Lebendige Seelsorge 2/2023 (eBook)
68 Seiten
Echter Verlag
978-3-429-06614-7 (ISBN)
Ute Leimgruber, Dr. theol., Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg.
Ute Leimgruber, Dr. theol., Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg.
THEMA
„How my love could release a soul from the powers of darkness“
Über einige metaphysische Aspekte moderner Einsamkeit
Friedrich Nietzsche, ein großer Poet der Einsamkeit, hat 1882 in seiner Fröhlichen Wissenschaft als Gesellschaftsdiagnose seiner Zeit folgende berühmt gewordenen Worte aufgeschrieben: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet“ (Nietzsche 1887, FW-125). Anne-Kathrin Fischbach
In gewisser Hinsicht scheint die Moderne mitsamt der an sie anschließenden Post- bzw. Spätmoderne diesen Mord nicht verwunden zu haben. Denn mit ‚Gott‘ hat sich Europa sukzessive auch einer ganzen auf das Eine und Allgemeine ausgerichteten Gesellschaftsordnung entledigt. Diese Gesellschaftsordnung war eine über Jahrhunderte entwickelte Kulturtechnik der Vergemeinschaftung. Das Christentum und die damit amalgierte antike Philosophie schufen einen Kosmos, in der jedes Individuum an einen metaphysisch begründeten Platz gestellt war: wobei sein Platz in dieser Ordnung eo ipso gut – weil gottgewollt – war. Genau diese ‚gute‘ kosmische Ordnung, in der ein jedes seinen festgefügten und angestammten Platz hatte, ist mit dem Aufkommen der Moderne dahin. Religion verliert im Europa des 19. Jahrhunderts ihre Individuen übergreifende Kulturmacht. Nietzsche verkündet als Folge: „Scholle thürmt sich auf Scholle, alle Ufer sind überschwemmt und gefährdet. Die Revolution ist gar nicht zu vermeiden, und zwar die atomistische“ (Nietzsche 1874, SE-4).
TRANSZENDENTALE OBDACHLOSIGKEIT ALS RÜCKSEITE DER ‚ATOMISTISCHEN REVOLUTION‘
Diese Revolution hat keineswegs nur Nachteile. Der moderne Mensch ist in vielerlei Hinsicht freier geworden zur Selbstbestimmung – in Abgrenzung zu Kollektivvorstellungen. Die wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften, die aufgrund solcher Freiheiten erst möglich geworden sind, sind zahllos und kaum jemand würde wohl allen Ernstes darauf verzichten wollen, allen gegenwärtigen Postwachstumsimperativen zum Trotz. Doch kommt die gewonnene Freiheit mit einem Preis: Gottes Tod – den Umsturz und Tod des Tyrannen – bezahlen seine Mörder mit anhaltender Orientierungslosigkeit. Wohin mit der ungewohnten Freiheit? „Wie trösten wir uns?“ (Nietzsche 1887, FW-125) – von dem Verlust an Sicherheit, entstanden durch fehlende Zugehörigkeit zu einer stabilen kosmischen Ordnung, die György Lukács als „transzendentale Obdachlosigkeit“ (Lukács 1920, 24) beschrieben hat. Nietzsches Frage begleitet uns in Form der modernen, soziologisch immer wieder beschriebenen ‚Einsamkeiten‘.
Anne-Kathrin Fischbach
Studium der katholischen Theologie und Philosophie in Freiburg und Jerusalem; Doktorandin und akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Dogmatik an der Universität Freiburg; Forschungsschwerpunkte: Amerikanischer Pragmatismus (insbesondere zu Charles Sanders Peirce), Frage nach Metaphysik(en), Kontextuelle Theologien.
Einsamkeit entsteht – so lässt es sich soziologisch beschreiben – durch die Erfahrung von Verlust an bzw. durch einen Mangel an Verbindendem.
Einsamkeit – ein Wort, dessen Bedeutung schwer zu fassen ist, weil mit ihm ein höchst subjektives Gefühl zur Sprache kommt, das zwar Halt in äußeren Gegebenheiten haben kann, aber nicht muss. Einsamkeit entsteht – so lässt es sich soziologisch beschreiben – durch die Erfahrung von Verlust an bzw. durch einen Mangel an Verbindendem. Dieser Definition zufolge ist Einsamkeit ein defizitärer, ja krankmachender Zustand, der behoben werden will. Ausgeklammert werden hier bewusst Erfahrungen von Menschen, die ihr Alleinsein als einen Zustand der Einzelheit beschreiben, in dem sie in positiv qualifizierter Weise bei sich bzw. bei Gott sind. Solche Erfahrungen, in bewusster Vereinzelung abgegrenzt von der Gesellschaft zu eigenen Kräften zu kommen, sollen dadurch nicht negiert werden. Es lässt sich jedoch vermuten, dass sie erst auf Grundlage eines basalen Vertrauens auf die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft entstehen können und daher mehr Privileg als Mangelerfahrung darstellen. Bewusst aufgrund religiöser Suche herbeigeführte Vereinzelung lässt sich so gerade nicht durch einen unerwünschten Mangel an verbindender Beziehung beschreiben. Ganz im Gegenteil: Was könnte verbindender sein als mit Gott allein zu sein? Zur belastenden conditio humana wird Einsamkeit daher tendenziell erst für den modernen Menschen. Zwar haben sicherlich auch vormoderne Menschen punktuell diese Mangelerfahrung gemacht; auch sie kannten schließlich Trauer und Verlassenheit aufgrund von Beziehungsabbrüchen – doch war da Trost. Noch Johann Sebastian Bachs Johannespassion von 1724 rekurriert auf dieses umfassende Trostpotenzial der christlichen Botschaft – und zwar gerade im Moment der tiefsten Einsamkeit, im Moment des Todes Gottes am Kreuz: „Es ist vollbracht! O Trost vor die gekränkten Seelen! Die Trauernacht läßt nun die letzte Stunde zählen. Der Held aus Juda siegt mit Macht und schließt den Kampf. Es ist vollbracht!“ (Bach, BWV 245)
Der Tod Gottes in der Passionsgeschichte führt gerade in umfassende – triumphale – Gemeinschaft mit diesem Gott. Der Tod Gottes, den Nietzsche verkündet, ist jedoch ein ganz anderer Tod. Er ist vergleichbar mit dem, was Soziolog:innen einen ‚sozialen Tod‘ nennen. Um Gott selbst herum wird es einsam – die Gemeinschaft, die dieser Gott konstituiert hat, zerstreut und entfremdet sich. Der Tod Gottes in der Moderne führt daher zu Gemeinschaftsabbruch und in dessen Folge in Ohnmacht und Trostlosigkeit – und wenn man die Linie mit Michel Foucault weiterziehen möchte, eben auch zum sozialen Tod des Menschen, der den Mord an seinem Gott nicht lange überleben soll (vgl. Foucault 2020, 462).
Nochmals sei betont: Weder für Nietzsche noch für Foucault ist der Tod Gottes und der Tod des Menschen zwangsläufig und ausschließlich etwas Schlechtes. Doch löst das Ereignis des Todes Gottes fraglos soziale Normen und auf ihnen gegründete Identitäten bis zur Unkenntnis auf, was neben den begehrten Freiheiten auch existenzielle Unsicherheiten mit sich bringt. Das Individuum findet sich „aus der jenseitigen und der diesseitigen Welt auf sich selbst zurückgeworfen“ (Arendt 1960, 312) vor und kann doch aus sich heraus kaum festen Stand gewinnen.
ESKALATION DER ‚ATOMISTISCHEN REVOLUTION‘ IN DER SPÄTMODERNE
Die zeitgemäße Arbeit an einer neuen, modernen Kulturtechnik zur Bekämpfung von existenzieller Unsicherheit ist dennoch maßgeblich von Versuchen geprägt, Sinn aus der eigenen – besonderen – Individualität heraus zu produzieren. Dieser Versuch ist spätestens in der Spätmoderne eskaliert. Gleichzeitig zeigt sich hier jedoch unweigerlich auch, dass selbst die Optimierungsarbeit an der eigenen Individualität noch in eine Gesellschaft eingebunden bleibt, die die Anerkennung dieser Arbeit leistet oder verweigert (vgl. Reckwitz 2018, 20).
Zunehmend zeigen sich dabei Tendenzen, der Individualität anderer, mit der keine Schnittmenge besteht, Anerkennung zu verweigern, die doch den Nährboden für eine gelungene Individualitätsbildung bildet. Symptomatisch mag hierfür die Verweigerung eines Likes auf Instagram, Facebook und Co. stehen – ein Like besondert und ist kapitalistisch monetär ausbeutbar, es ist ein manifestes, zählbares Zeichen von Anerkennung und als solches ist es sparsam zu verwenden, möchte man seinen eigenen Marktwert nicht schmälern. Das Kunststück ist daher, möglichst viele Likes und Follower:innen zu bekommen, während man selbst möglichst wenig liked und followed. Dass solch selbstoptimierendes Vorgehen keine verbindlichen Beziehungen zu stiften vermag, sondern im Gegenteil auf Vereinzelung abzielt, ist offensichtlich. Überhaupt machen uns Social Media mehr einsam als sozial (vgl. Newiak 2022, 214–220). Die Frage danach, wie Gemeinschaft verfasst sein muss, die für die Moderne funktional ist, ist offen.
Notwendig wäre die Arbeit an einer Kulturtechnik, die die zunehmend relationslosen, vereinsamten Individuen in ein Verhältnis bringt, in dem sie einerseits ihre Eigenständigkeit behalten und doch in sinnstiftende Verbindung eintreten können.
Die Frage danach, wie Gemeinschaft verfasst sein muss, die für die Moderne funktional ist, ist offen.
LIEBE – ‚HEILMITTEL‘ ZERRÜTTETER BEZIEHUNGSKONSTELLATIONEN?
Auf der Suche nach einer Kategorie, die Individualität schafft und erhält und gleichzeitig in etwas Größeres, in...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2023 |
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Reihe/Serie | Lebendige Seelsorge |
Verlagsort | Würzburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Christentum |
Schlagworte | Einsamkeit • Pastoral • Seelsorge • Spiritualität |
ISBN-10 | 3-429-06614-X / 342906614X |
ISBN-13 | 978-3-429-06614-7 / 9783429066147 |
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