Globalgeschichten aus China (eBook)
347 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45534-1 (ISBN)
Marc Andre Matten ist Professor für chinesische Zeitgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Egas Moniz Bandeira ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Marc Andre Matten ist Professor für chinesische Zeitgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Egas Moniz Bandeira ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Die Geschichte Chinas ist ein Teil der Globalgeschichte. Darüber scheint es keinen Zweifel zu geben. In China wird jedoch aufgrund der traditionellen und eindeutigen akademischen Trennung zwischen chinesischer Geschichte und Weltgeschichte erstere nur selten vertieft als Teil der Weltgeschichte analysiert. Durch ihre Ausbildung und Wissensstruktur beschränkt, betrachten ForscherInnen der chinesischen Geschichte die Interaktionen Chinas mit der Außenwelt häufig als externen Austausch, und trotz der zunehmenden Aufmerksamkeit für und Vertiefung der Forschung in diesem Bereich, bleibt sie meist auf der Ebene konkreter Austausche und Vergleiche stehen. Die Forschung zur »Weltgeschichte« wiederum schenkt ihre Aufmerksamkeit dem Ausland; die Beschäftigung mit China und zudem oft auch die Wertschätzung für den Platz Chinas in der Globalgeschichte sind nicht ausreichend. Obwohl alle von WissenschaftlerInnen unseres Landes verfassten Weltgeschichten einen Abschnitt über China enthalten, ist dieser Abschnitt in der Regel vergleichsweise simpel und legt das Hauptgewicht häufig einseitig auf den Aspekt der Beziehungen und des Austausches: in der Antike steht der Einfluss der chinesischen Zivilisation auf das Ausland im Vordergrund; in der modernen Geschichte werden der Widerstand und die Kämpfe hervorgehoben, die sich aus der Invasion Chinas und der damit verbundenen ausländischen Einflüssen ergaben, sowie die Auseinandersetzungen mit den fremden Kulturen in China. Diese Situation führt dazu, dass in unserem Land die Geschichte Chinas in der Weltgeschichte sich in einer beklagenswerten und misslichen Lage befindet: Sowohl ForscherInnen der chinesischen Geschichte als auch solche der Weltgeschichte bringen dem nicht genügende Achtung entgegen.
Solch eine Situation hat sowohl historische als auch praktische komplexe Gründe. Das ist verständlich. Das Problem ist jedoch: Stärkt man nicht die Forschung zur chinesischen Geschichte in der globalen Geschichte, ist dies weder der Forschung zur chinesischen Geschichte noch zur Globalgeschichte unseres Landes dienlich. Ich denke, es ist an der Zeit, dieses Problem ernst zu nehmen. Wir haben jetzt auch bessere Voraussetzungen dafür, Forschung zur chinesischen Geschichte als Teil der globalen Geschichte erfolgreich zu betreiben. Wir haben nicht nur das Bedürfnis, sondern auch die Möglichkeit dazu. Nur derart können wir besser mit der internationalen akademischen Gemeinschaft auf gleicher Augenhöhe kommunizieren, gemeinsam eine neue Globalgeschichte schaffen und die Erforschung der chinesischen Geschichte vertiefen.
Zentrismus und China
Zentrismus ist ein historisches Phänomen, das aus dem Regionalismus und den kognitiven Beschränkungen der Menschen resultiert. Dies hat zur Entstehung des »Eurozentrismus« mit dem »Mittelmeer« als Zentrum, des »Sinozentrismus« mit der chinesischen Zentralebene (zhongyuan) als Zentrum oder zu Zentrismen mit anderen Zivilisationen im Kern geführt. Genau wie bei der historischen Debatte darüber, ob das Universum nun »geozentrisch« oder »heliozentrisch« sei, weiß man heute endlich, dass das Universum zentrumslos ist und dass das Sonnensystem nur schwebender Staub in einem riesigen Universum ist.
Da die Weltgeschichte von Europäern geschaffen worden ist, hatte immer der »Eurozentrismus« das Sagen. Peter Gran stellte fest: »Die Behauptung, dass der Eurozentrismus die Grundlage der Weltgeschichtsschreibung ist, kann man leicht aus der historischen Forschung und der historischen Theorie ersehen. Europäer, insbesondere die Deutschen, haben die moderne Geschichtsschreibung erschlossen. Sie haben die Geschichtswissenschaft in verschiedene Forschungsbereiche eingeteilt, von denen die Weltgeschichte einer ist.«69 Auch Luo Rongqu meint dazu: »Die seit dem 19. Jahrhundert vorherrschende Ansicht, dass Griechenland und Rom das Zentrum der antiken Welt gewesen seien und die christliche Zivilisation den Hauptteil der Weltzivilisation ausmache, ist der Ausdruck einer engen eurozentrischen Weltsicht. Das entspricht nicht der Realität der Weltgeschichte«.70 In einer »eurozentrischen« Weltgeschichte scheint es unbestreitbar, dass China in der Antike »fortgeschritten« und in der Neuzeit »rückständig« war, besonders im Vergleich zu Europa. Wie lange China jedoch »fortgeschritten« blieb und wann es begann, »zurückzufallen« oder »abzusteigen«, ist Ansichtssache und Gegenstand heftiger Diskussionen.
Der Autor von The Wealth and Poverty of Nations, David S. Landes, führt aus: »China war bis vor 1000 Jahren der Nabel der Welt, das wohlhabendste und bevölkerungsreichste Reich der Erde, vor 300 Jahren noch Gegenstand der Bewunderung, verkam danach aber zum Objekt von Spott und Mitleid«.71 Weiterhin schrieb er: »Bis vor kurzem war der Schlüsselfaktor – die treibende Kraft – in den tausend und mehr Jahren dieses Prozesses, den die meisten Menschen als Fortschritt betrachten, die westliche Zivilisation und ihre Verbreitung: das Wissen, die Technologie, die politischen und sozialen Ideologien, sowohl im guten als auch im schlechten. Diese Verbreitung erfolgt zum Teil durch westliche Dominanz, denn Wissen ist gleich Macht, zum Teil durch Verbreitung westlichen Wissens oder durch Nachahmung. Die Verbreitung war ungleichmäßig, und viele westliche Vorbilder wurden abgelehnt, weil sie als Aggressoren angesehen wurden.«72 In Wallersteins »Zentrum/Peripherie«-Modell des modernen/kapitalistischen Weltsystems »entstand die europäische Weltwirtschaft im sechzehnten Jahrhundert«,73 und China schaffte es zu dieser Zeit noch nicht einmal in die »Peripherie«.
Als konkurrierende Ansicht zum »Eurozentrismus« von Wallerstein und anderen argumentiert Andre Gunder Frank (1929–2005) in ReORIENT: Global Economy in the Asian Age,74 dass zwischen 1400 und 1800 »das gesamte Weltwirtschaftssystem in Wahrheit China zum Zentrum hatte«.75 Es habe sich um »eine Art Hierarchie mit allerlei Zentren« gehandelt, »wobei an der Spitze wahrscheinlich China stand«.76 Robert B. Marks stimmt dem zu: »Das Wichtigste ist: Der Wirtschaftsmotor, der den globalen Handel ankurbelte, der zum Austausch von Ideen, neuen Nahrungsmitteln und Fertigwaren führte, lag in Asien. Wahrscheinlich schon um 1000 n.Chr. stimulierte Chinas Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum den gesamten eurasischen Kontinent, und ein weiterer Höhepunkt begann um 1400 und dauerte bis etwa 1800. Asien war die Quelle für eine große Nachfrage nach Silber, das zur Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas und Indiens verwendet wurde, und es war die weltweit größte Quelle für Fertigwaren (besonders Textilien und Porzellan) und Gewürze«.77 »Man kann getrost behaupten, dass die Rolle der Europäer in der Weltwirtschaft ohne die chinesische Nachfrage nach Silber mit Sicherheit stark geschwächt worden wäre. Das Ergebnis war, dass die chinesische Nachfrage nach Silber und das amerikanische Angebot an Silber es den Europäern ermöglichten, sich zu bereichern, indem sie sich auf asiatische Waren und Handelsnetze stützen konnten«.78 Außerdem »zog« China »Silber aus der ganzen Welt an und überschwemmte den Weltmarkt mit chinesischen Fertigwaren«.79 Darum »war Asien vor 1750 oder 1800 das unbestrittene Zentrum der Welt, was die Bevölkerung, die Industrie und die landwirtschaftliche Produktivität anbelangt.«80 Howard Spodek stellte außerdem fest: »Mexiko und Südamerika produzierten zwischen 1550 und 1800 über 80% des weltweiten Silbers und über 70% des Goldes… Zwischen einem Drittel und der Hälfte des zwischen 1527 und 1821 in Amerika produzierten Silbers floss nach China. Der mexikanische Peso wurde in China zu einem gesetzlichen Zahlungsmittel.«81
In einer Email, die mich 2001 erreichte, schrieb Andre Gunder Frank: »Ich habe mich nun daran gemacht,...
Erscheint lt. Verlag | 26.3.2024 |
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Reihe/Serie | Globalgeschichte | Globalgeschichte |
Co-Autor | Xinjie Dong, Zhaoguang Ge, Cheng Hu, Mei Jiang, Wenming Liu, Keyao Ma, Weiwei Zhang, Xupeng Zhang, Zhenhuan Zou |
Übersetzer | Matten Marc Andre, Moniz Bandeira Egas |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | China • Chinesische • chinesische Geschichtsschreibung • Debatten • Diskurse • Europa • Geschichte • Geschichtswissenschaft • Globalgeschichte • Historiker • Historikerin • Historiografie • Ideengeschichte • Kritik am Eurozentrismus globalgeschichtlicher Ansätze • Nationalgeschichte • Neue Seidenstraße • Open Access Grün • Sinozentrismus • Soft Power • Verflechtungsgeschichte • Verwestlichung • Volksrepublik • Weltgeschichte |
ISBN-10 | 3-593-45534-X / 359345534X |
ISBN-13 | 978-3-593-45534-1 / 9783593455341 |
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