Der Nahe Osten in einer globalisierten Welt (eBook)
394 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45224-1 (ISBN)
Bastian Matteo Scianna, PD Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Historischen Institut der Universität Potsdam. Stefan Lukas ist Managing Director beim Analyse- und Beratungsunternehmen Middle East Minds in Berlin und Lehrbeauftragter an der Universität Potsdam.
Bastian Matteo Scianna, PD Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Historischen Institut der Universität Potsdam. Stefan Lukas ist Managing Director beim Analyse- und Beratungsunternehmen Middle East Minds in Berlin und Lehrbeauftragter an der Universität Potsdam.
Ein Land im Niedergang? Der Libanon nach 1990
Anna Fleischer
Wenn man die belebten Bars und Cafés des beliebten Ausgehviertels Gemmayzeh im Osten Beiruts entlanggeht, scheint der Bürgerkrieg – auf den der Libanon in seiner Außenwahrnehmung oft reduziert wird – weit entfernt. Einschusslöcher und leere Fenster in Häusern, deren Bewohnerinnen und Bewohner gingen und nie zurückkehrten, sind jedoch stille Zeugen dieser Ereignisse, die die aktuelle Krise nicht eigenständig erklären können, aber ohne die wiederum jegliches Verständnis schwerfällt. Das Taïf-Friedensabkommen vom 22. Oktober 1989 beendete formal den seit 1975 andauernden Bürgerkrieg. Es sollte eine wichtige Grundlage für die Überwindung des Konfliktes zwischen den Kriegsparteien und der Konsolidierung des inneren Friedens schaffen. Das Abkommen, das bis heute wichtiger Bestandteil der libanesischen Verfassung ist, enthält das Einverständnis und die Verpflichtung der ehemaligen Konfliktparteien, die Souveränität und das Gewaltmonopol des Staates auf dem gesamten Territorium wiederherzustellen. Dazu gehören auch die Entwaffnung und Auflösung aller Milizen.5 Die Umsetzung dieser Reformen und Versprechen steht jedoch bis heute aus, und die Konfliktlinien des Bürgerkriegs sowie seine institutionalisierten Folgen prägen das Land. Strukturelle Gewalt bestimmt den Alltag, und fehlende Aufarbeitung der Kriege und Bomben sowie die andauernde Traumatisierung der Bevölkerung erschweren die Versöhnung. Im Jahr 2022, also mehr als 30 Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges, leidet der Libanon unter Hyperinflation, einem scheiternden Bankensektor, Versorgungsengpässen, einer Wirtschaftskrise und Staatsversagen. Diese multiplen Krisen lassen sich vor allem auf strukturelle Probleme sowie die Einflussnahme von außen zurückführen, bedingt durch die fehlende Aussöhnung und Aufklärung nach den bewaffneten Konflikten.
1.Das Taïf-Abkommen und der fehlende Frieden
Eine wichtige Ursache für die politische Lähmung und Zerrissenheit besteht seit den Gründungsjahren des libanesischen Staates im »Nationalen Pakt« aus dem Jahr 1943. Um eine gleichmäßige Machtverteilung zu garantieren, einigten sich die verschiedenen Religionsgruppen darauf, Staatsämter und Parlamentssitze nach einem Proporzsystem aufzuteilen; als Grundlage diente die bis heute letzte Volkszählung aus dem Jahre 1932.6 Im Libanon existieren 18 christliche und muslimische Religionsgemeinschaften nebeneinander. Politisch beherrscht Konfessionalismus das Land: Laut Verfassung müssen die 128 Sitze im libanesischen Parlament demnach gleichermaßen zwischen christlichen und muslimischen Konfessionen nach einem Proporzsystem aufgeteilt werden, während die höchsten Staatsämter durch die Vertreter der größten Religionsgemeinschaften besetzt werden. Konkret müssen der Staatspräsident Maronit7, der Parlamentspräsident Schiit und der Regierungschef Sunnit sein.8
Anfang der 1970er Jahre schlossen muslimische Parteien ein Bündnis mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon über einen starken Rückhalt verfügte. Sie wollten damit die starke Repräsentanz von Christen in politischen Ämtern bekämpfen. Die sich aufschaukelnden Spannungen entluden sich in einem Bürgerkrieg, der 15 Jahre andauerte. Als Auslöser gilt der 13. April 1975, als Unbekannte vor einer Kirche in Beirut mehrere Christen getötet hatten. Daraufhin massakrierten christliche Milizen 27 überwiegend palästinensische Fahrgäste in einem Bus. Im Verlauf des Bürgerkrieges wechselten Gefechtsfronten und Bündnisse rasch, und es kam selbst innerhalb der konfessionellen Gruppen zu Gewalt.9 Die Unterzeichnung des Taïf-Abkommens im Jahr 1990, benannt nach der saudi-arabischen Stadt, in der es unterzeichnet wurde, war dementsprechend kein eigentliches Ende des Krieges, der 15 Jahre lang wütete. Es war kein Frieden, der dabei herauskam, sondern eine Fortsetzung des Krieges in Form von politischen Seilschaften und Vetternwirtschaft, so dass es sich eher um eine Umformulierung der im Krieg zementierten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen als das neue, sogenannte »normale« friedliche Leben handelte.10
Die strukturellen Ursachen, die zum Bürgerkrieg führten, sind bis heute nicht überwunden. Aufgrund eines Amnestiegesetzes aus dem Jahre 1991, das einen Großteil der begangenen Straftaten aus dem Bürgerkrieg straffrei stellte, haben ehemalige Kriegsherren bis heute einflussreiche politische Positionen inne. Auch eine gemeinsame, nationale Aufarbeitung der Bürgerkriegsvergangenheit in der Öffentlichkeit und an Schulen fand nie statt. Stattdessen verstärkt die durch Erziehung geförderte selektive Erinnerung an erlittenes Unrecht die Identifikation mit der eigenen Religionsgemeinschaft und dem Konfessionalismus. In den Elternhäusern finden die Nachkriegsgenerationen nur bedingt Antworten – jede Konfession und jede Partei berichten über den Krieg aus ihrer jeweiligen Perspektive. Das Fehlen eines gemeinsamen Verständnisses der Geschichte des Libanon untergräbt den Zusammenhalt und vertieft das Misstrauen zwischen den ehemaligen Konfliktparteien.11 Der libanesische Anthropologe Sami Hermez beschreibt den Zustand des Libanon als einen Dauerkrieg. Der Krieg dauert an, buchstäblich physisch (durch Besetzung, Bombenangriffe und dergleichen), aber auch strukturell. Er fließt weiter in der Zeit und erfährt Transformationen und Mutationen. Einige seiner Akteure ändern sich, andere bleiben gleich und das System bleibt dasselbe. Neue Akteure fügen sich lediglich in das System der alten ein. Die schiitische Hisbollah, so Hermez, spielt dieses »Spiel« besonders gut, da sie genau verstanden hat, wie man das Patronage-System (einem System von Begünstigungen im Austausch gegen politische Unterstützung und Loyalität) zur Machterhaltung nutzt.12 Die Hisbollah, die als Widerstandsbewegung gegen die israelische Besatzung begonnen hatte, entschloss sich nach dem Taïf-Abkommen, gegen das es sich ihrem ursprünglichen Manifest ausgesprochen hatte, zur Teilhabe an einem politischen System. Nachdem die Hisbollah in den 1980er Jahren einen Regierungswechsel angestrebt hatte, beschloss sie nach dem Ende des Bürgerkriegs, an den Wahlen von 1992 teilzunehmen.13 Die Partei ist bis heute eine der umstrittensten Akteure des Landes und sorgt weiter für Konfliktpotenzial besonders mit den Vereinigten Staaten von Amerika, die diesen Verbündeten des Iran nicht als staatstragend akzeptiert.14
Die während des Bürgerkriegs verfestigten Machtlogiken wurden im sogenannten Za’im-System weitergeführt. Ein Za’im ist ein Anführer bzw. politischer Boss, der quasi alle Gewalt auf sich vereint. Statt einer funktionierenden Demokratie hat sich im Libanon ein System entwickelt, in dem die Loyalität zum Za’im (also zum jeweiligen Machthaber der konfessionellen Gruppe) mehr Wert ist als politische Standpunkte oder Meinungen. Dieses System bestimmt die politische Kultur bis heute, wie von der lokalen Zivilgesellschaft, wie zum Beispiel der Lebanese Association for Democratic Elections, hinlänglich kritisiert wird: »Im Laufe der Jahre hat dieses Regime den öffentlichen Dienst und die Justiz politisiert, die Gewerkschaftsarbeit untergraben und Praktiken eingeführt, die die Arbeit der verfassungsmäßigen Institutionen stören, wobei die Hüter dieses Regimes ständig versuchen, es mit allen möglichen Mitteln, einschließlich Wahlen, zu festigen.«15
15 Jahre Bürgerkrieg konnten diese Gleichung nicht ändern, denn hätte eine Seite den Krieg gewonnen, wäre der Gesellschaftsvertrag gebrochen, der bis heute die Struktur des Landes ausmacht. Der libanesische Politologe Joseph Bayeh argumentiert, dass dies vor allem darauf zurückzuführen ist, dass es sich bei den Konflikten nicht um...
Erscheint lt. Verlag | 10.4.2024 |
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Co-Autor | Alexander Brakel, Manuel Brunner, Anna Fleischer, Gülistan Gürbey, Julia Gurol, Andreas Jacobs, Christian Koch, Lucas Lamberty, Christoph Leonhardt, Stefan Lukas, Wolfgang Pusztai, Christian E. Rieck, Bastian Matteo Scianna, Sebastian Sons, Florian Weigand |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
Schlagworte | Afghanistan • Ägypten • Arabien • Arabischer Frühling • Arabische Welt • Bundesrepublik • China • Coronapandemie • Demokratie • Deutschland • EU • Europäische Union • Geopolitik • Globalisierung • Golfstaaten • HAMAS • Hisbollah • Irak • Iran • Islam • Islamismus • Israel • Jemen • Klimawandel • Kurden • Kurdistan • Libanon • MENA-Region • Migration • Mittlerer Osten • Naher Osten • Neue Seidenstraße • PLO • Russland • Saudi-Arabien • Syrien • Terrorismus • Türkei • USA • War on Terror |
ISBN-10 | 3-593-45224-3 / 3593452243 |
ISBN-13 | 978-3-593-45224-1 / 9783593452241 |
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