nun traten zu diesen Zweifeln ausgerechnet Zweifel an Dingen, die als unerschütterlich galten, an der Unterscheidung von Wissen und Glauben und Sinn und Unsinn und an der Kausaldetermination alles Geschehens. Der erste und der ihn fortsetzende zweite Weltkrieg waren das Tüpfelchen auf dem i des Beweises, dass etwas faul war in Europa.
Die Philosophen des 19. Jahrhunderts hatten über Gründe des von ihnen behaupteten Verfalls spekuliert, die auch noch das 20. Jahrhundert beeindruckten. Der Hegelschüler Marx fand sie in Vorurteilen der herrschenden ökonomischen Klasse der Bourgeoisie, der Hegelkritiker Schopenhauer und sein Schüler Nietzsche in ihrer Machtmetaphysik, nach der die Wirklichkeit das Ergebnis eines blinden Machtwillens ist. Sosehr diese Spekulationen auseinandergingen, stimmten sie in einer Anklage überein: Europas Zivilisation vertraue nicht dem Zeugnis der Sinne. Der philosophische Glaube an ein Zeugnis der Sinne, dem jede philosophische Aussage genügen müsse, blieb ein Leitstern der Philosophie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Doch er leitete die Philosophen in die Irre.
In Nietzsches Götzendämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophirt (1889, 1954: 957) ist es »das andre Philosophen-Volk«, das anders als Heraklit »das Zeugnis der Sinne verwarf«. Marx nahm die Berufung auf das Zeugnis der Sinne gegen das »Philosophen-Volk« vorweg, als er dem »Bewußtsein« das...
Erscheint lt. Verlag | 2.5.2023 |
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Reihe/Serie | Blaue Reihe | Blaue Reihe |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Liberalismus • Politische Philosophie • Sozialphilosophie |
ISBN-10 | 3-7873-4375-X / 378734375X |
ISBN-13 | 978-3-7873-4375-1 / 9783787343751 |
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