Der Elefant und die Blinden (eBook)
976 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8072-1 (ISBN)
Thomas Metzinger, geboren 1958 in Frankfurt am Main, lehrte Philosophie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er gehört zu den meistzitierten deutschen Gegenwartsphilosophen und gilt weltweit als einer der profiliertesten Philosophen des Geistes und der Kognitionswissenschaft. Metzinger war Präsident der Gesellschaft für Kognitionswissenschaft und der Association for the Scientific Study of Consciousness. 2018 wurde er in die Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz der Europäischen Kommission berufen. 2021 erhielt er die Pufendorf-Medaille, 2022 wurde er in die Nationale Akademie der Wissenschaften gewählt. Sein Bestseller Der Ego-Tunnel wurde in elf Sprachen übersetzt. 2023 veröffentlichte er das viel beachtete Buch Bewusstseinskultur. Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise.
Thomas Metzinger, geboren 1958 in Frankfurt am Main, lehrte Philosophie an der Universität Mainz. Er gilt weltweit als einer der profiliertesten Philosophen des Geistes und der Kognitionswissenschaft. Er war Präsident der Gesellschaft für Kognitionswissenschaft und der Association for the Scientific Study of Consciousness. 2018 wurde er in die Hochrangige Expertengruppe für Künstliche Intelligenz der Europäischen Kommission berufen. Sein Bestseller Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik (Berlin Verlag 2009/Piper 2014) wurde in neun Sprachen übersetzt. Metzinger ist einer der meistzitierten deutschen Gegenwartsphilosophen. 2021 erhielt er die Pufendorf-Medaille.
Kapitel 1
Entspannung
Oh mein Gott! Die Anspannung, die ich Jeff nenne, war weg! [#2417]
Ein tiefes Gefühl der Entspannung ist eines der Merkmale, die am häufigsten mit der Erfahrung des reinen Gewahrseins einhergehen. Einer unserer Teilnehmer drückte dieses Gefühl bildlich aus: »… als ob ich im Wasser treibe, auf dem Rücken, unter einer hellen Sonne« (#2065); während ein anderer es ganz einfach als »Okayness« (#172) beschrieb.
Vielleicht ist reines Gewahrsein so etwas wie ein zuvor unbemerkter Grundzustand des bewussten Erlebens? Eine innere Oberfläche, auf der wir schon immer »schweben«, auch wenn unsere Aufmerksamkeit meistens von etwas anderem gefesselt ist, wie etwa der hellen Sonne über uns? Vielleicht ermöglicht uns Meditation, uns dieser unsichtbaren inneren Oberfläche bewusst zu werden, um uns dann auf ihr bewegen zu können und dabei zu lernen, wie wir mühelos von einem Moment zum anderen dahingleiten können – wie ein Wasserläufer oder wie ein Gleitschirmflieger, der eine Thermik entdeckt hat, eine dünne Schicht erwärmter Luft, auf der er »reiten« kann?
Nach dem von uns gesammelten phänomenologischen Material zu urteilen, scheint es jedenfalls klar zu sein, dass das nicht-begriffliche Gewahrsein des Gewahrseins selbst etwas ist, in das man sich hinein entspannen kann (gewissermaßen auf die innere Oberfläche), indem man schrittweise loslässt und dabei sanft und allmählich alle verbliebenen Anspannungen in Körper und Geist auflöst. Eine unserer Teilnehmerinnen beschrieb diese Art des Zugangs zum reinen Gewahrsein bildlich als »sich sanft in es hinein ›zurücklehnen‹« (#2619).
Die Phänomenologie von Entspannung und Leichtigkeit ist so ausgeprägt und so weit verbreitet, dass ich an dieser Stelle lediglich sechs einleitende Beispiele anführen möchte:
1647 […] Adjektive, die ich verwenden würde, um den Zustand zu beschreiben: lebendig, leicht, in Frieden, scharf, schön, erhaben, ehrfurchtgebietend, natürlich, mühelos, glückselig (aber eher als Abwesenheit von Schmerz denn als ein euphorisches Gefühl) […]. Je mehr ich meinen körperlichen und geistigen Stress und meine Ängste zur Ruhe bringen kann, desto mehr kann ich von dieser grundlegenden Erfahrungsrealität freilegen. Es fühlte sich nicht wie etwas an, das ich durch harte Arbeit erreichen könnte … sondern eher wie etwas, in das ich mich entspannen oder in das ich ganz leicht hineinsinken könnte.
1870 Ein Gefühl der völligen Leichtigkeit, des Wohlbefindens und der Präsenz mit Wellen von Glückseligkeit, mühelos und fast ohne Gedanken.
2319 Pure Entspannung, Glücksgefühl.
2620 […] Meine Empfindungen werden weich und subtil. Mein Körper wird von dieser Sanftheit durchflutet, entspannt sich, Muskelverspannungen lösen sich … bis ich ihn kaum noch wahrnehme und in einen tiefen Raum der Stille eintrete. […]
3012 […] Es […] stellte sich ein Gefühl der Ruhe ein, mein Körper entspannte sich, der Atem atmete sich von selbst. Ich hatte nur ein schwaches Gefühl von »Ich«, im Vordergrund stand das Erleben von Klarheit, Grenzenlosigkeit, Verbundenheit mit allem. In mir entstanden Gefühle von Frieden, Glück, »Alles ist okay so, wie es ist« […].
3363 Es begann wie ein normales Erlebnis, zunächst mit vielen Ideen, Bildern und »Geräuschen«. Dann eine allmähliche Entspannung. Dann ein beginnendes Loslassen jeglicher Selbstkontrolle. Dann ein eher kurzer Zustand gegen Ende der Sitzung, ein Zustand des Friedens, der Klarheit, der Auflösung des Körperbewusstseins und der Stille des Geistes.
Psychometrie, sensationsloses Staunen und existenzielle Leichtigkeit
Viele Worte, viele Gedanken – je mehr es sind, desto weniger treffen sie zu.
Seng-ts’an (Dritter chinesischer Zen-Patriarch; † 606), Die Meißelschrift vom Vertrauen in den Geist[14]
Lassen Sie uns nun langsam damit beginnen, diese phänomenologischen Eigenberichte aus der Perspektive der empirischen Wissenschaft zu betrachten. Wir hatten 1403 auswertbare Fragebögen; unsere Teilnehmenden waren zwischen 17 und 88 Jahren alt und wiesen damit ein Durchschnittsalter von 52 Jahren auf. Davon waren 48,5 Prozent Männer und 50,0 Prozent Frauen, die übrigen Teilnehmenden machten keine Angabe zu ihrem biologischen Geschlecht. Die Mehrheit der Meditierenden praktizierte regelmäßig (77,3 Prozent), war frei von diagnostizierten psychischen Störungen (92,4 Prozent) und nahm nicht regelmäßig psychoaktive Substanzen ein (84,0 Prozent). Vipassana (43,9 Prozent) und Zen (34,9 Prozent) wurden als die am häufigsten praktizierten Meditationstechniken genannt.
Werfen wir einen Blick auf einige der 92 Fragen, die wir gestellt haben.[15] Die folgende Abbildung zeigt die statistische Verteilung unserer 92 Items auf die Teilnehmer. Man kann sehen, dass die Erlebnisqualitäten von »sich wohlfühlen«, »in Frieden sein«, »im gegenwärtigen Moment sein« und »sich ganz fühlen« noch häufiger mit der Erfahrung reinen Gewahrseins oder der Bewusstheit als solcher assoziiert werden als die »Entspannung« selbst. Es zeigt sich auch, dass die phänomenologischen Qualitäten der Leichtigkeit und Entspannung in ihrer Häufigkeit dicht gefolgt werden von anderen, eher philosophisch geprägten Item-Beschreibungen wie »reines Sein«, »nicht-visuelle Klarheit«, »Einheit« und einer Erfahrung von »tiefer, grenzenloser Stille«.
Wie man sieht, wurden die höchsten Werte für die Items im Zusammenhang mit Wohlbefinden und Entspannung vergeben; die insgesamt niedrigsten Werte betrafen das Vorhandensein von Schmerzen während der Erfahrung und das Auftreten von reinem Bewusstsein im Traumzustand. Wir haben das Material interpretiert, indem wir es in 12 Faktoren unterteilt haben, das heißt in Untergruppen oder Cluster von statistisch stark miteinander verbundenen Fragebogenelementen. Diese Faktoren werden im nächsten Kapitel erläutert.
Im zweitstärksten dieser Cluster, Faktor 2 (den wir später als »Frieden, Glückseligkeit und Stille« bezeichnet haben), waren die drei wichtigsten Komponenten Gefühle der Entspannung, des Friedens und der Leichtigkeit. Jeder dieser Cluster bildet eine Gruppe aus ähnlichen Merkmalen. Faktor 2 enthielt jedoch auch viele Items, bei denen unsere Teilnehmenden die Erfahrung des reinen Gewahrseins als »den natürlichen Zustand« bezeichnet (siehe Kapitel 12 für eine Auswahl von Berichten) und als eine Erfahrung des »reinen Seins« beschrieben hatten (siehe Kapitel 26). Diese Gruppe kann zudem durch eine Qualität von Sanftheit und Glückseligkeit charakterisiert werden, bei der auffällt, dass sie emotionslos ist (siehe unten und Kapitel 16), während sie gleichzeitig oft die ursprüngliche Arbeitshypothese bestätigte, wonach dies »der einfachste Zustand bewusster Erfahrung« sei, den wir kennen (Kapitel 16). Dies scheint darauf hinzudeuten, dass die reine Erfahrung der Bewusstheit selbst in einem bestimmten Sinne tatsächlich der menschliche Normal- oder Grundzustand sein könnte. Auch dazu mehr im nächsten Kapitel.
Die Erfahrung von Entspannung und Leichtigkeit ist vielleicht die bekannteste Wirkung der Meditationspraxis im Allgemeinen und wurde auch in den Antworten auf unsere Umfrage häufig genannt. Für unsere Befragten beinhaltet dieser Effekt auch oft eine einfache Erfahrung von tiefer, grenzenloser Stille und der »Existenz als solcher«, die als natürlich und sanft beschrieben wird. Darüber hinaus zeigen die beiden Items, die sich auf das phänomenale Erleben von »Frieden« und »Ganzheit« beziehen, eine Abwesenheit von inneren Konflikten und deuten auf ein erhöhtes Erleben von geistiger Integration hin, in Verbindung mit Entspannung. Dies ist in allen Zuständen zu erwarten, in denen a) der ständige Wettbewerb unterschiedlicher mentaler Prozesse um den Fokus der Aufmerksamkeit nachgelassen hat (zum Beispiel, weil keine spontanen Gedanken mehr auftauchen, die nichts mit der momentanen Aufgabe oder dem aktuellen Handlungsziel zu tun haben) und b) die »Kontraktion« des Bewusstseins in eine Ich-Perspektive abgeschwächt wurde (Kapitel 8). Interessanterweise haben neuere Forschungen über das scheinbar ziellose...
Erscheint lt. Verlag | 2.11.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Geschichte der Philosophie |
Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie | |
Schlagworte | Achtsamkeit • Angewandte Ethik • Bewusstheit • Bewusstsein • Bewusstseinserweiterung • Bewusstseinsethik • Bewusstseinsforschung • Bewusstseinskultur • Buddhismus • Damasio • Drogen • Fridays For Future • Geist • KI • Kognitionswissenschaft • LSD • Meditation • Meditationstechniken • Mystik • Neuroethik • Neurowissenschaft • New Age • Philosophie • Psychodelika • reines bewusstsein • Religion • Resilienz • Spiritualität • Transzendenz |
ISBN-10 | 3-8270-8072-X / 382708072X |
ISBN-13 | 978-3-8270-8072-1 / 9783827080721 |
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