Putins Schatten und die Idee der politischen Vernunft (eBook)

Zur Zukunft nach dem Ende der Geschichte

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
288 Seiten
CEP Europäische Verlagsanstalt
978-3-86393-646-4 (ISBN)

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Putins Schatten und die Idee der politischen Vernunft -  Georg Kohler
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»Georg Kohler diskutiert, erinnert und verteidigt nüchtern und pathosfern die Chancen vernunftnaher Politik« Der 24. Februar 2022 ist ein Epochendatum in zweierlei Sinn: Mit ihm endet die seit 1989 begonnene Illusion, durch ökonomische Verflechtung allein sei ein 'weltbürgerlicher Zustand' (Kant) zu erreichen. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine widerlegt außerdem den Glauben, mit kriegerischen Großkonflikten sei wenigstens in Europa nicht mehr ernsthaft zu rechnen. Das Stichwort 'Zeitenwende' bringt beide Enttäuschungen auf den Begriff. Georg Kohler behandelt das Thema in zehn Kapiteln unter drei Aspekten: Zum einen der Differenz von Utopie und Realpolitik; dann dem Gesichtspunkt der Unterscheidung zwischen Vernunft, Rationalität und Geschichtsglauben und schließlich der Zuversicht auf das Gehört-Werden der 'leisen Stimme des Intellekts' (Sigmund Freud), die den tiefen Zwiespalt zwischen Menschen- und Vernunftnatur nicht für unüberbrückbar hält. Georg Kohler macht einen Gang durch die Geschichte der politischen Philosophie von Platon bis in die Debatten der Gegenwart und diskutiert, erinnert und verteidigt nüchtern und pathosfern die Chancen vernunftnaher Politik.

Georg Kohler, geb. 1945, ist ein Schweizer Philosoph, Publizist und Professor em. für politische Philosophie an der Universität Zürich. Nach einer Lehrstuhlvertretung an der Universität München wurde er 1994 als Nachfolger von Hermann Lübbe als Ordinarius auf den Lehrstuhl für politische Philosophie nach Zürich berufen. Veröffentl. u.a.: Handeln und Rechtfertigen. Untersuchungen zur Struktur der praktischen Rationalität. Frankfurt am Main, 1988. Über das Böse, das Glück und andere Rätsel. Zur Kunst des Philosophierens. Zürich, 2005. Bürgertugend und Willensnation. Über den Gemeinsinn und die Schweiz. Zürich, 2010. Zahlr. Buchbeiträge und Artikel. Georg Kohler publiziert regelmäßig in Tageszeitungen, vor allem in der Neuen Zürcher Zeitung.

Georg Kohler, geb. 1945, ist ein Schweizer Philosoph, Publizist und Professor em. für politische Philosophie an der Universität Zürich. Nach einer Lehrstuhlvertretung an der Universität München wurde er 1994 als Nachfolger von Hermann Lübbe als Ordinarius auf den Lehrstuhl für politische Philosophie nach Zürich berufen. Veröffentl. u.a.: Handeln und Rechtfertigen. Untersuchungen zur Struktur der praktischen Rationalität. Frankfurt am Main, 1988. Über das Böse, das Glück und andere Rätsel. Zur Kunst des Philosophierens. Zürich, 2005. Bürgertugend und Willensnation. Über den Gemeinsinn und die Schweiz. Zürich, 2010. Zahlr. Buchbeiträge und Artikel. Georg Kohler publiziert regelmäßig in Tageszeitungen, vor allem in der Neuen Zürcher Zeitung.

Einleitung


Die Idee der politischen Vernunft – die Annahme, dass nicht Gewalt die letzte Richterin über Recht und Ordnung sein darf, sondern die Einsicht aller ins gemeinsam Zuträgliche – ist sie mehr als eine Utopie? Ist die Hoffnung auf die menschliche Bereitschaft zu friedlicher Einigung vielleicht sogar ein gefährlicher Gedanke? Weil er die Natur des Menschen verkennt, ebenso wie die stete Spaltung der sozialen Welt in Freund und Feind und weil er mit seiner naiven Arglosigkeit die Friedfertigen den Gewaltbereiten opfert? – Das sind die Fragen, die die Texte von II. bearbeiten. – Putins Überfall auf die Ukraine bestätigt ihre Aktualität.

Thema der ersten drei Aufsätze ist der Begriff der Utopie und der Sinn utopischen Denkens: die Hinsicht auf die Suche nach einer Welt, die grundsätzlich besser ist als die gegeben gegenwärtige. – Inwiefern kann das mehr sein als eine selbstbezügliche Spielerei?

Wenn Thomas Morus seine Hauptfigur, den Erzähler Hythlodäus, der über die Vorzüge und Segnungen der Insel „Utopia“ so beredt Bescheid weiß, am Ende den Verzicht auf die eigene Bemühung um die Verbesserung der Welt nach dem Vorbild Utopias wählen lässt, dann zeigt das, was die erste Botschaft der utopischen Wirklichkeit ist: dass sie zwar denkbar, also prinzipiell möglich, aber nicht planmäßig machbar ist. Wer das vergisst, dem droht das Gegenteil – nicht das Glück, sondern das Unglück der Welt.

Dieselbe Wahrheit enthält die platonische Politeia. Jedenfalls dann, wenn man sie aus der Sicht jener Ironie liest, die Sokrates auszeichnet, wo und wann immer er denkt. Dass die Politeia – scheinbar ungebrochen – ein fast lächerlich simples Erziehungsregime entwirft, ist nicht zu leugnen. Doch man muss blind sein, um in Sokrates’ Beschreibungen nicht bereits dasselbe Problem zu entdecken, das den morusianischen Erzähler bewegt: dass das Vernünftige, das eine schlechte Wirklichkeit korrigiert, nicht zu erzwingen ist, weil es allein der freien Einsicht der Einzelnen entspringt.

Utopien, die den Namen verdienen, liefern nicht Handlungsanweisungen für Konstrukteure des Sozialen. Sie sind literarische Schilderungen, anschauliche Vorstellungen, keine abstrakten Algorithmen; Beispiele, Paradigmen, die ihren Ort ebenso in der Einbildungskraft begabter Autoren haben wie in der Logik des Normativen. So ist schon ihrer Form eingeschrieben, dass sie in Zwang und bevormundende Herrschaft zu verwandeln, ihr notwendiges Scheitern bedeutet.

Im utopischen Entwurf wirken allerdings Energien, die aus sehr verschiedenen Quellen stammen. Das wird am schnellsten klar, wenn man sich an die biblische Figur des Nicht-Hier und Noch-Nicht, an das Bild des „Gelobten Landes“, erinnert. Mit ihm beginnt der Text über die „Gottesstadt“, der die Begriffsgeschichte der „Utopie“ rekonstruiert. In der Absicht vor geschichtsphilosophischen Übertreibungen zu warnen, analysiert er die Tendenz, menschlich-übermenschliche Erlösungswünsche mit den irdischen Potentialen humaner Weltverbesserung zu verschmelzen. Eine Gefahr, die dann virulent wird, wenn sich die Erfahrung realer Fortschritte in den Glauben an die Selbstherrschaft des Menschen über seine eigene Geschichte verkehrt; in den Übermut und Wahn, die „Gottesstadt“, das Ganz-Andere und restlos Gelungene, endlich auch irdisch und vollkommen zu verwirklichen.

Zum vernünftigen Begriff der Utopie gehört – neben der Unterscheidung zwischen dem Denkbaren und dem Machbaren – daher auch die Trennung zwischen dem gefährlichen Traum von der Erlösung zu Lebzeiten und den Projekten menschenmöglicher Weltverbesserung.

Menschen sind offen für beides: für das Streben nach einer hiesigen Form des Guten, also für eine Welt wie sie etwa die kantische Fortschrittsphilosophie weltrepublikanisch gesicherter Friedensinstitutionen skizziert, wie für die Angst vor der endemisch gewordenen Selbstsucht, aus der mit rational berechenbarer Konsequenz das bellum omnium contra omnes entspringt.

Zoon politicon, politisches Lebewesen von Natur aus, sei der Mensch, meint Aristoteles; er sei das „nicht festgestellte Tier“, sagt Nietzsche. Aristoteles markiert die elementare Abhängigkeit des Individuums von (s)einer Sozialwelt, während Nietzsche betont, dass das Menschenwesen von keinem Gesetz und keiner Tradition so fest fixiert werden kann, dass es nicht alles wieder umzuwerfen imstande wäre.

Die zwei Sätze benennen Eckpunkte des politischen Problems. Menschen brauchen verlässliche Sozialordnungen, einen Raum relativen Friedens und dennoch vermag kein Verhaltensregime ihre Seelenkräfte so zu bändigen, dass aus dem NichtKrieg nicht wieder ein Zustand allseitiger Furcht vor Gewalt und Zerstörung werden könnte. – Hobbes’ Idee des „Naturzustandes“, des „Krieges aller gegen alle“, ist das Gegenbild zu „Utopia“. Dazwischen liegt das breite Gelände der Politik und so auch das der „Realpolitik“.

Die Encyclopaedia Britannica erläutert den (deutschen) Begriff der „Realpolitik“ als „politics of adaptation to things as they are. Realpolitik thus suggests a pragmatic, nonsense view and a disregard for ethical considerations.” „Disregard”/Missachtung ethisch-moralischer Überlegungen klingt weniger erschreckend, wenn man das Wort pathosfrei als Interessenverfolgung primärer, aber nicht notwendigerweise unmoralischer Ziele auf Kosten großer Ideale begreift. Insofern wäre es nicht falsch, auch Max Webers „Verantwortungsethik“ als eine Form von Realpolitik zu definieren. Doch diese Dämpfung der Bedeutung auf halbwegs zivile Töne ändert nichts daran, dass im Wort „Realpolitik“ stets der metallische Klang von Waffengebrauch und Polizeibefehl mitklingt. In diesem Sinn darf Thomas Hobbes’ Leviathan von 1651, diese Staatslehre einer alles überragenden und (fast) alles gestattenden Souveränität, als realpolitische Schrift par excellence beschrieben werden.

Hobbes’ basale Psychologie, seine Theorie der menschlichen Intelligenz als eines Instruments im Dienst bestmöglicher Verfolgung individuell-egozentrischer Selbstbehauptung, verlangt, ohne zu zögern, eine ungeteilt hoheitliche Macht, die – frei von moralischen Skrupeln – keine Mühe hat, das Fällige zu tun, um law and order zu sichern. Auf guten Willen allein und braven Bürgergehorsam gegenüber Gesetzen, die den Eigennutz der Einzelnen schmälern, sich zu verlassen, sei auf Dauer aber nicht ratsam, erklärt Hobbes. Und eine Separation staatlicher Institutionen, die die obrigkeitlichen Mächte sich gegenseitig begrenzen lässt, befördert nach seiner Meinung das, was auf alle Fälle zu verhindern ist: die Destruktion der überragenden Kraft, die allein das Chaos der sich bekämpfenden Egoismen zu beherrschen vermag.

Schlüssig ist dieses Kalkül freilich nur, wenn die Hobbes’sche Psychologie zutrifft; wenn von den Menschen weder Gemeinsinn noch Einsicht in die Notwendigkeit freiwillig eingehaltener Regeln zu erwarten ist, so dass tragfähige politischsoziale Einheiten ohne permanente Polizeidiktatur nicht bestehen können. Es ist diese negative Anthropologie, die Hobbes’ Konstruktion leitet und deren radikalen Autoritarismus begründet. Folgt man ihr aus guten Gründen nicht, dann wird klar, dass Leviathans Doktrin vom Menschen auf einer viel zu extremen, empirisch betrachtet nur auf den Ausnahmefall zutreffenden Hypothese beruht, und daher auch nicht – und gegen den ersten Anschein – als „realpolitisch“ im Sinn der zitierten Definition betrachtet werden sollte. Wer in keiner Weise mit der humanen Bereitschaft für freiheitlich-friedliche Regelungen und für das Lernen aus der schrecklichen Erfahrung kriegerischer Nöte rechnen will, der entspricht eben nicht einer politics of adaption to things as they are.

Das, was man „kantischen Realismus“ nennen darf, ist um vieles besser geeignet als der Hobbes’sche Radikalismus, dem Begriff der Realpolitik zu entsprechen. Das bestätigt sich am augenfälligsten dort, wo Kant vom „weltbürgerlichem Fortschritt“ und von den Chancen der politischen Vernunft spricht. Von dieser Hoffnung handelt der fünfte Text von II.: Mauersturz und Terrorzeichen. Über Weltklugheit und Moral.

Zwar schon vor Putins Überfall auf die Ukraine geschrieben, entwickelt er auf dem Hintergrund der kantischen Projektion eines realisierbaren weltbürgerlichen Fortschritts gegenwartsdiagnostische Thesen, die auch noch heute zu verteidigen sind. Grundlegend ist die Annahme, dass dieselbe Situation, die den Großen Krieg – die direkte Auseinandersetzung zwischen hoch gerüsteten Nuklearmächten – blockiert, für einen weitreichenden Formwandel politischer Gewalt verantwortlich ist; für eine Transformation, die sich mit besonderer Brutalität im Twin-Tower-Attentat von 9/11 manifestierte: die zivilisationsbedingte...

Erscheint lt. Verlag 28.4.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Demokratie • Menschenrechte • Politische Philosophie • Politische Theorie • Politische Vernunft • Realpolitik • Utopie • Vernunft
ISBN-10 3-86393-646-9 / 3863936469
ISBN-13 978-3-86393-646-4 / 9783863936464
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